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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Transzendenz, Notion; Erkennen nach dem Modell des Sehens: Immanenz - Transzendenz; T. als Element der intentionalen Analyse (Übersteigen von Erfahren zum Erkennen usw.)

Kurzinhalt: Transzendenz bedeutet zu diesem Zeitpunkt also eine Entwicklung in der Erkenntnis des Menschen, die für die Entwicklung im Sein des Menschen relevant ist.

Textausschnitt: 1. Die Notion von Transzendenz


714c Für gewöhnlich wird Transzendenz als das Gegenteil von Immanenz aufgefaßt und deshalb ist der einfachste Weg, diesen Gegensatz zu verstehen, von der verbreiteten Sichtweise auszugehen, daß Erkennen im Anschauen bestehe. Denn für diese Sichtweise ist die Tatsache des Irrtums in gewisser Weise verwirrend: Entweder besteht der Irrtum im Sehen von etwas, das tatsächlich dort nicht vorhanden ist, oder er besteht darin, nicht zu sehen, was dort vorhanden ist. Wenn aber das erste Anschauen irrt, dann können auch das zweite, das dritte, das vierte oder w-te Anschauen in derselben oder einer anderen Weise irren. Welchem Anschauen sollen wir nun trauen? Können wir überhaupt irgendeinem trauen? Verlangt Gewißheit nicht die Möglichkeit eines Super-Anschauens, in welchem man das anzuschauende Objekt mit dem Objekt als gesehenes vergleichen kann? Und litte das Super-Anschauen nicht an derselben Schwierigkeit? Offensichtlich täte es das, und deshalb kommt man zu dem Schluß, Erkennen sei immanent, und zwar nicht nur im ontologischen (635) Sinne, daß das Erkennen im Erkennenden stattfindet, sondern auch im epistemologischen Sinne, daß nichts erkannt wird außer dem dem Erkenntnisakt immanenten Inhalt. (Fs)

715a Ein erster Schritt in Richtung Transzendenz ist also, die irrtümliche Annahme, daß Erkennen im Anschauen bestehe, zurückzuweisen. Ja, nicht einmal das oben erwähnte Argument für die Immanenz beruht auf einem Anschauen, sondern auf Verstehen und Urteilen, und deshalb würde sich jeder, der sich auf das oben erwähnte Argument bezieht, um die erkenntnistheoretische Immanenz zu behaupten, besser auf die Tatsache beziehen, daß er argumentiert, und würde damit zur Ablehnung des Obersatzes des Argumentes geführt. Die Gegenpositionen fordern ihre eigene Umkehrung heraus. (Fs)
715b In einem allgemeineren Sinne bedeutet Transzendenz "darüber hinausgehen". So geben Untersuchen, Einsehen und Formulieren nicht bloß den Inhalt der Sinneserfahrung wieder, sondern gehen über ihn hinaus. So geben sich Reflexion, Erfassen des Unbedingten und Urteil nicht mit bloßen Objekten des Annehmens, Definierens und Betrachtens zufrieden, sondern gehen über sie hinaus zum Universum der Tatsachen, des Seins, dessen, was als wahr bejaht wird und es wirklich ist. Ferner, man kann sich damit begnügen, die Dinge in bezug auf uns zu erkennen, oder man kann darüber hinausgehen und sich den Wissenschaftlern zugesellen, die nach der Erkenntnis der Dinge als aufeinander bezogen suchen. Man kann über den Common Sense und die gegenwärtige Wissenschaft hinausgehen, um die dynamische Struktur unseres rationalen Erkennens und Tuns zu erfassen und dann eine Metaphysik und eine Ethik formulieren. Man kann schließlich auch fragen, ob die menschliche Erkenntnis auf das Universum des proportionierten Seins beschränkt sei oder über dieses hinausgehe zum Bereich des transzendenten Seins; und dieser transzendente Bereich kann entweder relativ oder absolut aufgefaßt werden, entweder als über den Menschen hinausgehend oder als das schlechterdings Letzte im ganzen Prozeß des Darüber-Hinausgehens. (Fs)

715c Es ist klar, daß trotz dem imponierenden Namen die Transzendenz in der elementaren Sache des weiteren Fragenstellens besteht. So ist das vorliegende Werk von einem sich bewegenden Gesichtspunkt aus geschrieben worden. Es begann mit der Einsicht als einem interessanten Ereignis im menschlichen Bewußtsein. Es ging weiter zur Einsicht als zentralem Ereignis im Werdegang der mathematischen Erkenntnis. Es ging über die Mathematik hinaus, um die Rolle der Einsicht in den klassischen und in den statistischen Untersuchungen zu studieren. Es ging über die reproduzierbaren Einsichten der Wissenschaftler hinaus zum komplexeren Funktionieren der Intelligenz im Common Sense, in ihren Relationen zu ihrer psychoneuralen Basis und in ihrer historischen Erweiterung durch die Entwicklung von Technologie, Wirtschaftsordnungen und politischen Systemen. Es ging über all diese direkten und inversen Einsichten hinaus zum reflektierenden Einsehen, das das Urteil begründet. Es ging über alle Einsichten als Aktivitäten hinaus, um sie als Elemente in der Erkenntnis zu betrachten. Es ging über die tatsächliche Erkenntnis hinaus zu (636) ihrer beständigen dynamischen Struktur, um eine explizite Metaphysik zu konstruieren und die allgemeine Form einer Ethik anzufügen. Es hat gefunden, daß der Mensch einbegriffen und damit beschäftigt ist, sich zu entwickeln, über das hinauszugehen, was er de facto ist, und es ist konfrontiert worden mit der Unfähigkeit des Menschen zu anhaltender Entwicklung und mit seinem Bedürfnis, hinauszugehen über die bislang betrachteten Vorgehensweisen seiner Bemühung hinauszugehen. (Fs)

716a Transzendenz bedeutet zu diesem Zeitpunkt also eine Entwicklung in der Erkenntnis des Menschen, die für die Entwicklung im Sein des Menschen relevant ist. Bislang haben wir uns mit der Erkenntnis des proportionierten Seins zufriedengegeben. Der Mensch aber ist im Prozeß der Entwicklung begriffen. Insofern er intelligent und vernünftig, frei und verantwortlich ist, muß er seine eigene Entwicklung erfassen und bejahen, akzeptieren und zur Ausführung bringen. Aber kann er das? Seine eigene Entwicklung zu erfassen, bedeutet für den Menschen, sie zu verstehen, von seiner Vergangenheit durch die Gegenwart auf die alternativen Bereiche der Zukunft zu extrapolieren. Es bedeutet, nicht nur horizontal zu extrapolieren, sondern auch vertikal, nicht nur auf zukünftige Wiederholungen vergangener Ereignisse, sondern auch auf höhere Integrationen gegenwärtiger nichtsystematisierter Mengen. Noch grundlegender besteht es darin, die Prinzipien zu erfassen, welche mögliche Extrapolationen lenken; denn während die Möglichkeiten viele und schwer zu bestimmen sind, sind die Prinzipien wenige und ermittelbar. Ferner, weil die Finalität eine nach oben aber unbestimmt gerichtete Dynamik und weil der Mensch frei ist, liegt das wahre Problem nicht in den vielen Möglichkeiten, sondern in den wenigen Prinzipien, auf die der Mensch in der Ausarbeitung seines Geschicks sich verlassen kann. (Fs)

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