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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Methode in der Theologie

Titel: Methode in der Theologie

Stichwort: Religion; praktische Anmerkung; vier Sinnbereiche: Allgemeinverstand, Theorie, Interiorität und Transzendenz; heiligmachende Gnade: Metaphysik: Vernunft - Wille - Interiorität: Änderung auf er einen Ebne -> Änderungen auf allen anderen Ebenen

Kurzinhalt: Falls man diese Analyse auf metaphysische Begriffe übertragen möchte, dann sind die aktiven Vermögen die transzendentalen Notionen, die sich in Fragen nach Einsicht, in Fragen nach Reflexion ... zu erkennen geben. Die passiven Vermögen sind die ...

Textausschnitt: 9. Eine praktische Anmerkung

59/4 Während wir vier Sinnbereiche unterscheiden, nämlich Allgemeinverstand, Theorie, Interiorität und Transzendenz, unterschied eine ältere Theologie nur zwei: Allgemeinverstand und Theorie, und zwar unter der aristotelischen Bezeichnung der priora quoad nos und der priora quoad se. Daher sprach die ältere Theologie, wenn sie von innerer Erfahrung oder von Gott sprach, entweder innerhalb des Bereichs des Allgemeinverstands - dann war ihre Sprache bildhaft und mit Symbolen durchsetzt -oder im Theoriebereich - und dann war ihre Sprache grundlegend metaphysisch. Eine Folge dieses Unterschieds wurde bereits angemerkt. Die ältere Theologie verstand die heiligmachende Gnade als einen entitativen Habitus, der absolut übernatürlich und dem Wesen der Seele eingegossen ist. Wir dagegen können, weil wir die Interiorität als einen eigenen unterschiedenen Sinnbereich anerkennen, mit einer Beschreibung der religiösen Erfahrung beginnen, sodann einen dynamischen Zustand des In-Liebe-Seins ohne Einschränkungen anerkennen und dann erst diesen Zustand mit dem Zustand der heiligmachenden Gnade identifizierten. (128f; Fs) (notabene)

60/4 Es gibt aber auch noch andere Konsequenzen. Die ältere Theologie unterschied, weil ihre Darstellung der Interiorität grundlegend metaphysisch war, sinnliche und intellektuelle Vermögen, Erkenntnis- und Strebevermögen. Daraus ergaben sich verwickelte Fragen hinsichtlich ihrer gegenseitigen Interaktion. Es gab Debatten zur Priorität des Intellekts über den Willen, oder des Willens über den Intellekt, des spekulativen Intellekts über den praktischen, oder des praktischen Intellekts über den spekulativen. Im Gegensatz hierzu beschreiben wir die Interiorität als intentionale und bewußte Akte auf den vier Ebenen des Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens. Die niedrigeren Ebenen werden von den höheren vorausgesetzt und ergänzt. Die höheren Ebenen heben die niedrigeren auf. Falls man diese Analyse auf metaphysische Begriffe übertragen möchte, dann sind die aktiven Vermögen die transzendentalen Notionen, die sich in Fragen nach Einsicht, in Fragen nach Reflexion und in Fragen nach Entscheidung zu erkennen geben. Die passiven Vermögen sind die niedrigeren Ebenen, die von den höheren vorausgesetzt und ergänzt werden. Diese Beziehungen sind zwar festgelegt, doch entscheiden sie nicht Fragen der Initiative oder des Vorrangs. Eine bedeutsame Veränderung auf irgendeiner Ebene verlangt Anpassungen auf den anderen Ebenen, und die Reihenfolge, in der die Anpassungen stattfinden, hängt vor allem von der Bereitwilligkeit ab, mit der sie verwirklicht werden können. (129; Fs) (notabene)

61/4 Die vierte Ebene, die die anderen drei voraussetzt, ergänzt und aufhebt, ist die Ebene der Freiheit und Verantwortlichkeit, der moralischen Selbst-Transzendenz und in diesem Sinne der Existenz, der Selbst-Ausrichtung und Selbst-Kontrolle. Versagt ihre richtige Funktion, so zeigt sich dies im beunruhigten oder schlechten Gewissen. Ihr Erfolg aber zeigt sich im befriedigenden Gefühl, seine Pflicht getan zu haben. (129; Fs)

