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Autor: Menke, Karl-Heinz

Buch: Die Einzigkeit Jesu Christ

Titel: Die Einzigkeit Jesu Christ

Stichwort: Neuzeit: Wende zum Subjekt (Entrückung Gottes); Nominalismus, devotio moderna; Thomas von Kempen (Imitatio Christi); Martin Luther - Ignatius (sentire ecclesiam)

Kurzinhalt: Luther verurteilt zwar die Werk- bzw. Macherfrömmigkeit der Devotio moderna, bleibt aber dem Gottesbild der Nominalisten treu. Und Ignatius spricht zwar von dem trinitarischen Gott, der herabsteigt, kann aber nicht verhindern, daß seine Exerzitien ...

Textausschnitt: a) Die Entrückung Gottes

17b Die sogenannte «via moderna» des abendländischen Denkens ist im Unterschied zur «via antiqua» der hochscholastischen und antiken Philosophie durch den Nominalismus bedingt. Am Anfang dieser Wende vom Mittelalter zur Neuzeit liegt die Aristotelesrezeption der hochscholastischen Philosophie und Theologie; näherhin der Versuch, alles Seiende aus seinen Ursachen zu erklären. Doch während Aristoteles Gott selbst als unbewegten Beweger und mithin als Ursache aller Ursachen (als Letztursache) wie den Schlußstein einer in sich geschlossenen Kathedrale definiert, insistieren die Scholastiker auf der biblisch bezeugten Freiheit bzw. Personalität Gottes. Gott ist für Thomas von Aquin nicht der Schlußstein des Weltgebäudes, sondern dessen Schöpfer. Der Schöpfer - so lehrt er - hat sich willentlich an die Ordnung gebunden, die er selbst erschaffen hat. Und er hat dem Menschen die Fähigkeit geschenkt, die Gedanken des Schöpfers «nach-zu-denken». Ja, das menschliche Erkennen alles Seienden ist nach Thomas von Aquin nichts anderes als das «Nach-Denken» der Gedanken des Schöpfers. Von daher gilt im Hochmittelalter nicht die Physik, nicht die Wissenschaft von der «physis» der Dinge, sondern die «Meta-Physik», die Wissenschaft von den Gedanken des Schöpfers, die «hinter der physis» der Dinge liegen, als die Königin aller Wissenschaften. (Fs)

18a Diese Harmonie zwischen Gott, Welt und Mensch mußte zerbrechen, sobald die Freiheit Gottes nicht mehr als Selbstbindung des Schöpfers an die Schöpfung und an den Adressaten aller Schöpfung, den Menschen, sondern als «ab-solute» (als «los-gelöste») Freiheit im Sinne unbedingter Allmacht verstanden wurde. Die nominalistischen Denker des ausgehenden Mittelalters verstehen Gott als absolut transzendente Freiheit. Und sie fragen: Kann es nicht sein, daß der Mensch seine eigenen Gedanken in die von ihm wahrgenommenen «Fakten» seiner Umwelt hineinliest, statt die Gedanken des Schöpfers aus ihnen herauszulesen? Für Wilhelm von Ockham steht apriori fest, daß der Schöpfer auf Grund seiner absoluten Freiheit auch eine ganz andere als die von uns wahrgenommene Schöpfung hätte schaffen können, daß man deshalb aus der Schöpfung keine Information über Gott entnehmen kann, daß alles, was wir von Gott zu wissen vorgeben, auf das zu beschränken ist, was er uns positiv über sich selbst mitgeteilt hat. Wenn der Reformator Martin Luther Gott nicht aus der Schöpfung, sondern ausschließlich aus der Schrift («sola scriptura») erkennen will, sagt er eigentlich nur, was er von seinen nominalistischen Lehrern gelernt hat. (Fs) (notabene)

19a Dem Nominalismus gilt als erkennnbar und damit als wahr nur das empirisch Gegebene, das Feld der vielen Einzeldinge. Die Namen, die nomina, durch die der Mensch viele einzelne Dinge unter jeweils einen Begriff zusammenfaßt, sind bloße Konvention und sagen über das Wesen der Dinge nichts und erst recht nichts über die Gedanken des Schöpfergottes. Die Welt erscheint nicht mehr als von Gott geordnet, sondern als ein Chaos von Einzelnem, in das der Mensch selbst durch seine nomina, durch seine Methoden, schließlich durch seine Techniken Ordnung bringen muß. So entspricht dem allmächtigen Willkürgott der Nominalisten der Mensch als «Macher». (Fs)

