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Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort: Transzendentalien: Wahrheit (verum) 2; Idee (Plato, Thomas); Gattung - Art (Wirklichkeit in Gott); Zwitterwesen; Akzidenz (dem Träger zukommend); Ideen - Vielheit; Intellektualismus; Wirklichkeit - Logos - Erkennbarkeit


Kurzinhalt: ... wenn sie auch ihrem Sein nach [secundum esse] mit der göttlichen Wesenheit zusammenfallen, so begründen sie doch nichtsdestoweniger gewisse rationes distitictae, die Gott in seiner Einfachheit umfaßt, ohne sie zu vermischen.

Textausschnitt: 79 Man sieht deutlich: dieser Wahrheitsbegriff führt die Lehre von den Ideen wieder ein, und er nähert uns dem Platonismus. In der Tat nimmt Thomas den Satz Augustins auf: 'Die Lehre von den Ideen ist von solcher Fruchtbarkeit, daß man, ohne sie zu begreifen, kein Weiser werden kann4.' (52f; Fs)
80 Wenn Aristoteles sie nicht entwickelt hat, so ist das aus einer Reaktion gegen offensichtliche Mißbräuche zu verstehn und daraus, daß die Ideen nach Plato schließlich etwas An-Sich-Seiendes darstellten, das heißt eine Art von Zwischenwelt, die eine unnütze Verdoppelung dieser Welt bedeutet5. (53; Fs)

81 Mit andern Worten: Plato, dem es durch seine dialektischen Analysen gelungen war, die allgemeinen Bedingungen der Existenz bloßzulegen, war über dieses Ziel hinausgeschritten und hatte die Bedingungen zu formalen Bestandteilen gemacht, als wenn die Welt nicht in sich selbst bestände, sondern aus ihnen gemacht wäre und in ihnen ihre eigentliche Wirklichkeit hätte. Gegen diese Verwirrung hatte Aristoteles sich mit aller Kraft erhoben; aber nach der Auffassung des Thomas hätte Aristoteles nichtsdestoweniger die Gründe aller Dinge [rationes omnium rerum]6 als in Gott bestehend angenommen und so die platonischen Forderungen erfüllt, die letzthin doch darauf hinzielen, die Wahrheit zu begründen. (53; Fs)

82 Wie dem auch sei, Thomas bejaht die Ideen und begründet ihre Notwendigkeit auf die folgende Weise. 'Unter Ideen versteht man die Form der Dinge, die außerhalb der Dinge selbst besteht. Nun kann eine solche Form in einem doppelten Sinn genommen werden, einmal als Vorbild und dann als Erkenntnisprinzip, das heißt, insofern man sagt, daß die Form des Erkannten in dem Erkennenden ist. In beider Hinsicht sind die Ideen notwendig. Denn bei allen Dingen, die nicht durch Zufall entstehn, muß die Form des Hervorgebrachten das Ziel der Tätigkeit des Hervorbringenden sein. (53; Fs)

83 Nun kann aber keiner in Hinsicht auf die Form tätig sein, wenn er diese nicht in irgendeiner Weise in sich trägt. Das aber kann auf eine zweifache Weise sein. Entweder kam man die Form des Erzeugten ihrem natürlichen Sein nach besitzen [secundum esse naturale], wie es bei allen materiellen Kräften der Fall ist, oder aber ihrem erkennbaren Sein nach [secundum esse intelligibile], wie es bei den geistigen Kräften der Fall ist [...] Wenn also die Welt nicht das Ergebnis des Zufalls ist, sondern wenn sie von Gott ausgeht und wenn Gott geistigerweise tätig ist, so muß man in dem göttlichen Geist eine Form annehmen, nach deren 'Bild' die Welt geschaffen ist; hierin aber besteht das Wesen der Idee7.' (53f; Fs)

