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Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort: Transzendentalien: Wahrheit (verum) 3; Thomas: ewige Wahrheiten - W. als Verhältnis (Beziehung); W. (Zukunft, Vergangenheit); Allgemeinbegriff (universalia)

Kurzinhalt: Die Wahrheit ist nichts Absolutes; sie ist ein 'Verhältnis', und zwar das Verhältnis des Seins zur Erkenntnis. Wenn es also keine Erkenntnis gibt, gibt es auch keine Wahrheit; wenn es kein Sein gibt, gibt es ebenfalls keine Wahrheit ...

Textausschnitt: 113 Wie dem auch sei, der letzte Grund der Lehre von den Ideen ist unangreifbar. Wer nicht völlig in den Agnostizismus verfallen will, muß zugeben, daß unsere Analysen der Wirklichkeit, so unzulänglich sie auch sein mögen, und selbst wenn man als ihre erste Quelle die Tat ansähe, in der Natur begründet sind; wenn sie das sind, so muß auf die eine oder andere Weise die natura naturans sie enthalten. Von hier bis zu den Ideen ist nur ein Schritt, vorausgesetzt, daß die natura naturans etwas anderes ist als eine blinde Macht, ein unbewußtes Streben oder ein Wille ohne Ziel. (61; Fs)

114 Diese Lehre von der Wahrheit wird noch deutlicher werden, wenn wir die Gottes- und die Erkenntnisfrage aufgreifen. Sie wird schon klarer, wenn wir sehn, wie Thomas [ausgehend von seinen Prinzipien] die berühmte Frage nach den 'ewigen Wahrheiten 'behandelt. Die Frage nach den ewigen Wahrheiten hat der augustinische Platonismus im Mittelalter mit einer solchen Leidenschaft gestellt, daß Thomas nicht gut an ihr vorübergehen konnte. 'Nichts ist ewiger als das Gesetz des Kreises', hatte Augustin gesagt; 'nichts ist ewiger, als daß zwei und drei gleich fünf ist16.' 'Man mag die wahren Dinge zerstören, die Wahrheit bleibt17', fügt Anselm hinzu. (61f; Fs)

115 Sagt man nicht mit Recht, daß die Allgemeinbegriffe außerhalb von Raum und Zeit stehn? Was ist nun allgemeiner als die Wahrheit? Die Wahrheit hat also weder Anfang noch Ende; was heute ist, von dem ist immer wahr gewesen, daß es sein werde, und es wird immer wahr sein, daß es gewesen ist, so daß, wenn man an nähme, die Wahrheit habe angefangen oder höre auf, immer noch dies gelten würde, daß es in der angenommenen Vergangenheit oder Zukunft keine Wahrheit gäbe, und das wäre ja selbst eine Wahrheit; so sehr ist es also wahr, daß die Wahrheit von allem unabhängig und daß sie ewig ist. 'Mag man sagen: die Wahrheit hat einen Anfang und ein Ende, mag man behaupten, sie hat sie nicht: kein Prinzip und kein Ende schließen sie ein18.' (62; Fs)

116 Diese dunkeln Gedanken hat der heilige Thomas mit einer vollendeten Klarheit aufgehellt. Die Wahrheit ist nichts Absolutes; sie ist ein 'Verhältnis', und zwar das Verhältnis des Seins zur Erkenntnis. Wenn es also keine Erkenntnis gibt, gibt es auch keine Wahrheit; wenn es kein Sein gibt, gibt es ebenfalls keine Wahrheit; (62; Fs) (notabene)


117 die Fiktion, die Wahrheit gehe sich selbst voran als eine Wahrheit, die einmal sein wird, oder sie überlebe sich selbst als eine Wahrheit, die einmal gewesen ist, ist nur eine leere Einbildung, wenn man nicht auf der einen Seite ein Wesen annimmt, das die Wahrheit erfassen kann, und auf der andern Seite ein Ding, in dem sie gründet. Das Ding, in dem die Wahrheit gründet, braucht freilich nicht 'wirklich' zu bestehn; denn auch die 'Möglichkeit' ist ein Sein; (62; Fs) (notabene)


118 eine Sache kann wahr sein in der Zukunft unter der Voraussetzung, daß sie in ihren Ursachen besteht, und so kann man tatsächlich, wenn eine ewige Ursache besteht, die Wahrheit der Dinge ewig nennen, insofern sie in der schöpferischen Macht und dem schöpferischen Willen begründet ist. Immer aber muß man zuerst das Dasein dieser Ursache aufzeigen; man kann es nicht umgekehrt aus dem Bestehn einer ewigen Wahrheit erschließen, ohne die Ordnung der Begriffe und der Tatsachen umzustoßen19. (62f; Fs)

