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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz; Idee des Seins, sekundäre Komponente des Seinsidee; Notion des Nicht-systematischen;

Kurzinhalt: Es scheint zu folgen, daß die nicht-systematische Komponente im tatsächlichen Universum und in anderen möglichen und noch wahrscheinlicheren Universen die Möglichkeit eines unbeschränkten Aktes, der alles von allem versteht, ausschließt.

Textausschnitt: 7. Die Sekundärkomponente in der Idee des Seins (649)

730b Weil er sich selbst versteht, versteht der uneingeschränkte Verstehensakt konsequenterweise alles über alles andere. Ist diese Konsequenz aber möglich? Schließlich haben wir ja entdeckt, daß das existierende Universum des Seins eine nichtsystematische Komponente einbegreift. Zudem gibt es zu jedem Zeitpunkt in der Entfaltung dieses Universums eine Anzahl wahrscheinlicher Alternativen und eine noch viel größere Anzahl möglicher Alternativen. Es gibt dann also ein enormes Aggregat ähnlicher möglicher Universen, und in jedem von ihnen gäbe es eine ähnliche nicht-systematische Komponente. Das Nicht-systematische ist nun der Mangel einer intelligiblen Regel oder eines intelligiblen Gesetzes; die Elemente sind bestimmt; die Relationen zwischen den Elementen sind bestimmt; aber es gibt keine Möglichkeit einer einzigen Formel, der durch die Reihenfolge der bestimmten Relationen Genüge geleistet wird. Es scheint zu folgen, daß die nicht-systematische Komponente im tatsächlichen Universum und in anderen möglichen und noch wahrscheinlicheren Universen die Möglichkeit eines unbeschränkten Aktes, der alles von allem versteht, ausschließt. (Fs)
730c Dies ist das Problem der Sekundärintelligiblen in der Idee des Seins, und unsere Lösung wird darin bestehen, daß das Nicht-systematische vom Gesichtspunkt des unbeschränkten Verstehens verschwindet. Zuerst aber soll in Erinnerung gerufen werden, wie die Notion des Nicht-systematischen entsteht; denn sonst können ihre exakten Implikationen nicht bestimmt werden. (Fs)

730d Unsere Analyse gestand die Möglichkeit einer vollständigen Erkenntnis aller Systeme von Gesetzen zu, hielt aber dafür, daß diese Systeme abstrakt sind und deshalb weiterer Bestimmungen bedürfen, wenn sie auf das Konkrete angewendet werden sollten. Sie folgerte, daß derartige weitere Bestimmungen nicht systematisch miteinander verbunden sein könnten, weil eine vollständige Erkenntnis aller Gesetze eine vollständige Erkenntnis aller systematischen Relationen einschließen würde. Sie bestritt aber nicht, daß die weiteren Bestimmungen intelligibel aufeinander bezogen sind. Sie anerkannte im Gegenteil die Existenz rekursiver Schemata, in welchen eine glückliche Kombination abstrakter Gesetze und konkreter Umstände typische weitere Bestimmungen wiederkehrend macht und sie so unter die Herrschaft der Intelligenz bringt. Ferner, sie anerkannte, daß konkrete Schemata divergierender Reihen von Bedingungen intelligibel sind. Wenn sowohl die benötigte Information als auch die Meisterung der systematischen Gesetze gegeben sind, ist es prinzipiell möglich, sich von einem gegebenen Ereignis Z durch so viele vorhergehende Stadien seiner divergierenden und verstreuten Bedingungen zurückzuarbeiten, wie man will; und es ist diese Intelligibilität konkreter Schemata, welche die Überzeugung der Deterministen wie etwa A. Einstein begründet, daß die (650) statistischen Gesetze dem, was es zu erkennen gibt, nicht gerecht werden. (Fs)

