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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz; Idee des Seins, primäre Komponente des Seinsidee: der Akt der sich selbst versteht; intelligigel (2 Weisen); Beispiel: Reihe positiver Zahlen; Notion des Geistigen

Kurzinhalt: Es wird folgen, daß, wie die Primärkomponente im uneingeschränkten Akt besteht, der sich selbst versteht, so die Sekundärkomponente im uneingeschränkten Akt besteht, der alles andere versteht, weil er sich selbst versteht.

Textausschnitt: 6. Die primäre Komponente in der Seinsidee

727c Die Idee des Seins ist definiert worden als der Inhalt eines uneingeschränkten Verstehensaktes; und in diesem Inhalt ist eine Unterscheidung zwischen einer primären und einer sekundären Komponente erwiesen worden. Natürlich wird man fragen, was denn die Primärkomponente sei, und die Antwort wird sein, daß sie mit dem uneingeschränkten Akt identisch ist. Es wird folgen, daß, wie die Primärkomponente im uneingeschränkten Akt besteht, der sich selbst versteht, so die Sekundärkomponente im uneingeschränkten Akt besteht, der alles andere versteht, weil er sich selbst versteht. (Fs) (notabene)

728a Einige Klärungen müssen jedoch vorausgeschickt werden. Die Gegenposition vertritt eine schlechthin letzte Dualität zwischen Erkennendem und Erkanntem; denn die Objektivität wird in Analogie zur Extraversion aufgefaßt; und damit ist das Erkennen wesentlich ein Anschauen, Erblicken, Intuieren, Ansehen, während das Erkannte etwas anderes sein muß, das angeschaut, erblickt, intuiert, angesehen wird. Die Position lehnt eine solche Dualität ab; Erkennen ist das Sein erkennen; in jedem gegebenen Fall können das erkennende und das erkannte Seiende dasselbe oder verschieden sein; und ob sie dasselbe oder verschieden sind, muß durch die korrekten Urteile bestimmt werden. (Fs) (notabene)

728b Ferner, das Adjektiv intelligibel kann auf zwei ganz verschiedene Weisen (647a) verwendet werden. Normalerweise bezeichnet es das, was verstanden wird oder verstanden werden kann, und in diesem Sinne ist der Inhalt jedes Begriffes intelligibel. Tiefer noch bezeichnet es die Primärkomponente in einer Idee; es ist das, was erfaßt wird, insofern man versteht; es ist der intelligible Grund oder die Wurzel oder der Schlüssel, aus denen die Intelligibilität im normalen Sinne resultiert. Es gibt übrigens einen einfachen Test für die Unterscheidung zwischen dem normalen und dem tieferen Sinn des Terminus intelligibel. Denn das Intelligible im normalen Sinn kann verstanden werden ohne zu verstehen, was Verstehen bedeutet; das Intelligible im tieferen Sinn aber ist mit dem Verstehen identisch, und es kann deshalb nicht verstanden werden ohne zu verstehen, was das Verstehen ist. (Fs)

728c Die positiven ganzen Zahlen besipielsweise sind eine unendliche Reihe intelligibler in Beziehung stehender Termini. Sowohl die Termini wie auch die Relationen werden von jedem verstanden, der Arithmetik betreiben kann, und man kann Arithmetik betreiben, ohne zu verstehen, was Verstehen ist. Außer den Termini und ihren Relationen aber gibt es das generative Prinzip der Reihe; insofern dieses generative Prinzip erfaßt wird, erfaßt man den Grund für eine Unendlichkeit voneinander unterschiedener Begriffe. Was ist aber dieses generative Prinzip? Es ist intelligibel; denn es wird erfaßt, verstanden. Man kann aber keinen Begriff von ihm bilden, ohne den Begriff dessen zu bilden, was eine Einsicht ist; denn das eigentliche generative Prinzip der Reihe ist die Einsicht. Nur wer bereit ist, über die Einsicht zu sprechen, ist auch fähig, die Frage: "Wie erkennt man den unendlichen Rest der positiven ganzen Zahlen, der durch das 'und so weiter' bezeichnet wird?" zu stellen und zu beantworten. (Fs) (notabene)