84 Eine solche These scheint auf den ersten Blick einen gewissen Anthropomorphismus und dazu noch jenen 'Intellektualismus' einzuschließen, gegen den man sich heute so kräftig wehrt. Es liegt ein Intellektualismus darin, daß man die Rahmen, in die unser Geist das Wirkliche einschließt, um es zu begreifen, als wirklich, 'außerhalb der Dinge selbst' annimmt. Gattung und Art sind hier mehr als ein Schema, mehr als ein 'Moment' des Wirklichen, mehr als eine bloße 'Tatsache': sie sind ein ewiges und unerschütterliches 'Recht'. Man setzt sie keineswegs real auf seiten des Dinges: aber wenn man dem positivistischen Geiste dies auch einräumt, so hält man doch daran fest, daß sie im göttlichen Geiste wenigstens Bestand haben, daß sie dort ihre Bestimmtheit und auf eine gewisse Weise ihre 'Unterschiedenheit' haben, denn wenn sie auch ihrem Sein nach [secundum esse] mit der göttlichen Wesenheit zusammenfallen, so begründen sie doch nichtsdestoweniger gewisse rationes distitictae, die Gott in seiner Einfachheit umfaßt, ohne sie zu vermischen. (54; Fs)

85 Den Beweis dafür, daß man es so richtig versteht, findet man in den Zwitterwesen, die zu keiner Art oder besser zu zweien zu gehören scheinen, so daß man nicht zu sagen weiß, welcher Idee sie entsprechen. Ebenso unterscheidet man unter den individuellen Akzidenzien solche, die dem Träger immer zukommen und nicht von ihm getrennt werden können, und solche, die ihm infolge einer mit der Idee gar nicht zusammenhängenden Verbindung zukommen. Von den ersteren gibt es keine besondere Idee, sie vervollständigen nur die Idee des betreffenden Seins. Von den zweiten dagegen gibt es eine Idee, weil sie zu dem schon als wirklich gesetzten Träger hinzukommen, 'wie die Gemälde oder andere derartige Dinge zu dem in seinem Wesen schon bestehenden Haus hinzukommen'. (54; Fs)

86 Man sieht, wie sehr dieses Weltbild absticht von dem, das die meisten modernen Philosophen zeichnen. Das eine ist gezeichnet - wie von Michelangelo - in breiten, aber harten Zügen; das andere gleicht den Gemälden von Carriére, die kaum aus dem Nebel auftauchen, um gleich wieder darin zu verschwinden. (54f; Fs)

87 Es ist ganz offenbar, daß die thomistische Betrachtungsweise, wenn man sie wirklich im Sinne ihres Urhebers nimmt, von einem Vertrauen auf den menschlichen Geist zeugt, das die Mehrheit unserer Zeitgenossen übertrieben findet, und zwar weil sie unsere geistigen Schemata, anstatt sie höchstens bloß in der Natur 'begründet' zu sehn, ins Absolute erhebt und uns so auf eine gewisse Weise zum 'Maß der Dinge' macht. Man sagt zweifellos, daß wir es 'durch', Gott sind, aber heißt das nicht: zuerst Gott etwas leihen, was man ihm wieder nehmen will, und ihn so zu unserm Bild machen? Indessen, man täusche sich nicht; wenn man sich in die Sache vertieft, sieht man, wie korrekt diese Auffassung ist, wenn sie auch offensichtlich mißbraucht werden kann. (55; Fs)

88 Zunächst sind die Ideen Gottes identisch mit seiner Wesenheit; die Wirklichkeit, die ihnen zukommt, ist einzig und allein die von Verwirklichungsmöglichkeiten [von respectus], die nur unserm unzulänglichen Begriffsvermögen als real voneinander verschieden erscheinen. In sich selbst drücken sie die Erkenntnis aus, die Gott von den Dingen hat, die er schaffen will, insoweit diese Dinge in verschiedener Beziehung, zu der einzigen Wesenheit stehn, an der sie teilhaben und die im Grund ihre gemeinsame Idee ist. (55; Fs)