62/4 Da die vierte Ebene das Prinzip der Selbst-Kontrolle ist, ist sie für das rechte Funktionieren der drei anderen Ebenen verantwortlich. Sie erfüllt ihre Verantwortung oder versagt in dem Maße, wie wir im Erfahren aufmerksam oder unachtsam sind, wie wir uns in unseren Untersuchungen einsichtig oder unintelligent verhalten und in unseren Urteilen vernünftig oder unvernünftig sind. Damit verschwinden zwei Begriffe: zum einen der Begriff vom reinen Verstand oder von der reinen Vernunft, die eigenständig ohne Leitung und Kontrolle durch verantwortliche Entscheidung tätig sind; zum anderen der Begriff vom Willen als einer willkürlichen Kraft, die indifferent zwischen Gut und Böse wählt. (130; Fs) (notabene)

63/4 Das Auftauchen der vierten Ebene des Überlegens, Wertens und der Wahl ist ein langsamer Vorgang, der sich faktisch zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr vollzieht. In dieser Zeit wird die frühere affektive Symbiose des Kindes mit seiner Mutter durch Beziehungen zum Vater ergänzt, der in seinem Kind eine potentielle Person erkennt und ihm sagt, was es tun oder nicht tun soll, ihm ein Modell menschlichen Verhaltens vor Augen stellt und für gutes Benehmen die späteren Belohnungen des sich-selbst-bestimmenden Erwachsenen in Aussicht stellt. So tritt das Kind Schritt für Schritt in die durch Bedeutung vermittelte und durch Werte geregelte Welt ein, und im Alter von sieben Jahren hat es nach herrschender Meinung den Vernunftgebrauch erlangt.1 Dennoch ist dies erst der Anfang menschlicher Authentizität. Man muß erst die Unruhe der Pubertät gut hinter sich gebracht haben, ehe man nach dem Gesetz voll verantwortlich wird. Man muß erst selbst herausgefunden haben, daß man selber zu entscheiden hat, was man aus sich machen soll; man muß sich selbst beweisen, daß man diesem Augenblick existentieller Entscheidung gewachsen ist; und man muß dies in allen folgenden Entscheidungen weiterhin unter Beweis stellen, wenn man eine authentisch menschliche Person sein will. Dieses hochkomplizierte Geschäft von Authentizität und Unechtheit ist es, das den allzu einfachen Begriff vom Willen als einer willkürlichen Kraft ersetzen muß. Willkür ist nur ein anderes Wort für Unechtheit oder Nicht-Authentizität. Den Willen als willkürliche Kraft aufzufassen heißt anzunehmen, daß Authentizität nie existiert oder geschieht. (130; Fs)

64/4 Was wiederum den Begriff vom reinen Verstand oder reiner Vernunft naheliegend erscheinen läßt, ist das Faktum, daß kognitive Selbst-Transzendenz viel leichter zu erreichen ist als moralische Selbst-Transzendenz. Das heißt aber nicht, daß erkenntnismäßige Selbst-Transzendenz leicht sei. Urvölker leben unter der Herrschaft von Mythen und Magie. Nur langsam und widerstrebend meistern unsere jungen Menschen Grammatik, Logik und Methode. Erst nach wohlüberlegter Entscheidung widmen sich Menschen einem Leben der Gelehrsamkeit oder der naturwissenschaftlichen Forschung, und nur durch ständige Erneuerung dieser Hingabe erreichen sie die Ziele, die sie sich gestellt haben. Ein Leben des reinen Verstandes oder der reinen Vernunft wäre ohne die Kontrolle der Überlegung, der Wertung und der verantworteten Wahl etwas Geringeres als das Leben eines Psychopathen. (130f; Fs) (notabene)

65/4 Wenden wir uns nun einem weiteren Aspekt der Thematik zu. Man pflegte zu sagen: Nihil amatum nisi praecognitum - Erkenntnis geht der Liebe vorauf. Die Wahrheit dieser Redewendung liegt in der Tatsache, daß normalerweise Vollzüge auf der vierten Ebene des intentionalen Bewußtseins entsprechende Vollzüge auf den drei anderen Ebenen voraussetzen und ergänzen. Zu dieser Regel gibt es eine kleinere Ausnahme insofern, als Menschen sich verlieben, und dieses Sich-verlieben ist etwas, das in keinem Verhältnis zu seinen Ursachen, Bedingungen, Anlässen und Antezedentien steht. Denn Sich-verlieben ist ein neuer Anfang, ein Vollzug der vertikalen Freiheit, wodurch die eigene Welt einer Neuordnung unterzogen wird. Doch die wichtigere Ausnahme von der Regel dieser lateinischen Sentenz ist das Gottesgeschenk seiner Liebe, die unser Herz überströmt. Dann sind wir im dynamischen Zustand des In-Liebe-Seins.2 Doch wer es ist, den wir lieben, ist weder einfach gegeben noch bisher verstanden. Unsere Fähigkeit zu moralischer Selbst-Transzendenz hat eine Erfüllung gefunden, die tiefe Freude und vollkommenen Frieden bringt. Unsere Liebe offenbart uns Werte, die wir nicht zu schätzen wußten, Werte des Gebetes und der Anbetung, oder der Reue und der Glaubensüberzeugung. Wenn wir aber wissen möchten, was in uns vorgeht, und lernen, dies in unseren Lebensvollzug einzufügen, müssen wir fragen, nachforschen und Rat suchen. Daher kommt es, daß in religiösen Angelegenheiten die Liebe der Erkenntnis vorangeht; und weil diese Liebe eine Gabe Gottes ist, ist der eigentliche Anfang des Glaubens der Gnade Gottes zu verdanken. (131; Fs)

