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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Neuzeit: Wende zum Subjekt (Entrückung des Gegenstandes); Nominalismus, Pico della Mirandola, Kopernikus, .F. Bacon, Descartes, Menschen- und Bürgerrechte von 1789; via moderna -> Machbarkeitsdenken -> Nihilismus





Kurzinhalt: Mit der industriellen Revolution und der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jhs. gelangt die «via moderna» an ihr Ziel ... Das Subjekt der via moderna, das die ganze Welt zur Funktion seiner selbst, zu etwas Machbarem, erklärt hat, erfährt sich selbst ...

Textausschnitt: b) Die Entrückung des Gegenstandes

24a Vom Nominalismus führt ein direkter Weg zu jenen gewöhnlich als «typisch neuzeitlich» bezeichneten Denkansätzen, die den Menschen als autonom beschreiben, als «maître et possesseur» der Wirklichkeit. Die Übergänge sind fließend. Pico della Mirandola (1463-1494) betont zwar, daß der Mensch auf Grund seiner ihm von Gott geschenkten Freiheit das sein kann, was er sein will; aber er weiß zugleich, daß die geschöpfliche Freiheit sich selbst zerstört, wenn sie die Endlichkeit der Welt nicht transzendiert und sich also auf ihren Ursprung bezieht1. So differenziert man Pico della Mirandola und andere Autoren der Renaissance beurteilen muß, es liegt in deren Freiheitspathos doch eine Tendenz zur Autonomie des Subjekts. Der Weg zum Deismus und zur theoretischen und praktischen Konstituierung der Welt durch das denkende und handelnde Ich kündigt sich an. (Fs)

24b Nachdem Nikolaus Kopernikus 1543 sein Werk mit dem bezeichnenden Titel «De revolutionibus orbium coelestium» veröffentlicht hat, scheint endgültig bewiesen, daß die Ordnung des Universums nicht vorgegeben, sondern Aufgabe des Menschen ist. Der Mensch, der sein Weltbild (die Erde als Mittelpunkt einer kosmischen Ordnung) zerbrechen sieht, erklärt sich selbst zum Mittelpunkt der Ordnung. René Descartes (1596-1650) bezeichnet das allem Zweifel und Schwanken enthobene «ich denke, also bin ich» (cogito - ergo sum) zum unerschütterlichen Fundament, zum archimedischen Punkt, von dem aus das Ich in Selbstgewißheit, Selbstvertrauen und Freiheit die Welt vorstellend und beherrschend rekonstruieren kann. Descartes erklärt das Ich des Menschen als denkende Sache (res cogitans) und stellt dieser alle anderen Sachen (res extensa) als Material zur Selbstentfaltung gegenüber. Auch der eigene Körper gehört zu diesem Feld der verfügbaren Dinge. Denn, so Descartes wörtlich, soviel ist «gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann»2 - eine Position, die der biblischen Anthropologie diametral widerspricht. Das Jahrhundert Descartes' hat sich selbst zum «großen Jahrhundert» der Mathematisierung, Geometrisierung und Mechanisierung der Natur erklärt. Descartes hält das gesamte Universum für eine perfekte Maschine, die nach bestimmten Gesetzen abläuft - nach Gesetzen, die man nur konsequent anwenden muß, um das Ganze und jedes Detail innerhalb des Ganzen zu beherrschen. Indes: Descartes erklärt die Tatsache, daß der Mensch denkend über alles Endliche ausgreifen kann, also die Idee des Unbegrenzten, durch eine aller Reflexion vorausliegende Selbstmitteilung Gottes3. Das heißt: Bei ihm ist der absoluten Selbstherrlichkeit des Subjekts noch eine Schranke gesetzt. Diese fällt jedoch, wo die Gottbezogenheit von Mensch und Natur geleugnet wird, wo die Natur zum reinen Mittel des menschlichen Subjekts erklärt wird. (Fs)