89 Nur insofern die Kreaturen gegenüber diesem ersten Urbild unzulänglich sind - unzulänglich eine jede auf ihre Weise -, werden sie durch diese zerstückelte Teilnahme vielfach und begründen dadurch gegenüber der schöpferischen Wesenheit ein verschiedenes Verhältnis, dessen alles übersteigende Erkenntnis in Gott, menschlich gesprochen, ihre Idee heißt. (55; Fs)

90 Die Vielheit liegt also hier einzig auf seiten der Kreaturen: sie ist in keiner Weise in der vorbildlichen Ursache, die - selbst als solche - in sich vollkommen eins bleibt, und zwar so sehr, daß der heilige Thomas sagen kann: Die transzendentale Wahrheit ist eine, und jedes Ding ist 'wahr' durch seine Beziehung zu dieser einen und einzigen ersten Wahrheit8. (55; Fs)

91 Ebensowenig findet sich die Vielheit im aktiven Erkennen Gottes, das mit seinem Sein identisch ist9. Wenn man daher in Gott mehrere Ideen annimmt, so will man nur sagen, daß die Vielheit, die sich in den Kreaturen findet, von Gott gewollt und darum als solche, erkannt ist, ohne daß es darum notwendig wäre, die Vielheit auf Gott selbst zu übertragen. Hier ist darum keine Spur von Anthropomorphismus. Gott bleibt bei Thomas wie bei Aristoteles 'das Denken des Denkens', er bleibt der, bei dem das Erkennbare und die aktuelle Erkenntnis wirklich zusammenfallen10. (55f; Fs)

92 Was nun den erwähnten Intellektualismus angeht, so muß man, wenn man ihn kritisieren will, sich hüten, ihn so naiv zu nehmen, daß er einfach nichts anderes als die Naivität seiner Kritiker beweist. Diese 'Form' der Dinge, von der wir behaupten, daß sie als Vorbild im schöpferischen Geiste besteht, ist in keiner Weise die logische Wesenheit, so wie sie unsere Definitionen ausdrücken, jene blutlosen Formeln, in denen das Wirkliche, reduziert auf ein Minimum an Substanz, nur scheinbar noch lebt. (56; Fs)

93 Es ist zunächst die Wesenheit, aufgefaßt als eine Idee der Natur mit ihren unendlichen Kräften, deren Reichtum die Erkenntnis herausfordert; es ist zweitens - und diesmal im eigentlichen Sinne - die reale, individuierte Wesenheit [propria ratio subjecti], in ihrer grundlegenden Einheit betrachtet; aber Einheit hier im transzendentalen Sinn genommen, insofern das Eine identisch ist mit dem Sein, nicht in einem abstrakten Sinn nach Art eines leeren Begriffs. Ein Intellektualismus in dem von den Kritikern angenommenen engen Sinne liegt also hier keineswegs vor. (56; Fs)

94 Der thomistische Intellektualismus ist etwas ganz anderes als eine 'Vergöttlichung' der abgezogenen Wesenheiten; er ist eine Vergöttlichung des Wirklichen, das heißt in dem Sinn, daß das Wirkliche, gerade insofern es göttlich ist, eine wesentliche Beziehung auf die Erkenntnis hat. Das Wirkliche, insoweit es wirklich ist, ist erkennbar, da es aus der höchsten Wirklichkeit, die das höchste Erkennbare ist [in prinicipio erat Verbum], hervorgeht. Der erkennende Geist aber, insofern er erkennender Geist ist, ist ebenfalls göttlich [signatum est super nos lumen vultus tui Domine]; er hat also ein Recht auf alle Wirklichkeit. Er kommt ihr gleich, und in dem höchsten Sinne dieser Worte sind der erkennende Geist als solcher und das Erkennbare als solches identisch. (56f; Fs)(notabene)

