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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz; Notion von Gott 1 (18 Bestimmungen);

Kurzinhalt: Erstens, wenn es einen uneingeschränkten Verstehensakt gibt, gibt es ein Primärintelligibles, das mit ihm identisch ist. Denn der uneingeschränkte Akt versteht sich selbst.

Textausschnitt: 9. Die Notion von Gott

739c Wenn Gott ein Seiendes ist, muß er durch ein intelligentes Erfassen und ein vernünftiges Bejahen erkannt werden. Es stellen sich dementsprechend zwei Fragen: Was Gott ist und ob Gott ist. Indem wir aber fragten, was das Sein ist, wurden wir schon zur Konklusion geführt, daß die Idee des Seins der Inhalt eines uneingeschränkten Verstehensaktes sein würde, der sich primär selbst versteht und infolgedessen jede andere Intelligibilität erfaßt. Wie sich nun zeigen wird, hat unser Begriff eines uneingeschränkten Verstehensaktes mehrere Implikationen, und wenn diese einmal ausgearbeitet sind, wird es offenkundig, daß es dasselbe ist, zu (658) verstehen, was das Sein ist, und zu verstehen, was Gott ist. Der vorliegende Abschnitt beschäftigt sich demnach ausschließlich mit der Formulierung der Notion Gottes; ob diese Notion sich auf eine existierende Realität bezieht, ist eine weitere Frage, die im folgenden Abschnitt über die Bejahung Gottes betrachtet werden soll. (Fs) (notabene)

740a Erstens, wenn es einen uneingeschränkten Verstehensakt gibt, gibt es ein Primärintelligibles, das mit ihm identisch ist. Denn der uneingeschränkte Akt versteht sich selbst. (Fs)

740b Zweitens, weil der Akt uneingeschränkt ist, gäbe es keine Möglichkeit der Korrektur, der Revision, oder der Verbesserung, und damit wäre der uneingeschränkte Akt als Verstehen unanfechtbar. Weil er sich selbst erkennen würde, würde er zudem erkennen, daß er uneingeschränkt und damit unanfechtbar ist. Demnach wäre er mit einem reflektierenden Verstehensakt identisch, der sich selbst als unbedingt und deshalb als korrekt und wahr erfaßt; und damit wäre das Primä-rintelligible auch mit der Primärwahrheit identisch. (Fs)

740c Drittens, das, was durch korrektes und wahres Verstehen erkannt wird, ist das Sein; das Primärintelligible wäre also auch das Primärseiende; und das Primärseiende wäre geistig im vollen Sinne der Identität des Intelligenten und Intelligiblen. (Fs)

740d Viertens, das Primärseiende würde weder Defekt noch Mangel noch Unvollkommenheit aufweisen. Denn gäbe es Defekt, Mangel oder Unvollkommenheit, würde das uneingeschränkte Verstehen zumindest erfassen, was fehlt. Die Konsequenz ist aber unmöglich, und so muß das Antezedens falsch sein. Das Primärseiende ist ja identisch mit dem uneingeschränkten Akt, und ein Erfassen des Fehlenden im Primärseienden wäre somit das Erfassen einer Beschränkung im unbeschränkten Akt. (Fs)

740e Fünftens, das Gute ist mit dem intelligiblen Sein identisch, und so ist das Primärintelligible und vollständig vollkommene Primärseiende auch das Primärgute. (Fs)

740f Sechstens, wie die Vollkommenheit des Geistigen verlangt, daß das Intelligible auch intelligent sein soll, so verlangt sie auch, daß die bejahbare Wahrheit bejaht und das liebenswürdige Gute geliebt werde. Das Primärintelligible ist nun aber auch die Primärwahrheit und das Primärgute; und damit ist in einem vollständig vollkommenen geistigen Seienden das Primärintelligible nicht nur mit einem uneingeschränkten Verstehensakt identisch, sondern auch mit einem vollständig vollkommenen Akt der Bejahung der Primärwahrheit und einem vollständig vollkommenen Akt des Liebens des Primärguten. Außerdem ist der Akt der Bejahung nicht ein zweiter Akt, der vom unbeschränkten Verstehensakt verschieden ist, und der Akt der Liebe auch nicht ein dritter Akt, der vom Verstehen und dem Bejahen ver-659 schieden ist. Denn wären sie dies, wäre das Primärseiende unvollständig und unvollkommen und bedürfte der weiteren Akte des Bejahens und Liebens, um vervollkommnet und vervollständigt zu werden. Daher ist eine und dieselbe Realität zugleich uneingeschränktes Verstehen und das Primärintelligible, reflektierendes Verstehen und das Unbedingte, vollkommenes Bejahen und die Primärwahrheit, vollkommenes Lieben und das Primärgute. (Fs)