728d Es folgt eine nötige Klärung der Notion des Geistigen. Es ist unterschieden worden zwischen dem Intelligiblen, das auch intelligent ist, und dem Intelligiblen, welches es nicht ist. Es wurde weiter unterschieden zwischen dem, was innerlich vom empirischen Residuum unabhängig ist, und dem, was innerlich nicht unabhängig vom empirischen Residuum ist. Das Geistige wurde identifiziert sowohl mit dem Intelligiblen, das auch intelligent ist, als auch mit dem, was innerlich unabhängig ist vom empirischen Residuum. Eine Schwierigkeit tritt nun auf, wenn gefragt wird, ob eine Essenz als in einem Begriff erfaßt geistig sei oder nicht. Denn eine Essenz als im Begriff erfaßt abstrahiert vom empirischen Residuum; aber sie ist nicht intelligent und versteht nicht. Eine Lösung kann erreicht werden, indem man sich auf die zwei Bedeutungen des Terminus intelligibel beruft. Wenn es ein Intelligibles im tieferen Sinn gibt, gibt es auch einen Verstehensakt, mit dem es identisch ist; und dann ist das Intelligible geistig sowohl in dem Sinne, daß es mit dem Verstehen identisch ist, als auch in dem Sinn, daß es vom empirischen Residuum innerlich unabhängig ist. Wenn es andererseits ein Intelligibles im geläufigen Sinn gibt, dann ist es nicht mit einem Verstehensakt identisch; aber es kann vom (648) empirischen Residuum insofern abstrahieren, als es aus einem geistigen Akte resultiert; und so sind die Essenzen als in Begriffen erfaßt geistig in dem Sinne, daß sie Produkte des Geistes sind; aber nicht in dem Sinne, daß sie intelligente Intelligible sind. (Fs) (notabene)

729a Nach diesen Klärungen können wir nun zu unserem Problem zurückkehren. Die Idee des Seins ist der Inhalt eines unbeschränkten Verstehensaktes, und dieser Inhalt teilt sich unerbittlich in eine Primärkomponente, welche eine einzige, immateriell, nicht-zeitlich und nicht-räumlich ist, und in eine Sekundärkomponente, die aus Vielen besteht und die das Materielle, das Zeitliche und das Räumliche einbegreift. Was ist nun die Primärkomponente? Sie ist der uneingeschränkte Verstehensakt. (Fs)

729b Denn wenn ein Verstehensakt unbeschränkt ist, versteht er das Verstehen; er versteht nicht bloß eingeschränkte Akte, sondern auch den uneingeschränkten Akt; wenn er den uneingeschränkten Akt versteht, muß er dessen Inhalt verstehen, weil sonst das Verstehen des uneingeschränkten Aktes beschränkt wäre; der Inhalt des uneingeschränkten Aktes aber ist die Idee des Seins, und wenn so der uneingeschränkte Akt sich selbst versteht, versteht er damit auch alles andere. (Fs)

729c Es folgt, daß der uneingeschränkte Verstehensakt selbst die Primärkomponente in der Idee des Seins ist. Denn die Primärkomponente ist die immaterielle, nichtzeitliche, nicht-räumliche Einheit derart, daß, wenn sie erfaßt wird, alles über alles andere erfaßt wird. Aber der unbeschränkte Akt genügt dieser Definition. Denn er ist ein einziger Akt, er ist geistig, und deshalb ist er immateriell, nicht-zeitlich und nicht-räumlich; und es wurde soeben gezeigt, daß, wenn er erfaßt wird, alles über alles andere auch erfaßt wird. (Fs)

730a Anstatt von Primär- und Sekundärkomponente in der Seinsidee zu sprechen, können wir demnach zwischen einem Primärintelligiblen und Sekundärintelligiblen unterscheiden. Das Primärintelligible ist identisch mit dem unbeschränkten Verstehensakt. Es ist intelligibel im tieferen Sinn; denn es ist ein Intelligibles, das mit Intelligenz im Akt identisch ist. Es ist ein einzigartiges Intelligibles; denn es ist mit dem einzigartigen Akt des unbeschränkten Verstehens identisch. Andererseits sind die Sekundärintelligiblen das, was auch insofern erfaßt wird, als der unbeschränkte Akt sich selbst versteht. Sie sind intelligibel im gewöhnlichen Sinn; denn sie werden verstanden; sie sind aber nicht intelligibel im tieferen Sinn, weil der unbeschränkte Akt ein Verstehen vieler Intelligibler ist, und allein das einzigartige Primärintelligible ist mit dem unbeschränkten Akt identisch. (Fs) (notabene)

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