26a In diesem Sinne hatte - schon vor Descartes - Francis Bacon (1561-1626) in England ein mechanistisches Weltbild propagiert. In dessen programmatischer Schrift «De dignitate et augmentis scientiarum» (1623) entspricht der Subjektwerdung des Menschen «die Verdinglichung der Welt, deren integrale Gestalt zerlegt, auseinandergeschnitten oder abgeblendet wird zugunsten von Konstrukten, deren sich der Mensch kraft seiner analysierenden und entwerfenden Vernunft bemächtigen kann»4. Bacon verkehrt die biblische Reihenfolge von Gen 1,26-28 «Gottebenbildlichkeit - Herrschaftsauftrag» in ihr Gegenteil. Bei ihm ist Gottebenbildlichkeit nicht mehr die Bedingung des dominium terrae, der rechten Herrschaft über die Erde, sondern: Aus eigener Kraft, nämlich durch die tätige Unterwerfung der Erde, muß der Mensch sich selbst zum Ebenbild Gottes machen. Anders gesagt: Das dominium terrae wird dem Menschen nicht anvertraut, sondern er muß es durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt erkämpfen. Eine Sache erkennen - so formuliert Thomas Hobbes (1588-1679) - bedeutet wissen, was man mit ihr machen kann, wenn man sie hat - «ein Denkansatz, der nicht nur eine sehr eingeschränkte Erfahrung der Wirklichkeit bedingt, sondern sich auch gegen die ethische Grundfrage, ob denn der Mensch auch machen darf, was er kann, von vornherein immunisiert»5. Dieser Verabsolutierung des Subjekts entspricht die Gleichsetzung der Freiheit mit Autonomie und Selbstbestimmung6, wie sie in Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zum Ausdruck kommt: «Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern; diese Grenzen kann allein das Gesetz festlegen.»7 So wird das Recht des Individuums nur durch die Interessen des anderen Individuums, nicht aber durch eine «an und für sich» bestehende Rechtsordnung begrenzt. (Fs) (notabene)

Mit der industriellen Revolution und der kapitalistischen Ökonomie des 19. Jhs. gelangt die «via moderna» an ihr Ziel. Das kann niemand so deutlich demonstrieren wie der schärfste Kritiker des Kapitalismus, nämlich Karl Marx. Indem Marx die Hegelsche Philosophie, wie er selbst sagt, vom Kopf auf die Füße stellt, sieht er den Menschen nicht durch den Besitz der Vernunft oder durch die Erfahrung von Schönheit oder gar durch die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse bestimmt, sondern durch die Fähigkeit zur zweckgerichteten Produktion. Für ihn sind Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst nur besondere Weisen der Produktion. Denn - so seine Begründung - weil das Bewußtsein und seine Inhalte keine eigenständige Wirklichkeit besitzen, weil sie nur der Überbau bestimmter Produktionsverhältnisse sind, ist jede Aussage über Wesen und Sinn der Versuch, bestimmte Verhältnisse theoretisch zu rechtfertigen. Marx bezeichnet die erst noch zu produzierende Welt der klassenlosen Gesellschaft als «wissenschaftlich» im Unterschied zur ideologisch (durch Metaphysik und Theologie) verbrämten Welt der herrschenden Klassen. Er, der den Menschen von der Entfremdung des ausbeuterischen Kapitalismus befreien wollte, erklärt den Menschen als Abbild der Produktionsverhältnisse und bleibt so bei all seiner Kritik an der Unterdrückung von Natur und Mensch durch eine Welt des Machen- und Habenwollens Gefangener einer Philosophie, die Wahrheit mit Machen gleichsetzt. Indem Marx in seiner berühmten zweiten These zu Feuerbach bemerkt: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.», ist er ein getreuer Sohn der skizzierten «via moderna». (Fs)

28a Wenn die Welt nur noch das Viele ist, das der Mensch ordnen und zu etwas Sinnvollem - und das heißt dann: für ihn selbst Zweckhaftem - machen muß, und wenn Gott apriori als nicht existent betrachtet wird, dann ist nichts mehr «an und für sich» sinnvoll, sondern nur noch relativ auf den einzelnen Menschen oder relativ auf eine Mehrzahl von Menschen, die sich, wie Wittgenstein mit seiner Sprachspieltheorie sagt, über etwas verständigen. Nichts (nihil -> Nihilismus), auch der Mensch nicht, ist an und für sich etwas, sondern er ist nur das, was er für andere zum Beispiel auf Grund seiner Funktionen oder Leistungen bedeutet. Funktionen und Leistungen aber sind immer austauschbar und ersetzbar. Wenn alles machbar ist, gibt es nichts Unbedingtes mehr. Das Machbarkeitsdenken mündet in den Nihilismus Nietzsches, und Nietzsche gilt zu Recht als Vater des postmodernen Relativismus. (Fs) (notabene)

