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Autor: Guardini, Romano

Buch: Das Ende der Neuzeit

Titel: Das Ende der Neuzeit

Stichwort: Neuzeit - Person; Objektivierung, Dämonisierung der Macht; Kultur

Kurzinhalt: Mehr: die Entwicklung macht den Eindruck, als ob die Macht sich objektiviere; als ob sie im Grunde überhaupt nicht mehr vom Menschen innegehabt und gebraucht werde, sondern ... Viele ahnen, daß »Kultur« etwas anderes ist, als die Neuzeit gemeint hat: ...

Textausschnitt: 88a Den Menschen der neuzeitlichen Anschauung gibt es nicht. Immerfort macht sie den Versuch, ihn in Kategorien einzuschließen, in die er nicht gehört: mechanische, biologische, psychologische, soziologische - alles Variationen des Grundwillens, aus ihm ein Wesen zu machen, das »Natur« ist, und sei es Geistnatur. Nur eines sieht sie nicht, was er doch zuerst und unbedingt ist: endliche Person, die als solche existiert, auch wenn sie es nicht will, auch wenn sie ihr eigenes Wesen leugnet. Angerufen von Gott, in Begegnung mit den Dingen und mit den anderen Personen. Person, welche die herrliche und furchtbare Freiheit hat, die Welt bewahren oder zerstören, ja sich selbst behaupten und erfüllen, oder preisgeben und zugrunde richten zu können. Und letzteres nicht als notwendiges Element in einem überpersönlichen Prozeß, sondern als etwas wirklich Negatives, vermeidbar und zutiefst sinnlos. (Fs)

88b Wäre die Kultur, als was die Neuzeit sie gesehen hat, dann hätte sie den Menschen nie in einer solchen Weise verfehlen, ihn nie derart aus dem Blick und den Ordnungen verlieren können, wie sie es getan hat. Das gleiche zeigt sich an der immer größer und dringlicher werdenden Gefahr, die sich aus der Kultur selbst erhebt - sowohl für sie, wie auch für den Menschen, der sie trägt. (Fs)

89a Diese Gefahr kommt aus verschiedenen Quellen: besonders aber aus dem, was die Grundlage alles Kulturschaffens bildet, nämlich der Macht über das Seiende. Der neuzeitliche Mensch ist der Meinung, jede Zunahme an Macht sei einfachhin »Fortschritt«; Erhöhung von Sicherheit, Nutzen, Wohlfahrt, Lebenskraft, Wertsättigung. In Wahrheit ist die Macht etwas durchaus Mehrdeutiges; kann Gutes wirken wie Böses, aufbauen wie zerstören. Zu was sie tatsächlich wird, hängt davon ab, wie die Gesinnung ist, die sie regiert, und der Zweck, zu dem sie gebraucht wird. Bei genauer Prüfung zeigt sich aber, daß im Laufe der Neuzeit zwar die Macht über das Seiende, Dinge wie Menschen, in einem immer ungeheuerlicheren Maße ansteigt, der Ernst der Verantwortlichkeit aber, die Klarheit des Gewissens, die Kraft des Charakters mit diesem Anstieg durchaus nicht Schritt halten. Es zeigt sich, daß der moderne Mensch nicht zum richtigen Gebrauch der Macht erzogen wird; ja daß weithin sogar das Bewußtsein des Problems fehlt, oder sich doch auf gewisse äußere Gefahren beschränkt, wie sie im Kriege deutlich geworden sind und durch die Publizistik erörtert werden. (Fs)

89b Das bedeutet, daß die Möglichkeit, der Mensch werde die Macht falsch gebrauchen, beständig wächst. Da es ein wirkliches und wirksames Ethos des Machtgebrauchs noch nicht gibt, wird die Neigung immer größer, diesen Gebrauch als einen Naturvorgang anzusehen, für welchen keine Freiheitsnormen, sondern nur angebliche Notwendigkeiten des Nutzens und der Sicherheit bestehen. Mehr: die Entwicklung macht den Eindruck, als ob die Macht sich objektiviere; als ob sie im Grunde überhaupt nicht mehr vom Menschen innegehabt und gebraucht werde, sondern sich selbständig aus der Logik der wissenschaftlichen Fragestellungen, der technischen Probleme, der politischen Spannungen weiterentfalte und zur Aktion bestimme. (Fs) (notabene)

90a Ja, das bedeutet, daß die Macht sich dämonisiert. Das Wort ist zerredet und zerschrieben, wie alle für das Dasein des Menschen wichtigen Worte; so muß man sich, bevor man es braucht, auf seinen Ernst besinnen. Es gibt kein Seiendes, das herrenlos wäre. Sofern es Natur ist - das Wort im Sinn der nicht-personalen Schöpfung gemeint - gehört es Gott, dessen Wille sich in den Gesetzen ausdrückt, nach welchen diese Natur besteht. Sofern es im Freiheitsbereich des Menschen erscheint, muß es einem Menschen gehören und von ihm verantwortet werden. Geschieht das nicht, dann wird es nicht wieder zu »Natur« - fahrlässige Annahme, mit welcher, mehr oder weniger bewußt, die Neuzeit sich tröstet; es bleibt nicht einfach disponibel, auf Vorrat gleichsam, sondern etwas Anonymes ergreift von ihm Besitz. Drücken wir es psychologisch aus: es wird vom Unbewußtsein her regiert, und das ist etwas Chaotisches, in welchem die Möglichkeiten des Zerstörens mindestens ebenso stark sind wie die des Heilens und Aufbauens. Das ist aber noch nicht das Letzte. Von der Macht des Menschen, die nicht durch sein Gewissen verantwortet wird, ergreifen die Dämonen Besitz. Und mit dem Wort meinen wir kein Requisit der augenblicklichen Journalistik, sondern genau das, was die Offenbarung meint: geistige Wesen, die von Gott gut geschaffen sind, aber von Ihm abgefallen; die sich für das Böse entschieden haben und nun entschlossen sind, Seine Schöpfung zu verderben. Diese Dämonen sind es, welche dann die Macht des Menschen regieren: durch seine scheinbar natürlichen, in Wahrheit so widersprüchigen Instinkte; durch seine scheinbar folgerichtige, in Wahrheit so leicht beeinflußbare Logik; durch seine unter aller Gewalttätigkeit so hilflose Selbstsucht. Wenn man ohne rationalistische und naturalistische Vorentscheidungen das Geschehen der letzten Jahre betrachtet, dann, reden seine Art des Verhaltens und seine geistig-seelische Stimmung deutlich genug. (Fs) (notabene)