1.eg: siehe Kommentar: Identität von Seins- und Denkgesetz (Anm01-txt

95 Es steht außer Zweifel, daß diese hohe Auffassung mehr als einen bedeutenden Denker gegen sich hat. Ein Descartes, ein so großer Intellektualist er auch auf seine Art ist, würde ihr keineswegs zustimmen. Aber auch einige Väter der Kirche würden ihr widersprechen, da sie unter der göttlichen Ordnung sich etwas dachten, was die geistige Ordnung ebenso überragt, wie diese die Sinne und wie die Sinne die chemische Tätigkeit, oder - anders ausgedrückt - etwas, was wie ein vierdimensionaler Raum unserm Raum transzendent wäre und alle unsere sogenannten Axiome zu falschen Sätzen machen würde. Daher kommt es aber, daß Descartes behaupten kann, Gott könne einen quadratischen Kreis schaffen. Thomas leugnete das und, wenn er auch so klar wie nur irgendeiner die göttliche Transzendenz festhält11, so erklärt er sie doch in einem Sinne daß sein hoher Intellektualismus durchaus unversehrt bleibt. (57; Fs)

96 Für ihn ist die Ordnung des Geistes die göttliche Ordnung selbst, 'denn Gott ist Geist', und daraus folgt, daß das Erkennen die 'Fähigkeit des An-Sich' ist, daß etwas in dem Maß, in dem es Erkennen ist - es gibt da unendliche Abstufungen -, das Sein erreicht, und daß es keine sogenannte höhere Ordnung gibt, für die die Gesetze des Seins, so wie der Geist sie erkennt, keine Geltung hätten. (57; Fs;)(notabene)

97 Das ist der Intellektualismus des Thomas, dessen Charakter wir noch oft hervorheben werden. Sein transzendentaler Charakter zwingt dazu, ihn jeweilig dem Gegenstand, auf den er angewendet wird, besonders anzupassen. In seiner Fülle und Ganzheit kommt er nur in der Theologie zur Geltung. Anders dagegen ist es in der Psychologie, weil der Mensch den Geist nur auf eine unzulängliche und dunkle Weise, nur in einer schwachen Teilhabe besitzt. (57; Fs)

98 Daher kommt es, daß Thomas stärker als jeder andere das verurteilt, was wir den 'Intellektualismus des Abstrakten' nennen; denn wenn das Erkennbare das Wirkliche ist, so ist das Abstrakte nur ein Schatten, und wenn dieser Schatten des Wirklichen uns auch etwas von dem Wirklichen sagt, so vermag er uns doch nicht das Sein in die Hand zu geben. (57; Fs)(notabene)

99 In unsern Wesensbestimmungen durch Gattung und Artunterschiede versuchen wir das Wirkliche auszudrücken, und man glaubt wirklich, es teilweise in diese Rahmen einzuspannen. Aber zunächst weiß man, daß die 'Jagd' nach dem 'Begriff' [venare quod quid est] niemals völlig zum Ziel führt, und daß die Unterschiede, die das Wesen vollständig bezeichnen, oder besser gesagt: der Grundunterschied, aus dem alle andern hervorgehn, von uns meist nicht zu 'ergreifen' ist. Multae differentiae rerum sunt nobis ignotae, wiederholt Thomas oft12. (57f; Fs)

100 Er bemerkt nicht weniger häufig, daß wir bei dieser unserer Unkenntnis des Grundes der Dinge gezwungen sind, sie nach zufälligen Bestimmungen zu ordnen und zu benennen. Damit ist sehr deutlich ausgesprochen, daß unsere Erkenntnis-Schemata in seinen Augen nur einen relativen Wert haben. (58; Fs)

101 Selbst wenn übrigens der Unterschied bekannt wäre, so wäre er doch nicht völlig erkannt, und man glaube doch ja nicht, den Grund der Dinge zu besitzen. Es bildet sich doch niemand ein, der Begriff eines 'vernünftigen Wesens' drücke die ganze Wirklichkeit des Menschen aus, und ein Weltbildner könne, bewaffnet mit diesem Begriff und im Besitz einer entsprechenden Materie, das Haupt des 'denkenden Schilfrohrs' zum Himmel erheben. (58; Fs)
102 Mit Aristoteles macht Thomas gern hinter die Definitionen Punkte, um anzuzeigen, daß das Wirkliche darüber hinaus noch Unausgedrücktes und Unausdrückbares enthält. Animal rationale bipes [...]13. (58; Fs)