29a Das Subjekt der via moderna, das die ganze Welt zur Funktion seiner selbst, zu etwas Machbarem, erklärt hat, erfährt sich selbst als machbare, als austauschbare Funktion. Und das auf sehr konkrete Weise: Der Mensch, der alles machen kann, wird selbst machbar im Reagenzglas des Gentechnikers und in den Experimenten von Psychologen und Soziologen1. Nicht nur in den Wohnsilos der Großstädte haben Menschen das Gefühl: «Ob es mich gibt oder nicht gibt, ist gleichgültig; nicht einmal der Nachbar kennt meinen Namen; und für die Gesellschaft bin ich eine Ziffer im Computer, ein Objekt der Karteien und Statistiken». (Fs) (notabene)

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Fußnote zu oben:
14 «Denn gerade indem das autonome, sich selbst bestimmende Subjekt, alles andere als obiectum für sich proklamiert und konstituiert, schlägt diese objektivierte Wirklichkeit auf das Subjekt zurück. Dies geschieht einmal dadurch, daß das Subjekt sich freiwillig darin gefällt, auch sich selbst zu objektivieren (Stichwort: Psychoanalyse, aber auch der neuzeitliche <Entschuldigungswahn>, alle moralische Verantwortung von sich weg <auf die anderen>, die Gesellschaft, <die Verhältnisse) etc. abzuschütteln). Zum andern aber geschieht dies dadurch, daß die universale Bemächtigungs- und Objektivierungstendenz auch vor dem Subjekt selbst nicht Halt macht. Das Subjekt muß es sich gleichsam gefallen lassen, vom andern objektiviert zu werden. So aber bringt die Tendenz zur total beherrschten Welt die Subjekthaftigkeit des Subjekts, also seine Freiheit, Autonomie und Einmaligkeit zum Verschwinden. Hier ist an jene Phänomene zu erinnern, auf welche die «Frankfurter Schule» unter dem Stichwort «Dialektik der Aufklärung» hingewiesen hat.» (Greshake [Teil A Anm. 10] 14f).
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30a Die Anonymität reicht bis zur anonymen Urnenbestattung. Und selbst in den Institutionen, die sich dem einzelnen zuwenden wollen, wird der Mensch immer häufiger zum Objekt einer perfekten Organisation, zum bloßen Fall einer Regel oder Ausnahme. Entwicklungstheoretiker brandmarken jede zweite Neugeburt als besser vermiedenen Beitrag zur Bevölkerungsexplosion. Hunderttausende von Kindern werden wie ein jederzeit ersetzbares «Eigenprodukt» ihrer Eltern abgetrieben. In aller Offenheit wird über Euthanasie diskutiert. Der einzelne wird nach seinem Nutzwert taxiert. Millionen erfahren ihre Ersetzbarkeit am Arbeitsplatz. Sie werden buchstäblich von Maschinen ersetzt. Und es fragt sich, wieviele von ihnen wissen, daß sie viel mehr und etwas ganz anderes als ihr Job und ihre Leistung sind. Das Tauschdenken geht bis zum Ersatz der echten Mutter durch eine bezahlte Leihmutter. (Fs)

30b Vor dem Hintergrund dieser Beispiele wird deutlich, warum eine Kirche, die von einem einzelnen Menschen, nämlich von Jesus, sagt, daß er nicht nur ein Sinn, nicht nur eine Wahrheit, nicht nur exemplum, sondern der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, dem Zeitgeist der zur Vollendung gelangten Moderne diametral widerspricht. Wo, so fragt der Münchener Psychoanalytiker Albert Görres1, ist in diesem Denken Platz für eine Kirche, die in jedem Menschen das Einmalige sieht: in Gerechten und Ungerechten, in Sympathen und Umsympathen, in Gescheiten und Dummen, in Helden und Feiglingen, in Großherzigen und Kleinlichen, auch in Neurotikern, Psychopathen, Sonderlingen, Heuchlern, in zwanghaften Legalisten, hysterisch Verwahrlosten, Infantilen, Süchtigen, Perversen, herzlosen Bürokraten und Fanatikern ebenso wie in der Minderheit von gesunden, ausgeglichenen, reifen, seelisch und geistig begabten, liebesfähigen Menschen. (Fs)

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