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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz, Metaphysik; Vergleiche und Kontrast 1; Aristoteles: enoEsis noEseOs - Plato; Thomas (Gottesbeweis, fünf Wege); Schleiermacher


Kurzinhalt: ... die fünf Wege, auf denen Thomas die Existenz Gottes beweist, sind ebensoviele Einzelfälle der allgemeinen Behauptung, daß das proportionierte Universum unvollständig intelligibel ist und daß vollständige Intelligibilität verlangt wird.

Textausschnitt: 11. Vergleiche und Kontraste

760a Es wurde bewiesen, daß unsere Metaphysik des proportionierten Seins einen universalen Gesichtspunkt liefert, und jetzt, da die Metaphysik transformiert wurde, so daß sie auch das transzendente Sein einschließt, müssen wir fragen, ob der Universalgesichtspunkt beibehalten wird. (Fs)

760b Erstens, unsere Auffassung von Gott als dem unbeschränkten Verstehensakt deckt sich mit Aristoteles' Auffassung des unbewegten Bewegers als noEsis noEseOs, wenn noEsis dieselbe Bedeutung hat wie noein in der berühmten Aussage in De Anima, daß nämlich die Formen vom Verstand in den Bildern erfaßt werden. Und diese Interpretation hat auch nichts Phantastisches in sich. Wie Aristoteles' Metaphysik von Materie und Form einer Psychologie von Sinnlichkeit und Einsicht entspricht, so sind Aristoteles' getrennte Formen nicht platonische Ideen ohne Intelligenz, sondern Identitäten der Intelligibilität im Akt mit Intelligenz im Akt. (Fs) (notabene)

760c Zweitens, die Reihe der Attribute, die wir im unbeschränkten Verstehensakt aufgefunden haben, offenbart die Identität unserer Auffassung mit Thomas' Auffassung von Gott als ipsum intelligere, ipsum esse, summum bonum, das Urbild, die Wirkursache, der erste Urheber und der letzte Zweck von allem, was sonst ist oder sein könnte. Unter Thomisten besteht allerdings ein Streit darüber, ob das ipsum intelligere oder das ipsum esse subsistens unter den Attributen logisch an erster Stelle stehe. Wie wir im Abschnitt über die Notion Gottes gesehen haben, folgen alle anderen göttlichen Attribute aus der Notion eines uneingeschränkten Verstehensaktes. Weil wir außerdem das Sein durch seine Relation zur Intelligenz definieren, ist unser schlechthin Letztes notwendigerweise nicht das Sein, sondern die Intelligenz. (Fs; tblVrw: Relationen) (notabene)

760d Drittens, wie Thomas, so haben auch wir das ontologische Argument abgelehnt und jede andere Behauptung einer unmittelbaren Erkenntnis Gottes. Wie wir aber mittelbar von der Realität der Geschöpfe auf die Realität Gottes argumentiert haben, so haben wir die Implikation dieser Vorgehensweise explizit gemacht, indem wir zwei Ebenen in der Metaphysik unterschieden. Denn wenn die Geschöpfe von uns erkannt werden, ehe Gott erkannt ist, so gibt es in unserer Erkenntnis eine Metaphysik des proportionierten Seins, die tatsächlich wahr ist und die tatsächlich die ontologische Struktur des proportionierten Seins offenbart. Reine Tatsachen (678) können aber für die Intelligenz nicht das Letzte sein, und deshalb werden wir von der proportionierten Metaphysik her, nämlich von der Kontingenz durch Kausalität zum Sein geführt, das zugleich transzendente Idee und transzendente Realität ist. (Fs) (notabene)

761a Viertens, die fünf Wege, auf denen Thomas die Existenz Gottes beweist, sind ebensoviele Einzelfälle der allgemeinen Behauptung, daß das proportionierte Universum unvollständig intelligibel ist und daß vollständige Intelligibilität verlangt wird. Es gibt dann also ein Argument aus der Bewegung, weil der Übergang von der Potenz zum Akt bedingt ist und ein uneingeschränktes Aggregat bedingter Übergänge nicht zur vollständigen Intelligibilität beiträgt. Es gibt ein Argument aus der Wirkursächlichkeit; denn die intelligible Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache wird nur dann vollständig intelligibel, wenn es eine Ursache gibt, die intelligibel ist ohne abhängig zu sein. Es gibt ein Argument aus der Kontingenz; denn die Kontingenz ist eine Tatsache, und die Tatsache ist nicht vollständig intelligibel. Es gibt ein Argument aus den verschiedenen Seinsebenen; denn die Vielen können nur dann vollständig intelligibel sein, wenn sie auf das Eine und Einzige bezogen werden. Es gibt ein Argument aus der Ordnung des Universums, weil die Intelligibilität der Ordnung in ihrer Intelligibilität durch ihre Relationen zu einer Intelligenz bedingt ist. (Fs) (notabene)

761b Fünftens, außer den fünf Wegen von Thomas gibt es soviele andere Beweise für die Existenz Gottes, wie es Aspekte der unvollständigen Intelligibilität im Universum des proportionierten Seins gibt. Insbesondere muß die Aufmerksamkeit auf das epistemologische Problem gerichtet werden. Denn so wie nichts im proportionierten Universum eine vollständige Intelligibilität ist, ist es auch unser Erkennen nicht. Umgekehrt, wenn wir irgendeine Realität nicht erkennen, gibt es keine Möglichkeit, die Existenz Gottes abzuleiten. Es folgt, daß wir zuerst erweisen müssen, daß wir tatsächlich erkennen und daß es tatsächlich eine Wirklichkeit gibt, die unserem Erkennen proportioniert ist. Denn erst wenn die Tatsachen bekannt sind, können wir hoffen, eine Erklärung der Möglichkeit einer Übereinstimmung zwischen unserem Untersuchen und Verstehen, unserem Reflektieren und Urteilen, und andererseits dem Wirklichen wie es wirklich ist, zu erreichen. (Fs)

761c Infolgedessen sind wir gezwungen, dem nicht zuzustimmen, was anscheinend das Verfahren Schleiermachers war. Er hielt korrekterweise dafür, daß unser Erkennen nur möglich ist, wenn es eine letzte Identität von Denken und Sein gibt. Es folgt daraus aber nicht, daß eine derartige Identität in unserem Erkennen genetisch an erster Stelle kommen muß. Und so folgt nicht, daß das Ganze unseres Erkennens auf einem durch ein religiöses Gefühl hervorgerufenen Glauben an diese letzte Identität beruht. Wie wir gesehen haben, definiert unser eigenes unbeschränktes (679) Erkenntnisstreben für uns, was wir verstehen müssen, wenn wir vom Sein sprechen. Im Lichte dieser Notion können wir durch intelligentes Erfassen und vernünftiges Bejahen ermitteln, was in der Tat ist und was in der Tat nicht ist; und während dieses Verfahren nicht erklärt, warum jede mögliche und aktuelle Realität intelligibel sein muß, legt es doch fest, was in der Tat schon als wahr erkannt worden ist und wirft zugleich die weitere Frage auf, die nach vollständiger Erklärung und vollständiger Intelligibilität fragt. (Fs)

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