119 Was aber zu halten ist von dem phantastischen Gedanken einer Wahrheit, die sich auf das Nichts stützt - ein Gedanke, den gewisse Beweisgänge voraussetzen und überdies so darstellen, als ob die Wahrheit aus sich heraus etwas Für-sich-Bestehendes wäre -, sieht man leicht ein. Wenn man auch die Verneinung des Seins ebensogut wie seine Bejahung setzen kann, so verhalten sich doch diese beiden Gegenstände des Denkens der Wahrheit gegenüber nicht in gleicher Weise, und zwar darum, weil sie sich nicht in gleicherweise der Erkenntnis gegenüber verhalten: eben in diesem Verhältnis des Gegenstandes zur Erkenntnis besteht ja die Wahrheit. (63; Fs)

120 Das Sein besteht in sich selbst, und es kann jegliches Ding begründet; das Nicht-Sein dagegen ist ein bloßer Begriff unseres Geistes, der in Wirklichkeit nichts begründen kann. Wenn man also sagt: Wenn die Wahrheit nicht ist, so ist es wahr, daß die Wahrheit nicht ist, so kann dies wohl dazu dienen, einen Skeptiker in Widerspruch mit sich selbst zu bringen, und ihm indirekt beweisen, daß das Leben des Geistes die Wahrheit in sich trägt; aber es kann nichts als notwendig und ewig ins Sein setzen, da eben diese behauptete Wahrheit in sich keinerlei Fundament hat20. (63; Fs) (notabene)


121 Ebenso ist die Wahrheit in ihrer psychologischen Wesenheit, die ihre eigentliche Wesenheit ist [das heißt: obwohl begründet in den Dingen, ist sie doch in der Erkenntnis], offensichtlich nicht ewiger als die Erkenntnis selbst. Setzen wir den unmöglichen Fall, es gäbe ein Sein, aber keinen Geist, es zu denken, so gäbe es keine Wahrheit, sondern nur etwas, in dem sie 'gründete' - für den Tag, an dem ein Geist existieren würde21. Nur eine leere Vorstellung unserer Einbildung, die uns in diesen hypothetischen Bereich versetzt, läßt uns hier noch sagen: diese Sache hier ist wahr. In diesem Fall würde das in Rede stehende Ding 'sein', vorausgesetzt, daß es wirklich ein Sein wäre, aber es wäre nicht 'wahr'. (63; Fs)

122 So unmöglich es auch erscheint, anzunehmen, daß etwas sei, ohne zugleich anzunehmen, daß es wahr sei, so darf man sich doch den Folgerungen dieses Gedankens nicht entziehn. Wenn man einmal annimmt, daß jeder denkende Geist fehle, so darf man ihn nicht heimlich wieder einschmuggeln. Was sich uns als Bedingung des Denkens aufzwingt, zwingt sich uns darum noch nicht als Gegenstand des Denkens auf, und wir können sehr wohl das Sein setzen, ohne zu gleicher Zeit das Wahre zu setzen22. (63f; Fs)

123 Die Wesenheiten sind Sein, und ihre Beziehungen untereinander sind Beziehung: das Ganze ist Wahrheit nur in Beziehung auf uns oder irgendeinen andern erkennenden Geist. Wenn wir also die einzigen Geister sind [und zwar nicht ewige], so gibt es keine ewige Wahrheit. Das 'Gesetz des Kreises' und alle andern wären dann als solche bloße Möglichkeiten, und die Allgemeinbegriffe, die tatsächlich nur in uns bestehn, wären ohne uns auf ihre negative Ewigkeit zurückgeführt. (64; Fs)

124 Diese Dinge, sagt man, 'abstrahieren von Raum und Zeit'; aber das will doch einfach besagen, daß wir sie davon abziehen; was aber würde aus dieser 'Abstraktion', wenn kein Geist sie mehr vollzöge23? (64; Fs)

125 Ebensowenig aber vermag auch die transzendentale Wahrheit, die in der Übereinstimmung eines jeden Dinges mit seinem Urbild besteht, noch zu sein, wenn der denkende Geist nicht mehr ist. Wenn es kein erstes Denken gibt, so gibt es kein erstes Maß und infolgedessen noch weniger ein abgeleitetes Maß, und unser Begriff der idealen Wahrheit der Dinge kann dann wohl noch nützlich sein, aber als Gesetz der Wesenheiten ist er ohne Wert. Es gibt in diesem Fall überhaupt keine Wahrheit mehr in dem von uns angenommenen Sinn; um so weniger gibt es eine ewige Wahrheit. (64; Fs)

126 Wenn dagegen ein ewiger Geist existiert, dann gibt es - durch ihn - in jedem Sinne des Wortes eine ewige Wahrheit. Das aber ist eben die erste Frage. Von der Existenz einer ewigen Wahrheit an sich ausgehn und von ihr aus Gott beweisen wollen, ist nur ein trügerisches Spiel. Wer es versucht, kann zwar ad hominem schließen; darüber hinaus aber vermag man ihm nicht zu folgen, denn seine Behauptung hat keinerlei unbedingte Geltung. (64; Fs)

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