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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Gott und Schöpfung

Titel: Gott und Schöpfung

Stichwort: Wesenheit, Dasein, essentia, existentia; distinctio realis; Wesenheit existiert nicht aus sich selbst; actus purus, ens a se - ens ab alio; "Seinsnot"

Kurzinhalt: Thomas, .... daß auch er für die geschöpflichen Dinge gleich ihrer Zusammengesetztheit aus Potenz und Akt im selben Sinne, ja eben auf Grund dieses Verhältnisses, auch die ... aus Wesenheit und Existenz, Sosein und Dasein, angenommen hat.

Textausschnitt: LXXXb Die beiden Grundbedeutungen des metaphysischen Seinsbegriffes sind Wesenheit (Sosein) und Dasein - essentia und existentia. (Fs)

LXXXc Gebrauchen wir die Kopula "ist", etwa in dem Urteil "die Behauptung ist der Verneinung entgegengesetzt", so haben wir ein Sein der Gedachtheit, ein ens rationis. Dieser Art sind alle Begriffe, Urteile und Schlüsse, auch solche Begriffe, denen kein Ding entspricht, sondern sogar ein Mangel an Sein entsprechen kann, wie wenn ich sage "die Blindheit ist im Auge". So betrifft zwar das bloß im Verstande Seiende das dinghaft Seiende (es ist darum nur entis), aber es ist nicht so wie dieses ein Seiend (es ist nicht ens reale). (Fs)

LXXXIa Eine andere Bedeutung von Sein hat das "ist", wenn ich sage: die Sonne ist. Wiederum eine andere, wenn ich sage: Das Glühen der Sonne liegt in ihrem Sein begründet. - In diesen beiden Sätzen erscheinen die beiden Grundbedeutungen von Sein als ens reale. Ich rede im ersten vom tatsächlichen, dem Bewußtsein jenseitigen Dasein eines Dings, dem esse existentiae (sie ist am Himmel da und leuchtet). Ich rede im zweiten von dem, was die Befähigung zu Dasein und Wirklichkeit hat, von der Dingwesenheit oder Natur Sonne, dem esse essentiae. Es fällt nicht schwer, dieses Zweierlei von Sein, Essenz und Existenz, auseinanderzuhalten. Ist aber dieses an einem und demselben Ding Unterscheidbare - Wesenheit und Dasein - ein Zweierlei auch außer dem Verstande, der Sache nach?

LXXXIb Ist Grund zu einer distinctio realis? Die Frage scheint töricht oder doch müßig, als eine der berüchtigten Spitzfindigkeiten der Scholastik. Denn nie hat jemand Existenz ohne Etwasheit oder umgekehrt gesehen; immer ist die Wesenheit Rose in einer physisch existenten Rose da, und nur im Dasein dieses sinnfälligen Dinges verwirklicht sich die Wesenheit Rose. Nein, Wesenheit und Dasein sind nicht trennbar wie Ding von Ding. Dennoch können sie, wie scheidbar für den Verstand, auch sachlich, real, verschieden sein. Die Wesenheit ist ja nicht auch schon, gleichsam aus eigener Machtvollkommenheit, ihre Existenz, sondern hat sie und trägt sie. Daß beides im Tatsächlichen niemals auseinanderliegt, das besagt nicht, daß es auch dasselbe ist. Auch Materie und Form erscheinen nie getrennt, dennoch sind sie zwei verschiedene Realitäten im selben Ding; am Moses des Michelangelo ist etwas anderes die Kunstform, etwas anderes der Marmor, an dem sie gewirklicht ist. So kann, was faktisch nicht trennbar ist, dennoch sachlich etwas Verschiedenes sein. (Fs) (notabene)
LXXXIc Ob dies für Wesenheit und Dasein zutrifft, darum ging bereits in der Scholastik der Streit, und er dauert bis heute an. Was Thomas anlangt, so scheint kein Zweifel möglich, daß auch er für die geschöpflichen Dinge gleich ihrer Zusammengesetztheit aus Potenz und Akt im selben Sinne, ja eben auf Grund dieses Verhältnisses, auch die (innere, metaphysische) aus Wesenheit und Existenz, Sosein und Dasein, angenommen hat. Sie ist für ihn "im ganzen geschöpflichen Reiche die allgemeinste und tiefste, weil alles Materielle und Geistige umspannend und allein alles umfassend". (Manser.)