19b Diese Bezeichnung darf nicht im Sinne autonomer Willkür mißdeutet werden; der Mensch des 15. Jhs. weiß sich durchaus als Gegenüber Gottes. Aber Gott ist der ganz Andere, der uns durch Christus und die Hl. Schrift seinen Willen offenbart hat. Die mit dem Etikett «devotio moderna» versehene Frömmigkeit der beginnenden Neuzeit sieht im Erlöser vornehmlich eine an den Sünder gerichtete «Instruktion» Gottes. Wer Christus sieht, ist zum Tun (zum «Machen») aufgefordert. (Fs)

19c In dem berühmtesten Dokument der Devotio moderna, der fälschlicherweise Thomas von Kempen zugeschriebenen «Imitatio Christi», ist Jesus Christus nicht eigentlich der in diese Welt, in unsere Endlichkeit, in einen konkreten Menschen herabgestiegene Gott, sondern unübertroffenes Beispiel einer Askese, die diese Welt gering achtet und alles daransetzt, wie Jesus aus dieser Welt fort zum transzendenten Vater zu gehen. Da heißt es zum Beispiel1:

I-1,12: «Das ist höchste Weisheit: die Welt gering werten und sich an die himmlischen Bereiche halten.»
I-3,36: «Wahrhaft klug ist, wer <das Irdische Kehrricht gleich wertet>, um Christum zu gewinnen (Phil 3,8).»
I-7,1: «Eitel ist, wer seine Hoffnung auf Menschen oder Geschöpfe setzt.»
I-20,4: «Die großen Heiligen mieden möglichst den Umgang mit Menschen, sie zogen den stillen Dienst für Gott vor.»
I-25,1-2: «Sei wachsam und fleißig im Dienste Gottes. Denke oft: wozu bin ich hier? Warum habe ich die Welt verlassen? Sicher doch: um Gott allein zu leben und ein geistlicher Mensch zu werden!»
I-25,26: «Du mußt dich sehr schämen beim Blick auf das Leben Christi. Du willst dich ihm nicht ähnlicher formen, obschon du so lange im Leben Gottes stehst.»
I-25,51: «Du kommst so weit voran, als du dir Gewalt antust.»
II-1,24: «Christus wollte leiden und geschmäht werden, und du wagst dich zu beklagen?»
II-7,9: «Wenn du dich von jedem Geschöpf abzusetzen verstündest, müßte Jesus gern bei dir wohnen.»
11-12,29: «Das ganze Leben Jesu war Kreuz und Martyrium, und du suchst Freude und Frieden für dich?»
III-13,11: «Lerne deinen Willen brechen und dich jedem Gebot beugen.»
III-47,15: «Dich, Herr Jesus, gelüstete nicht nach heiteren Tagen in dieser Zeit, du freutest dich vielmehr, für Gott Drangsal zu dulden. Unter Menschen für nichts zu gelten, hieltest du für den größten Gewinn.»
III-56,16: «Herr Jesus, dein Weg war schmal und von der Welt verachtet, laß mich dir durch Verachtung der Welt folgen.»

21a Obwohl der vierte und letzte Teil der «Nachfolge Christi» von der sakramentalen Verbundenheit des Christen mit Christus in der Eucharistie handelt, dominiert auch dort der Imperativ. Der eucharistische Christus wird vor allem als Stärkung der eigenen Anstrengungen auf dem Weg aus dieser Welt fort in das Leben mit Gott hinein beschrieben. «Bringe dich» - so heißt es da - «mit voller Ergebung und reinem Willen zur Ehre des göttlichen Namens dar!»

Für die vom Nominalismus geprägte Frömmigkeit der Devotio moderna entscheidet sich das Christsein für jeden einzelnen an der Kampflinie «zwischen Diesseits und Jenseits, Sichtbarem und Unsichtbarem, Innen und Außen, Körper und Geist, Welt und Gott»1. Die Kirche ist innerhalb dieses Denkens nur eine von Menschen gemachte Institution, letztlich nur eine Methode, um das durch Jesus verkündete Wort zu tradieren und jedem Menschen den Erlöser als Beispiel des eigenen Tuns vor Augen zu führen. (Fs)
21b Welche Folgen diese weltflüchtige, heilsindividualistische, letztlich anti-inkarnatorische und deshalb auch unkirchliche Frömmigkeit hatte, läßt sich an den großen Gestalten des 16. Jhs. verifizieren, die sich als Kinder ihrer Zeit zu einer anderen Frömmigkeit durchgerungen haben: an Martin Luther ebenso wie an Ignatius von Loyola. (Fs)