91a Das alles hat die Neuzeit vergessen, weil der Empörungsglaube des Autonomismus sie blind gemacht hat. Sie hat gemeint, der Mensch könne einfachhin Macht haben und in deren Gebrauch sicher sein - durch irgendwelche Logik der Dinge, die sich im Bereich seiner Freiheit ebenso zuverlässig benehmen müßten, wie in dem der Natur. So ist es aber nicht. Sobald eine Energie, ein Material, eine Struktur, was es auch sei, in den Bereich des Menschen gelangt, bekommt es darin einen neuen Charakter. Es ist nicht mehr einfach Natur, sondern wird zu einem Element der menschlichen Umwelt. Es gewinnt Anteil an der Freiheit, aber auch an der Ungeschütztheit des Menschen, und wird dadurch selbst vieldeutig, Träger von Möglichkeiten positiver wie negativer Art. Die gleiche chemische Substanz ist im Organismus etwas anderes als im Mineral, weil der Organismus sie in eine neue Struktur und Funktionsform aufnimmt. Es wäre nicht wissenschaftlich, sondern primitiv gedacht, wenn man sagte, Sauerstoff sei Sauerstoff. Abstrakt genommen ist es so, konkret aber nicht, denn zur konkreten Bestimmung des Sauerstoffs gehört der Zusammenhang, in dem er steht. Ein Organ ist im Körper des Tieres etwas anderes als im Körper des Menschen, denn da gelangt es in die Lebensformen des Geistes, seiner Affekte, seiner rationalen und ethischen Erlebnisse, und gewinnt so neue Möglichkeiten der Leistung wie der Zerstörung; wir brauchen nur zu vergleichen, was »dem Herzen« in einem Menschen mit dem, was ihm in einem Tier zugemutet wird. Das nicht zu sehen, wäre materialistische Primitivität. Die nämliche Primitivität kehrt im neuzeitlichen Optimismus wieder, der meint, »Kultur« sei etwas in sich Gesichertes. In Wahrheit bedeutet sie, daß die Naturwirklichkeiten in den Bereich der Freiheit treten und dort eine Potentialität neuer Art erhalten. An ihnen werden ganz neue Wirkungsmöglichkeiten freigesetzt - ebendadurch werden sie aber auch gefährdet und richten Unheil an, wenn sie nicht von Menschen in die nun geforderte Ordnung, nämlich die sittlich-personale, gebracht werden. Hätten sonst mitten in der europäischen Kultur Dinge geschehen können, wie sie in den letzten Jahrzehnten geschehen sind? All das Furchtbare ist doch nicht vom Himmel gefallen - sagen wir richtiger, aus der Hölle heraufgestiegen! All die unfaßlichen Systeme der Entehrung und Zerstörung sind doch nicht ersonnen worden, nachdem vorher alles in Ordnung war. Ungeheuerlichkeiten von solcher Bewußtheit gehen doch nicht nur auf Rechnung entarteter Einzelner, oder kleiner Gruppen, sondern kommen aus Verstörungen und Vergiftungen, die seit langem am Werk sind. Was sittliche Norm, Verantwortung, Ehre, Wachheit des Gewissens heißt, verschwindet nicht in solcher Weise aus einem Gesamtleben, wenn es nicht schon längst entwertet war. Das könnte aber nicht geschehen, wenn Kultur wäre, was die Neuzeit in ihr sieht. (Fs)

93a Sie tut, als ob der Weltstoff, sobald er in den Bereich der Freiheit kommt, ebenso gesichert bliebe wie in dem der Natur. Als ob eine Natur zweiten Grades entstünde, auf die man sich, wenn auch in komplizierterer und labilerer Weise, doch ebenso verlassen könne, wie auf die erste. Dadurch entsteht eine Fahrlässigkeit, ja eine Gewissenlosigkeit in der Handhabung des Seienden, welche dem Betrachtenden immer unbegreiflicher wird, je genauer er den Gang des Kulturgeschehens untersucht. Und daraus erhebt sich eine immer größer werdende Gefahr, materiell wie geistig, für den Menschen wie für sein Werk, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Diese Erkenntnis bricht sich allmählich Bahn - ob rasch genug, um ein die ganze Erde treffendes, weit über einen Krieg hinausgehendes Unheil aufzuhalten, ist eine andere Frage. Jedenfalls ist der bourgeoise Aberglaube an die innere Zuverlässigkeit des Fortschritts erschüttert. Viele ahnen, daß »Kultur« etwas anderes ist, als die Neuzeit gemeint hat: keine schöne Sicherheit, sondern ein Wagnis auf Leben und Tod, von dem niemand weiß, wie es ausgehen wird. (Fs)

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