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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Methode in der Theologie

Titel: Methode in der Theologie

Stichwort: Religion; die Gottesfrage; das virtuell Unbedingte

Kurzinhalt: Gibt es einen transzendenten, intelligenten Grund des Universums mit Notwendigkeit, oder gibt es ihn nicht?

Textausschnitt: 1. Die Gottesfrage

1/4 Die Tatsache von Gut und Böse, Fortschritt und Niedergang, rührt zu Fragen über die Eigenart unserer Welt. Solche Fragen wurden vielfach und auf sehr unterschiedliche Weise gestellt - die Antworten sind sogar noch zahlreicher. Doch hinter dieser Vielfalt gibt es eine grundlegende Einheit, die bei Anwendung der transzendentalen Methode zum Vorschein kommt. Wir können die Möglichkeit fruchtbarer Untersuchung untersuchen. Wir können das Wesen der Reflexion reflektieren. Wir können überlegen, ob unsere Überlegung zwecks einer Entscheidung der Mühe wert ist. In jedem dieser Fälle stellt sich die Frage nach Gott. (110; Fs)

2/4 Die Möglichkeit der Untersuchung liegt beim Subjekt in seiner Intelligenz, in seinem Drang, das Was, Warum und Wie zu wissen, sowie in seiner Fähigkeit, intellektuell befriedigende Anworten erreichen zu können. Aber warum sollten die Antworten, die die Intelligenz des Subjekts zufriedenstellen, mehr hergeben als eine nur subjektive Befriedigung? Warum sollte man vermuten, daß diese Antworten Bedeutung für die Erkenntnis des Universums haben? Mit Selbstverständlichkeit nehmen wir an, daß sie eine solche Relevanz haben. Wir können auf die Tatsache verweisen, daß unsere Annahme durch ihre Ergebnisse bestätigt wird. Damit geben wir einschlußweise zu, daß das Universum intelligibel ist, und hat man dies erst zugestanden, so erhebt sich die Frage, ob das Universum intelligibel sein könnte, wenn es keinen intelligenten Grund hätte. Das aber ist die Frage nach Gott. (110; Fs)

3/4 Über Reflexion zu reflektieren heißt fragen, was geschieht, wenn wir das Belegmaterial ordnen und abwägen, um zu behaupten, daß dies wahrscheinlich so und jenes wahrscheinlich nicht so ist. Worauf beziehen sich diese Metaphern des Ordnens und Abwägens? An anderer Stelle habe ich eine ausführliche Antwort auf diese Frage erarbeitet und kann hier meine Schlußfolgerung nur summarisch wiederholen.1 Das Urteil geht rational aus dem Erfassen eines virtuell Unbedingten hervor. Unter einem Unbedingten verstehe ich jedes X, das keine Bedingungen hat; unter einem virtuell Unbedingten jedes X, das keine unerfüllten Bedingungen hat. Mit anderen Worten ist ein virtuell Unbedingtes ein Bedingtes, dessen Bedingungen jedoch alle erfüllt sind. Das Belegmaterial zu ordnen heißt zu ermitteln, ob alle Bedingungen erfüllt sind. Das Belegmaterial abzuwägen heißt zu ermitteln, ob die Erfüllung der Bedingungen mit Sicherheit oder wahrscheinlich die Existenz oder das Geschehen des Bedingten einschließt. (110f; Fs) (notabene)

4/4 Diese Erklärung des Urteils enthält nun implizit ein weiteres Element. Wenn wir von einem virtuell Unbedingten zu sprechen haben, so müssen wir zuerst von einem Unbedingten sprechen. Das virtuell Unbedingte hat keine unerfüllten Bedingungen. Das Unbedingte im strengen Wortsinn hat überhaupt keine Bedingungen. Nach traditioneller Terminologie ist ersteres ein kontingentes und letzteres ein notwendiges Sein. In einer moderneren Terminologie: Das erstere gehört zu dieser Welt, zu der Welt möglicher Erfahrung, wogegen letzteres diese Welt in dem Sinne transzendiert, daß seine Wirklichkeit von völlig anderer Ordnung ist. In beiden Fällen aber stoßen wir auf die Gottesfrage. Existiert ein notwendiges Sein? Gibt es eine Wirklichkeit, die die Wirklichkeit dieser Welt übersteigt? (111; Fs) (notabene)

