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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Schule, Krise; Irrweg: Erfahrung = Erkenntnis; Übel

Kurzinhalt: Die eine Kenntnis des Übels besteht darin, daß es geistig wahrgenommen wird, die andere, daß es der Erfahrung anhaftet. Doch dieses zweite Wissen um das Übel, indem man es im Leben praktiziert, ist kein Wissenszustand, sondern ..

Textausschnitt: 129. Die Erkenntnis des Übels nach katholischer Lehre

304b Die moralische Auswirkung der pädagogischen Fehlorientierung ist bedenklich. Wenn Erkenntnis gleich Erfahrung - d.h. Gelebtes ist, dann wird die Erkenntnis des Guten Erfahrung mit dem Guten und Erkenntnis des Übels Erfahrung mit dem Übel, d.h. der Sünde. Das gesamte System der christlichen Aszetik und Ethik bricht zusammen. Es entfällt die Unterscheidung zwischen dem realen Ordnungsbezug des Gelebten und dem ideellen des Intellekts. Der hl. Augustinus lehrt: »Es gibt zweierlei Kenntnis von den Übeln: Zum einen bleiben sie den Geistesgaben nicht verborgen, zum andern sind sie durch Erfahrung im Sinnen und Trachten verankert. Es ist fürwahr ein Unterschied, all die Laster mit dem Wissen des Weisen zu kennen oder aufgrund des schädlichen Lebens, das der Tor führt«1. Die eine Kenntnis des Übels besteht darin, daß es geistig wahrgenommen wird, die andere, daß es der Erfahrung anhaftet. Doch dieses zweite Wissen um das Übel, indem man es im Leben praktiziert, ist kein Wissenszustand, sondern geht bereits darüber hinaus und erfaßt das moralische Verhalten. Immerhin handelt es sich ja um einen Akt, mit dem der Geist sich für das Erkannte entscheidet und so den ideellen Ordnungsbezug mit dem realen des Gelebten verbindet. Etwas ausprobieren sollte nicht mit kennenlernen verknüpft, geschweige denn zur einzigen Erkenntnisquelle gemacht werden. Die gesamte katholische Aszetik und Pädagogik beruhen auf dieser Grundlage und können von ihr nicht abrücken, ohne das Lehrgebäude zu ruinieren. Falsch ist die mittlerweile selbst auf katholischer Seite um sich greifende Lehre, man müsse das Übel kennenlernen, um es zu bekämpfen, oder zumindest die Ansicht, man müsse es durch Ausprobieren kennenlernen, also mehr noch als die Erkenntnis und der Wille zum Guten damit bekannt machen. Den Wert der Keuschheit zum Beispiel kennt man um so mehr, je weniger man ihr Gegenteil versuchsweise kennt. Tiefschürfend der Gedanke des gottergebenen Kanonikers Francesco Chiesa: »Sagt nicht, 'man müßte mittendrin stehen'. Gewisse Dinge sind besser erkennbar, wenn man eben nicht mittendrin steht«2. Die Pädagogik der Neuerer ist darauf aus, Lernen mit Ausprobieren gleichzusetzen. Dies geschieht allerdings nicht ausdrücklich, weil sie ja nicht offen eine Pädagogik der Sünde sein kann, sondern der Tendenz nach. Und diese geht dahin, dem Erfahren jede Grenze zu nehmen und den Schüler vom Lehrer zu entbinden, den Unter- vom Übergeordneten, die Ethik vom Gesetz (das man nicht ausprobiert, sondern befolgt oder übertritt), die Tugend von der Vernunft. Jenes »es kann nie genug sein«, wie die katholische Philosophie das intelligere, die geistige Erkenntnis, kennzeichnet, gilt nach der modernen Pädagogik für das vivere3. Von daher rührt die Freiheit, sich um des Kennenlernens willen auf jedwede Erfahrung einzulassen, - eine Freiheit, die die Neuerer auch fordern in bezug auf den kirchlichen Zölibat, die voreheliche Enthaltsamkeit, die Unauflöslichkeit der Ehe, das Einhalten jeglicher Verpflichtung im Leben. Es heißt nämlich, die Verpflichtung, die der Wille eingehe, ohne das damit Verbundene versuchsweise kennenzulernen, sei ungerecht. (Fs)

306a Die Krise der katholischen Schule besteht im Grunde darin, daß die Rationalität zugunsten der Erfahrung geschmälert wird und sich jener Vitalismus4 zeigt, der der heutigen Welt eigen ist. Sie weiß nicht zu schätzen, was wahr ist und dem Leben widersprechen kann, wohl aber, was lebensbezogen ist und ihr als Richtmaß für die Wahrheit dient: vivo, ergo sum (ich lebe, also bin ich). (Fs)

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