741a Siebtens, das Primärintelligible ist selbst-erklärend. Denn wäre es dies nicht, wäre es in seiner Intelligibilität unvollständig; und wir haben schon gezeigt, daß jeder Defekt oder Mangel und jede Unvollkommenheit inkompatibel mit dem uneingeschränkten Verstehen ist. (Fs)

741b Achtens, das Primärseiende ist unbedingt. Das Primärseiende ist ja identisch mit dem Primärintelligiblen; und das Primärintelligible muß unbedingt sein; denn hinge es von irgendetwas sonst ab, wäre es nicht selbst-erklärend. Schließlich ist es unmöglich, daß das Primärintelligible vollkommen unabhängig ist und daß das Primärseiende, das mit ihm identisch ist, von sonst etwas abhängig ist. (Fs)

741c Neuntens, das Primärseiende ist entweder notwendig oder unmöglich. Es kann nämlich nicht kontingent sein, weil das Kontingente nicht selbst-erklärend ist. Wenn es also existiert, existiert es aus Notwendigkeit und ohne Bedingungen; und wenn es nicht existiert, ist es unmöglich; denn dann gibt es keine Bedingung, aus der es resultieren könnte. Ob es aber existiert oder nicht, ist eine Frage, die die Idee des Seins oder die Notion Gottes nicht betrifft. (Fs)

741d Zehntens, es gibt nur ein Primärseiendes. Denn entia non sunt multiplicanda praeter neccessitatem, und es gibt keine Notwendigkeit für mehr als eines. Ferner, wenn es mehr als ein Primärseiendes gäbe, dann wäre jedes identisch oder nicht identisch mit dem uneingeschränkten Verstehensakt. Wenn sie es nicht sind, so wären die mit beschränkten Verstehensakten identischen Intelligiblen keine Primärseiende. Wenn sie es sind, so gäbe es verschiedene in allen Hinsichten gleiche Primärseiende; denn unbeschränkte Akte können nicht verschiedene Objekte erfassen, ohne daß einer oder mehrere nicht erfassen, was ein anderer erfaßt und damit aufhören, ein unbeschränkter Akt zu sein. Es kann aber nicht mehrere in allen Hinsichten gleiche Primärseiende geben; denn dann wären sie bloß empirisch verschieden; und das bloß Empirische ist nicht selbst-erklärend. Demnach kann es nur ein Primärseiendes geben. (Fs)

741e Elftens, das Primärseiende ist einfach. Denn das Primärseiende ist ein einziger Akt, der zugleich unbeschränktes Verstehen, vollkommenes Bejahen und vollkommenes Lieben ist; und es ist identisch mit dem Primärintelligiblen und der Primärwahrheit und dem Primärguten. (Fs)

741f Es läßt die Zusammensetzung von zentralen und konjugaten Formen nicht zu. Denn es gibt keine weiteren Seiende derselben Ordnung, mit denen es (660) konjugat sein könnte; und weil es nur ein Einzelakt ist, bedarf es keiner vereinheitlichenden zentralen Form. (Fs)

742a Es läßt auch die Zusammensetzung von Potenz und Form nicht zu. Denn es ist ein geistiges Seiendes jenseits aller Entwicklung, und die Potenz ist identifiziert worden mit entweder einer Fähigkeit zur Entwicklung oder mit dem empirischen Residuum und der Materialität. (Fs)

742b Es läßt auch nicht die Zusammensetzung von Form und Akt als voneinander verschieden zu. Denn wenn es existiert, existiert es notwendig. Ferner, wenn das Primärintelligible und Primärseiende und Primärgute Form oder Essenz genannt werden, und der unbeschränkte Verstehens-, Bejahens-, Liebensakt Akt oder Existenz oder Vorkommen genannt werden, sind sie doch nicht voneinander unterschieden, sondern identisch. (Fs)