22a «Wie finde ich einen gnädigen Gott?», fragt der junge Luther. Heilsangst treibt ihn ins Kloster. Und dort bedeutet ihm das tägliche Meßopfer nicht ein befreiendes Geschenk, sondern Aufforderung, sich selbst ebenso dem Vater zu opfern wie der gekreuzigte Jesus. «Es ist wahr», so bekennt er, «ich bin frommer Mönch gewesen und habe meinen Orden so streng gehalten, daß ich sagen darf: Ist je ein Mönch in den Himmel gekommen durch Möncherei, so wollt ich auch hineingekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen, die mich gekannt haben, bezeugen. Denn ich hätte mich, wenn es noch länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.» (WA 38,143). - Es dauert lange, bis Luther die Augen aufgehen, bis er beim Lesen des Römerbriefes erkennt, daß Christus nicht Beispiel, sondern Gnade ist, die wir nicht durch Werke verdienen, sondern «nur» glauben müssen. (Fs) (notabene)

22b Auch bei Ignatius, dem großen Protagonisten der Gegenreformation, finden wir zunächst die Frömmigkeit des Imperativs (des «Machens»). Nach seiner Entscheidung, nicht mehr Offizier seines Fürsten, sondern Soldat Jesu Christi sein zu wollen, zieht er nach Manresa und versucht durch Nachahmung des leidenden Jesus möglichst viele Verdienste aufzuhäufen - gemäß der lutherischen Frage: «Wie finde ich einen gnädigen Gott?». Er fastet, geißelt sich, schläft draußen auf einem Stein, versucht sich die härteste Askese aufzuerlegen und wird doch immer unglücklicher, ja denkt sogar an Selbstmord. Und dann erfährt Ignatius ähnlich wie der Reformator in seinem Wittenberger Turmerlebnis eine totale Wendung. Doch während Gott für Luther auch in der Erfahrung der ihn bedingungslos rechtfertigenden Gnade der ganz Andere bleibt, den ich nur im Sprung des Glaubens aus meiner Sünderhaut heraus erreiche, erfährt Ignatius Gott als den, der herbsteigt in diese Welt, der sich mitteilt, und zwar so, daß wir nicht nur seine Empfänger, sondern Subjekte seiner eigenen Selbstmitteilung sind. Ignatius weiß sich vom Vater dem Fleisch gewordenen, herabgestiegenen, fußwaschenden, eucharistischen Christus «zugesellt» und nennt deshalb seinen später gegründeten Orden die «Gesellschaft Jesu». So wird er zum großen Wiederentdecker der Kirche. Denn für ihn ist sie keine Anstalt zur Belehrung, keine bloße Institution, kein bloßes Instrument, sondern die Stelle, wo er den Christus fühlen kann, der sich mit jedem seiner sogennannten «geringsten» Brüder und Schwestern identifiziert hat. Das ignatiamsche «sentire ecclesiam» wird zu einem Motto der Gegenreformation. Ignatius möchte in seinem berühmten Exerzitienbüchlein allen Menschen zu derselben Erfahrung verhelfen, die ihm die Augen geöffnet hat für den Gott, der nicht äußerlich bleibt, sondern in die Armseligkeit des Sünders herabsteigt, ja sogar seiner bedürfen will. Ignatius will mit seinem Exerzitienbüchlein ausdrücken, daß jeder Mensch mit seinen Begabungen und Grenzen eine einmalige Berufung ist; daß Gott zu jedem einzelnen Menschen durch jedes Detail von Schöpfung und Geschichte spricht; und daß nichts im Leben so wichtig ist wie die Erkenntnis und Annahme dieser Berufung. (Fs) (notabene)

23a Wenn man den Nominalismus als den Beginn der «via moderna» bezeichnet, sind Luther und Ignatius «unmodern» - allerdings nur partiell. Denn Luther verurteilt zwar die Werk- bzw. Macherfrömmigkeit der Devotio moderna, bleibt aber dem Gottesbild der Nominalisten treu. Und Ignatius spricht zwar von dem trinitarischen Gott, der herabsteigt, kann aber nicht verhindern, daß seine Exerzitien weithin mißverstanden wurden - als Aufforderung zu einer die Natur kreuzigenden Askese oder zu «soldatischer Werk-Frömnugkeit». (Fs)

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