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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Religiosität der kommenden Zeit 2; neues Heidentum; Erneuerung des Mythos; Nationalsozialismus; Rilke

Kurzinhalt: Je entschiedener der Nicht-Glaubende seine Absage an die Offenbarung vollzieht und je konsequenter er sie praktisch durchführt, desto deutlicher wird daran, was das Christliche ist.

Textausschnitt: 110a Immer noch bleibt aber die Frage zu beantworten, von welcher Art die Religiosität der kommenden Zeit sein werde? Nicht ihr offenbarter Inhalt, der ist ewig; aber seine geschichtliche Verwirklichungsform, seine menschliche Struktur? Hier wäre manches zu sagen und zu vermuten. Wir müssen uns aber beschränken. Wichtig wird vor allem sein, worauf zuletzt hingewiesen wurde: das scharfe Hervortreten der nicht-christlichen Existenz. Je entschiedener der Nicht-Glaubende seine Absage an die Offenbarung vollzieht und je konsequenter er sie praktisch durchführt, desto deutlicher wird daran, was das Christliche ist. Der Nicht-Glaubende muß aus dem Nebel der Säkularisation heraus. Er muß das Nutz-nießertum aufgeben, welches die Offenbarung verneint, sich aber die von ihr entwickelten Werte und Kräfte angeeignet hat. Er muß das Dasein ohne Christus und ohne den durch Ihn offenbarten Gott ehrlich vollziehen und erfahren, was das heißt. Schon Nietzsche hat gewarnt, der neuzeitliche Nicht-Christ habe noch gar nicht erkannt, was es in Wahrheit bedeute, ein solcher zu sein. Die vergangenen Jahrzehnte haben eine Ahnung davon vermittelt, und sie waren erst der Anfang. (Fs)

110b Ein neues Heidentum wird sich entwickeln, aber von anderer Art als das erste. Auch hier besteht eine Unklarheit, die sich unter anderem im Verhältnis zur Antike zeigt. Der heutige Nicht-Christ ist vielfach der Meinung, er könne das Christentum ausstreichen und von der Antike aus einen neuen religiösen Weg suchen. Darin irrt er aber. Man kann die Geschichte nicht zurückdrehen. Als Form des Existierens ist die Antike endgültig vorbei. Wenn der heutige Mensch Heide wird, wird er es in einem ganz anderen Sinne, als der Mensch vor Christus es war. Dessen religiöse Haltung hatte, bei aller Größe des Lebens wie des Werkes, etwas Jugendlich-Naives. Er stand noch vor jener Entscheidung, die sich an Christus vollzieht. Durch diese - sie mag ausfallen, wie sie will - tritt der Mensch auf eine andere existentielle Ebene; Sören Kierkegaard hat das ein für allemal klargestellt. Sein Dasein gewinnt einen Ernst, den die Antike nicht gekannt hat, weil sie ihn nicht kennen konnte. Er stammt nicht aus einer eigenmenschlichen Reife, sondern aus dem Anruf, den die Person durch Christus von Gott her erfährt: sie schlägt die Augen auf und ist nun wach, ob sie will oder nicht. Er stammt aus dem jahrhundertlangen Mitvollzug der Christus-Existenz; aus dem Miterleben jener furchtbaren Klarheit, mit welcher Er »gewußt hat, was im Menschen ist« und jenes übermenschlichen Mutes, womit Er das Dasein durchgestanden hat. Daher der seltsame Eindruck von Unerwachsensein, der einen so oft angesichts antichristlicher Antike-Gläubigkeit überkommt. (Fs)

111a Von der Erneuerung des nordischen Mythos gilt das gleiche. Sofern sie nicht, wie im Nationalsozialismus, nur Tarnung reiner Machtziele war, ist sie ebenso wesenlos wie jene des antiken Mythos. Auch das nordische Heidentum stand noch vor jener Entscheidung, die es zwang, aus dem geborgenen und zugleich gebannten Leben des unmittelbaren Daseins mit seinen Rhythmen und Bildern in den Ernst der Person zu treten - wie immer auch die Entscheidung ausfallen mochte. (Fs)

112a Abermals das gleiche ist von all den Versuchen zu sagen, durch Säkularisierung christlicher Gedanken und Haltungen einen neuen Mythus hervorzubringen, wie das etwa in der Dichtung des späten Rilke geschieht1. Was aber darin ursprünglich ist, nämlich der Wille, die Jenseitigkeit der Offenbarung abzustreifen und das Dasein rein auf die Erde zu begründen, zeigt seine Ohnmacht schon an der Unfähigkeit, sich in das neu Anbrechende hineinzustellen. Die Versuche, welche etwa die »Sonette an Orpheus« nach dieser Richtung machen, sind von einer rührenden und, bei dem Anspruch der »Elegien«, befremdenden Hilflosigkeit. (Fs)

112b Was endlich Anschauungen, wie die des französischen Existentialismus betrifft, so ist deren Verneinung des Daseinssinnes derart gewaltsam, daß man sich fragt, ob sie nicht eine besonders verzweifelte Art von Romantik bilden, welche durch die Erschütterungen der letzten Jahrzehnte möglich geworden sei. (Fs)

Ein Versuch, das Dasein nicht nur in Widerspruch zur christlichen Offenbarung zu bringen, sondern es auf eine von ihr wirklich unabhängige, welt-eigene Grundlage zu stellen, müßte einen ganz anderen Realismus haben. Es bleibt abzuwarten, wie weit der Osten ihn aufbringt, und was dabei aus dem Menschen wird. (Fs)

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