742c Zwölftens, das Primärseiende ist zeitlos. Es ist ohne stetige Zeit, weil es geistig ist, während die stetige Zeit das empirische Residuum und die Materialität voraussetzt. Und es ist ohne Ordnungszeit, weil es sich nicht entwickelt. (Fs)

742d Dreizehntens, wenn das Primärseiende existiert, ist es ewig. Denn es ist zeitlos, und die Ewigkeit ist zeitlose Existenz. (Fs)

Neben dem Primärintelligiblen müssen allerdings die Sekundärintelligiblen in Betracht gezogen werden; denn der uneingeschränkte Verstehensakt erfaßt auch alles über alles andere, insofern er sich selbst versteht. (Fs)

742e Vierzehntens, die Sekundärintelligiblen sind bedingt. Sie sind ja das, was zu verstehen ist, wenn das Primärintelligible verstanden wird. (Fs)

Es folgt, daß sie vom Primärintelligiblen verschieden sind; denn sie sind bedingt, und dieses ist unbedingt. (Fs)

742f Wenn auch die Sekundärintelligiblen vom Primären verschieden sind, brauchen sie doch nicht verschiedene Realitäten zu sein. Denn Erkennen besteht nicht im Anschauen von etwas anderem, und wenn die Sekundärintelligiblen auch erkannt werden, brauchen sie doch deshalb nicht etwas anderes zu sein, das angeschaut werden kann. Außerdem ist das Primärseiende ohne Mangel, Defekt oder Unvollkommenheit; es wäre aber unvollkommen, wenn der unbeschränkte Verstehensakt weiterer Realitäten bedürfte, um unbeschränkt zu sein. (Fs)

742g Schließlich, die Sekunduarintelligiblen können reine Gedankenobjekte sein. Denn sie werden als verschieden vom Primärintelligiblen erfaßt, doch brauchen sie nicht verschiedene Realitäten zu sein. So wird die Unendlichkeit der positiven ganzen Zahlen von uns in der Einsicht erfaßt, die das generative Prinzip der Relationen und der Termini der Reihe ist. (Fs)

742h Fünfzehntens, (661) das Primärseiende ist die allmächtige Wirkursache. Das Primärseiende wäre ja unvollkommen, wenn es alle möglichen Universen als Gedankenobjekte aber nicht als Realitäten begründen könnte. Ähnlich wäre das Primärgute unvollkommen, wenn es zwar in sich selbst gut, aber nicht die Quelle anderer Fälle des Guten wäre. Das Primärseiende und Primärgute ist aber ohne Unvollkommenkeit; und so kann es jedes mögliche Universum begründen und jeden anderen Fall des Guten hervorbringen. (Fs)

743a Sechzehntens, das Primärseiende ist die allwissende Exemplarursache. Denn es ist die Idee des Seins und erfaßt in sich selbst die intelligible Ordnung jedes möglichen Universums von Seienden in allen Komponenten, Aspekten und Details. (Fs)

743b Siebzehntens, das Primärseiende ist frei. Denn die Sekundärintelligiblen sind kontingent: Sie brauchen nicht eigenständige Realitäten zu sein; sie können reine Gedankenobjekte sein; sie sind nicht unbedingt, weder in ihrer Intelligibilität noch in ihrer Gutheit, und damit sind sie nicht unbedingt im Sein, wobei das Sein nicht außerhalb der Intelligibilität und der Gutheit steht. Das kontingente Sein kann aber als kontingentes nicht notwendig und als Sein nicht willkürlich sein; es folgt, daß kontingente Seiende, wenn es sie gibt, kraft der Freiheit des unbeschränkten Ver-stehens und vollkommenen Bejahens und vollkommenen Liebens existieren. (Fs)

743c Achzehntens, weil der Mensch sich entwickelt, ist jedes zusätzliche Element des Verstehens und Bejahens und Wollens ein weiterer Akt und eine weitere Realität in ihm. Das vollkommene Primärseiende hingegen entwickelt sich nicht; denn es ist ohne Defekt oder Mangel oder Unvollkommenheit; und so versteht und bejaht und will der unbeschränkte Art, daß kontingente Seiende existieren, ohne irgendeinen Zuwachs oder eine Veränderung in seiner eigenen Realität. (Fs)

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