5/4 Etwas zu erwägen heißt fragen, ob dieses Etwas der Mühe wert ist. Das Erwägen selbst zu erwägen heißt fragen, ob jegliches Erwägen überhaupt der Mühe wert ist. Hat 'der-Mühe-wert-sein' irgendeine letzte Bedeutung? Ist die moralische Bemühung mit dieser Welt vereinbar? Wir loben das Subjekt, das sich entfaltet und immer fähiger wird zur Aufmerksamkeit, Einsicht, Vernünftigkeit und Verantwortlichkeit. Wir loben den Fortschritt und brandmarken alles, worin sich ein Niedergang manifestiert. Es fragt sich aber, ob das Universum auf unserer Seite ist oder ob wir nur Glücksspieler sind, und falls Spieler, ob nicht vielleicht auch Narren, insofern wir individuell um Authentizität ringen und gemeinsam versuchen, dem ständig wachsenden Wirrwarr des Niedergangs einen Fortschritt abzuzwingen. (111; Fs)

6/4 Diese Fragen stellen sich, und es wird deutlich, daß unsere Einstellung und Entschlossenheit zutiefst von den entsprechenden Antworten beeinflußt werden kann. Gibt es einen transzendenten, intelligenten Grund des Universums mit Notwendigkeit, oder gibt es ihn nicht? Ist dieser Grund die erste Instanz sittlichen Bewußtseins, oder sind wir es selbst? Sind Kosmogenese, biologische Evolution und der Geschichtsprozeß uns als moralischen Wesen grundlegend verwandt, oder sind sie indifferent und uns somit fremd? (111; Fs)

7/4 Solcherart ist die Gottesfrage. Sie ist keine Angelegenheit von bildhafter Vorstellung, von Gefühl, Begriff oder Urteil. Diese gehören zu Antworten; sie aber ist eine Frage. Sie erhebt sich aus unserer bewußten Intentionalität, aus jenem a priori strukturierten Impuls, der uns vom Erfahren zur Anstrengung des Verstehens führt, vom Verstehen zur Bemühung um das wahre Urteil und vom Urteilen zur Mühe des richtigen Wählens. In dem Maße, wie wir uns unserem eigenen Fragen zuwenden und dazu übergehen, es in Frage zu stellen, erhebt sich die Frage nach Gott. (111f; Fs) (notabene)

8/4 Sie ist eine Frage, die auf den verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung des Menschen und in den zahlreichen Varianten seiner Kultur auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt. Doch solche Unterschiede der Kundgabe und des Ausdrucks sind sekundär. Sie können fremde Elemente einführen, die die reine Frage überlagern, verdunkeln und verzerren: die Frage nämlich, die das Fragen selbst hinterfragt. Nichtsdestoweniger setzen auch ein Verdunkeln und Verzerren ebendas voraus, was sie verdunkeln und verzerren. Daraus folgt, daß - wie stark religiöse oder nicht-religiöse Antworten voneinander abweichen mögen, wie sehr auch die Fragen, die sie ausdrücklich stellen, differieren - dennoch in ihrer tiefsten Wurzel die gleiche transzendentale Tendenz des menschlichen Geistes vorhanden ist, jenes Geistes, der fragt, der ohne Einschränkungen fragt, der die Bedeutung seines eigenen Fragens in Frage stellt und so zur Gottesfrage vordringt. (112; Fs)

9/4 Die Gottesfrage liegt demnach im Horizont des Menschen. Die transzendentale Subjektivität des Menschen wird verstümmelt oder aufgegeben, wenn er sich nicht nach dem Intelligiblen, nach dem Unbedingten, nach dem Gut des Wertes ausstreckt. Die Reichweite, nicht seines Erreichens, sondern seines Intendierens ist unbegrenzt. Innerhalb seines Horizontes liegt ein Bereich für das Göttliche, ein Tempel für höchste Heiligkeit. Er ist nicht zu übersehen. Der Atheist mag ihn für leer halten; der Agnostiker kann betonen, seine Untersuchungen hätten zu keinem schlüssigen Ergebnis geführt, und der Humanist unserer Gegenwart wird sich weigern, diese Frage überhaupt zuzulassen. Doch all diese Negationen setzen den Funken in unserem Brandscheit voraus, unsere ursprüngliche Ausrichtung auf das Göttliche. (112; Fs) (notabene)

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