66/4 Nach dieser Darstellung ist nicht nur das alte Problem des Heils der Nicht-Christen stark reduziert, sondern auch das wahre Wesen der christlichen Apologetik geklärt. Aufgabe des Apologeten ist es weder, in anderen das Gottesgeschenk der Liebe hervorzurufen, noch, es für sie zu rechtfertigen. Nur Gott kann diese Gabe geben, und die Gabe rechtfertigt sich selbst. Menschen, die in Liebe sind, haben sich nicht durch Vernunftgründe zu ihrem In-Liebe-Sein gebracht. Aufgabe des Apologeten ist es, anderen zu helfen, das Gottesgeschenk dem ganzen Lebensvollzug einzufügen. Jedes bedeutsame Ereignis auf irgendeiner Bewußtseinsebene verlangt Anpassungen auf den anderen Ebenen. Religiöse Bekehrung ist ein außerordentlich bedeutsames Ereignis, und die Anpassungen, die sie verlangt, können groß und zahlreich sein. Wegen einiger wird man Freunde um Rat fragen; wegen anderer sucht man nach geistlicher Leitung. Zwecks allgemein benötigter Information oder Interpretation und zur Formulierung neuer und Überwindung falscher Tatsachen- und Weiturteile kann man die Apologeten lesen. Diese können zwar nicht direkt wirksam werden, weil sie ja nicht Gottes Gnade verleihen; sie müssen aber genau, erhellend und überzeugend argumentieren, sonst würden sie dem, der um Brot bittet, Steine geben, und eine Schlange dem, der nach Fisch verlangt. (131f; Fs) (notabene)

67/4 Hier noch eine Schlußbemerkung terminologischer Art: Wir haben zwischen Glaube und religiösen Glaubensüberzeugungen unterschieden. Wir haben dies in Konsequenz unserer Auffassung getan, daß es einen Bereich gibt, in dem die Liebe der Erkenntnis vorangeht. Wir haben es auch getan, weil diese Redeweise die ökumenische Diskussion erleichtert. Doch obwohl wir unsere Gründe für gültig und unsere Ziele für legitim erachten, müssen wir das Bestehen einer älteren und autoritativeren Überlieferung anerkennen, nach der Glaube und religiöse Glaubensüberzeugung gleichzusetzen sind. Wir machen dieses Eingeständnis um so bereitwilliger, als wir nicht von der älteren Lehre, sondern nur von der älteren Redeweise abweichen. Wir weichen nicht von der älteren Lehre ab, denn mit der Anerkennung religiöser Glaubensüberzeugungen anerkennen wir das, was man auch Glaube genannt hat, und mit der Anerkennung eines Glaubens, der die Glaubensüberzeugung fundiert, anerkennen wir das, was man früher als lumen gratiae oder lumen fidei oder auch als eingegossene Weisheit bezeichnet hat. Und als letztes sei angemerkt: Ein Vertreter der Klassik (classicist)3 würde darauf bestehen, daß man niemals von einer akzeptierten Terminologie abgehen sollte, wogegen ich behaupte, daß dieser Klassizismus nur die irrtümliche Vorstellung ist, die Kultur normativ aufzufassen, und daraus zu folgern, es gäbe nur eine einzige Kultur. Die Tatsachen heute zeigen, daß Kultur empirisch aufzufassen ist, daß es viele verschiedene Kulturen gibt und daß neue Distinktionen legitim sind, wenn die Gründe für sie dargelegt werden und die alten Wahrheiten gewahrt bleiben. (132f; Fs)

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