103 Erst recht wird man mit seiner Kritik vorsichtig sein müssen, wenn man bedenkt, daß die thomistischen Ideen [wie gesagt] in keiner Weise mit Gattung und Art zusammenfallen. Schon Plato nahm keine Ideen für die Gattungen an, da er in ihnen reine Abstrakta sah. Wenn er für die Arten Ideen annahm, oder besser gesagt, wenn er die Arten realisierte, so tat er es deshalb, weil das Einzelding für ihn nur ein 'Schatten' war, da die Materie in seiner Philosophie sich so verflüchtigte, daß sie mit dem Raum zusammenzufallen schien, so daß man für die Wissenschaft, um sie zu retten, einen anderen Gegenstand suchen mußte. (58; Fs)

104 Für Thomas hat die Frage ein ganz anderes Gesicht. Das Wirkliche ist für ihn das Einzelding; die Materie 'ist', und sie ist 'durch Gott'; die Arten aber 'sind' nicht: sie sind 'Rahmen', sicherlich haben diese Rahmen einen Wert, selbst für Gott, denn sie drücken in Wahrheit die großen Linien des Schöpfungsplanes aus; aber sie sind nicht - eigentlich gesprochen - die 'Idee' der Wesen. (58f; Fs)
105 Die Idee eines Dinges, insbesondere wenn sie schöpferisch sein soll, muß offensichtlich all das ausdrücken, was in dem Ding ist, insofern es ein bestimmtes Wesen ist; da aber das Sein immer ein Einzelding ist, nicht eine Art, so muß sein Wesensgrund, seine propria ratio, seine 'Idee' auch individuell sein, und - weit entfernt, ein leerer Rahmen zu sein - wird sie vielmehr alles enthalten, was notwendig ist, damit unter dem Hinzutreten des göttlichen Willens die Wirklichkeit sie aufnehme und trage.14 (59; Fs)

106 Man sieht, wie fern diese Auffassung dem banalen Konzeptualismus, dem Notionalismus steht, den man ihr so gern zuschreibt. Der Notionalismus ist die Philosophie Taines, in der die schöpferische Idee ein 'Axiom' ist und das ganze Sein aufgefaßt wird wie eine Zusammenschachtelung von ewigen Sätzen, gegenüber deren Masse unser Geist 'zusammenknickt', während er sie einzeln zu bewältigen vermag. Gegenüber einem derartigen Philosophen ist die Ironie Pascals berechtigt: 'Er hält mich für einen Satz.' Das Sein wird hier auf das Logische beschränkt. (59; Fs)

107 Thomas geht genau in der entgegengesetzten Richtung. Er setzt zuerst das Sein, und zwar als 'in sich erkennbar'; aber 'erkennbar' heißt nicht 'in Begriffen faßbar'. Die Erfassung in Begriffen ist nur eine unzulängliche Art der Erkenntnis, und zwischen beiden ist ein derartiger Unterschied, daß man strenggenommen sagen kann: je mehr ein Ding an Erkennbarkeit hat, um so weniger ist es in Begriffen zu erfassen. Der Beweis liegt darin, daß Gott, das höchste Erkennbare, überhaupt nicht mehr in Begriffen erfaßbar ist. (59; Fs) (notabene)

108 Das Sein also, das an sich erkennbar ist, ist in Begriffen nur für die unzulänglichen Geister erfaßbar, die in sein Geheimnis nicht einzudringen vermögen. Wir schweben über der Oberfläche des Seins; wir dringen nicht in es ein. Wir 'setzen zusammen' und 'teilen' mit unserm Verstand und versuchen in unsern 'Ur-teilen' uns Rechenschaft zu geben von dem, was ist. Aber das, was ist, ist - insoweit es in unsere Sätze eingeht und unsere Wissenschaften begründet - nicht das Sein selbst, sondern nur sein schwacher Abglanz. (59f; Fs)