731a Indes stimmen wir mit den Indeterministen soweit überein, als sie die Möglichkeit von Deduktion und Voraussagen als allgemeinen Fall bestreiten. Denn wenn auch jedes konkrete Muster divergierender Bedingungen intelligibel ist, liegt seine Intelligibilität doch nicht auf der Ebene des abstrakten Verstehens, welches Systeme von Gesetzen erfaßt, sondern auf der Ebene des konkreten Verstehens, das sich mit einzelnen Situationen befaßt. Außerdem bilden solche konkrete Muster eine enorme Menge, die durch die abstrakte systematisierende Intelligenz aus dem triftigen Grund nicht behandelt werden kann, daß ihre Intelligibilität in jedem Einzelfall konkret ist. Es ergibt sich der spezifische Typ von Unmöglichkeit, die aus einem gegenseitigen Sich-Bedingen hervorgeht. Wenn man eine vollständige Information über eine Totalität von Ereignissen einräumen würde, könnte man von der Erkenntnis aller Gesetze her das konkrete Muster herausarbeiten, in welchem die Gesetze die Ereignisse in der Totalität in Beziehung setzten. Ferner, wenn man die Erkenntnis des konkreten Musters einräumen würde, könnte man sie als Leitfaden benutzen, um eine Information über eine Totalität relevanter Ereignisse zu erhalten. Nun aber ist die Bedingung der ersten Aussage die Konklusion der zweiten; die Bedingung der zweiten Aussage ist die Konklusion der ersten; und so bleiben beide Konklusionen lediglich theoretische Möglichkeiten. Denn die konkreten Muster bilden ein nicht-systematisches Aggregat, und so lassen sich die korrekten Muster nur durch Bezugnahme auf die Totalität der relevanten Ereignisse auswählen; andererseits ist die relevante Totalität der Ereignisse zerstreut, und sie können deshalb nur ausgewählt werden, um betrachtet und gemessen zu werden, wenn das relevante Muster schon bekannt ist. (Fs)

732a Wenn es aber einen unbeschränkten Verstehensakt gibt, dann wird er alles über alles verstehen ohne weitere Fragen, die noch zu stellen sind. Die konkreten Muster divergierender Reihen zerstreuter Bedingungen sind nun aber alle intelligibel, und so wird ein unbeschränkter Akt jedes von ihnen verstehen. Ferner, das Verstehen jedes einzelnen konkreten Musters bringt die Erkenntnis der Totalität der für jedes Muster relevanten Ereignisse mit sich; denn das konkrete Muster schließt alle Bestimmungen und Umstände jedes einzelnen Ereignisses ein. Und diese Konklusion widerspricht auch nicht unserer früheren Konklusion. Denn der unbeschränkte Verstehensakt geht nicht aus einem Erfassen abstrakter Systeme von Gesetzen hervor, sondern aus einem Erfassen seiner selbst; er macht sich nicht an die unmögliche Aufgabe, durch ein abstraktes System die konkreten Muster in Beziehung zu setzen, sondern erfaßt sie alle in einer einzigen Sicht, insofern er sich selbst versteht. Er bietet nicht an, Ereignisse abzuleiten oder vorauszusagen; denn er braucht keine Deduktion oder Voraussage und er kann mit ihnen auch nichts anfangen, weil er in einer einzigen Sicht die Totalität konkreter Muster erfaßt, und in jedem Muster die Totalität seiner relevanten Ereignisse. (Fs)

732b Um das Argument zusammenzufassen, sind Deduktion und Voraussage im allgemeinen Falle unmöglich. Sie sind unmöglich für das beschränkte Verstehen des Menschen, weil das beschränkte Verstehen die Menge der konkreten Muster divergierender Reihen zerstreuter Bedingungen nur dann meistern könnte, wenn diese Menge systematisiert werden könnte; und sie kann nicht systematisiert werden. Andererseits sind Deduktion und Voraussage, allerdings aus einem anderen Grunde, auch unmöglich für den unbeschränkten Verstehensakt; denn dieser könnte nur deduzieren, wenn er im Erkennen Fortschritte machen würde, entweder indem er eine abstrakte Prämisse in eine andere transformierte, oder indem er abstrakte Prämissen mit konkreter Information kombinierte. Das unbeschränkte Verstehen macht aber keine Fortschritte im Erkennen, weil es schon alles weiß. Ferner, das unbeschränkte Verstehen könnte nur dann Voraussagen machen, wenn einige Ereignisse relativ zu ihm gegenwärtig und andere Ereignisse relativ zu ihm zukünftig wären. Das unbeschränkte Verstehen aber ist nicht-zeitlich; es ist sozusagen außerhalb der Totalität der zeitlichen Reihenfolgen; denn diese Totalität ist ein Teil des "alles über alles andere", welches es erfaßt, wenn es sich selbst versteht; und wie es alles über alles andere in einer einzigen Sicht erfaßt, so erfaßt es die Totalität der zeitlichen Reihenfolgen in einer einzigen Sicht. (Fs)

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