109 Die reine Anschauung des Seins ist uns versagt; wir bilden 'Begriffe', aber wir 'begreifen' das Sein selber nicht. Man sage also nicht [so wird ein Thomist sprechen], unsere Philosophie opfere das Sein dem Begriff. Der Begriff ist in unsern Augen nicht mehr als ein Schatten. Die vollentfaltete geistige Erkenntnis geht über ihn hinaus und damit über alles, was auf ihm beruht: über Axiome, Prinzipien, Sätze und Gesetze. Das liegt daran, daß Raum und Zeit hier in etwas eingeführt werden, was an sich raum- und zeitlos ist. All das ist nur menschliche Redeweise und deshalb zum Teil dem Stoff verhaftet. Wenn wir also Intellektualisten sind, so sind wir es darum, weil wir an die wahre Intellektualität denken. Nur im Hinblick auf diese sagen wir: das Erkennbare und das Wirkliche fallen zusammen [ens et verum convertun tur]. (60; Fs)

110 Es bleibt noch zu sagen, daß die Wesensbestimmungen durch Gattung und Artunterschied und darum auch die Urteile und die Wissenschaft für die thomistische Philosophie einen Seinswert, und nicht - wie für gewisse moderne Systeme - einen bloß heuristischen und logischen, beziehungsweise praktischen Wert haben. Sie sagen eine allgemeine Wesenheit aus, die, indem sie eine echte Seite des Schöpfungsplanes darstellt, in dieser Beziehung die Wahrheitsnorm der Einzeldinge ist, ebenso wie der Wesensgrund jedes Einzeldings seine Wahrheitsnorm für seine weitere Entwicklung ist15. Wenn man das Intellektualismus nennen will, so ist die thomistische Philosophie intellektualistisch. Aber wer ihr daraus einen Vorwurf machen will, der muß zunächst die Berechtigung seiner gegenteiligen Anschauung beweisen: hic labor, hoc opus. (60; Fs)

111 Wenn man aber [von einem andern Gesichtspunkt aus] in der thomistischen Philosophie eine Neigung feststellen würde, die logische Rolle der Ideen zu übertreiben, das heißt den idealen, von der Wirklichkeit abgezogenen Rahmen einen größeren Wert zuzugestehen, als ihnen für die Definition der Wirklichkeit zukommt, so kann man die Berechtigung einer solchen Kritik ruhig zugeben. Das Gefühl für die Natur und ihre unerschöpflichen Reichtümer hat nur langsam und stufenweise den menschlichen Geist durchdrungen. Im Rausch einer Entdeckung ist man immer geneigt, ihre Bedeutung zu übersteigern. (60f; Fs)

112 Die Griechen und in ihrem Gefolge die mittelalterlichen Philosophen waren zu sehr mit der Logik beschäftigt und zu wenig mit der Erfahrung vertraut, als daß sie nicht bisweilen der ersten eine Stelle eingeräumt hätten, die eigentlich der zweiten zukommt. Man verstand sich auf die Prinzipien, und man mußte sich hier dem Zug der Zeit einfach überlassen. Das konnte man um so ruhiger tun, als der wesentlich theologisch gerichtete Geist alle auf das bewegte Sein bezüglichen Fragen in den Hintergrund rückte und der nach oben gerichtete Blick ganz von selber das menschliche Erkennen dem doch so ganz anders gearteten Erkennen der reinen Geister anzunähern strebte. Aus diesen und noch andern Gründen geschah es, daß gewisse Übertreibungen, gegen die sich die größten Geister nicht immer genügend wehrten, zu gewissen Zeiten bei den Schülern geradezu zur Regel wurden. Den Sinn für das Wirkliche und für seine Gehheimnisse immer mehr und besser zu entwickeln: das ist eine der Aufgaben des Thomismus von heute, wenn anders er die Versprechungen erfüllen will, die in seinem Namen von denen gemacht werden, die an seine Zukunft und Erneuerungskraft glauben. (61; Fs)

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