LXXXIIa Wesenheit und Dasein gehören zwei verschiedenen Ordnungen an: Wesenheit ist ewig und unveränderlich, Dasein bedingt und zeitlich; Wesenheit ist nicht durch ein anderes, wohl aber Dasein, wofür alles ursprüngliche Formsein und Formbleiben des Gezeugten und alles Daseingeben an die Form im Zeugen ein Beispiel ist. Kein tatsächliches Ding existiert schon kraft allein seiner Wesenheit, es ist nicht selbst Ursache seines Daseins als einer notwendigen Folge seiner Wesenheit, sondern hat das Dasein als empfangenes. Die Wesenheit ist es, die das Seien aufnimmt und trägt, und so verhält sich das Was des Dings zu seinem Hier-da-Sein wie die Potenz zum Akt. So verschieden die geschöpflichen Substanzen oder Wesenheiten auch sein mögen, vom Stein bis zum Engel, ihr Wassein bringt nicht von selbst auch ihre Existenz hervor. Die Ewigkeit und Notwendigkeit ihrer Idee, ihres Inhaltlichen, kommt nicht auch ihrem Existentsein zu. Das eben ist das Eigentümliche der Kreatur, daß sie nicht Wirklichkeit schlechthin (actus purus) ist, sondern aus Möglichkeit und Wirklichkeit gemischte, und daß sie nicht durch sich seiend (ens a se) ist, sondern seiend von anderm her (ens ab alio). Sie findet sich in einem Gespanntsein, einem Sein der Gezweiung. Indem das Geschöpf im Sein ist, ist es als Etwas, in Sosein da, dieses grenzende, engende Etwassein aber hindert es, schlechthin zu sein, nämlich alles zu sein, was ist und sein kann. (Diese wahre Seinsnot ist die Wurzel alles religiösen Strebens und Sichbindens an das nicht in Seinsnot befindliche Vollsein und Ganzsein und Alles-sein, der Grund aller natürlichen und nicht allein der mystischen Frömmigkeit.)

LXXXIIb Von dieser letzten Tragik alles Geschöpflichen, die aus allen Spaltungen des Seins uns angeweht hat, aus Akt und Potenz, Dasein und Wesenheit, Materie und Form, Ursache und Wirkung, erhebt Thomas durch das Ganze seines Riesenbaus, an dem kein Stein ist, der nicht der Stein eines Tempels wäre, sein Auge zu der reinen Wirklichkeit, die wir aus der unserigen nur wie aus dunklem Gleichnis erkennen. Vom Irdischen selbst, wie es ist oder doch sich uns gibt, wird ihm der Schluß auf Gott auferlegt. Er spricht von dieser alles überragenden Wirklichkeit, wie sie von uns her schlußweise gedacht werden muß, zugleich aber beugt er sich auf der Scheitelhöhe seiner Spekulation vor dem Mysterium der Gottheit, von der wir immer nur vergleichsweise reden können, und für deren Erkenntnis von uns aus das Höchste getan ist, wenn wir alles von ihr abgestreift haben, was auf Menschenweise im Stande unserer Wanderschaft saglich ist. "So ist es", sagt er, "daß wir von Ihm wissen, daß Er ist, obgleich Er uns unbekannt ist nach der Frage, was Er ist." Dem verhüllten Gott, der "latens Deitas", gilt auch sein schönster Hymnus, das eucharistische Adoro Te, das mit den Worten beginnt:

Ich bete an und beuge,
Gottheit, mich vor Dir:
Du der Tiefgeheime,
Bist in Zeichen hier.
All mein Wesen neigt sich,
Gibt sich ganz dahin,
Weil ich, Dich betrachtend,
Nichts als Armut bin

LXXXIIIa Nur ein Hinweis auf die Grundlagen des thomistischen Denkens sollte hier gegeben werden. Es schien uns erforderlich, um den mit der scholastischen Begriffswelt nicht Vertrauten die Begegnung mit Thomas zu erleichtern. Der erste Eindruck des Fremden und Labyrinthischen darf kein Hindernis sein, sich um die Breite und Tiefe eines Systems zu bemühen, das im Grunde schlicht und klar wie kein anderes eine Ordnung herstellt oder vielmehr aufdeckt, von der ein stiller, befreiender Zwang ausgeht, nach ihr uns selbst in Ordnung zu bringen.

LXXXIIIb Eine Einführung in den zweiten Band, für dessen Verständnis das hier Gesagte gleichfalls erforderlich ist, erörtert Thomas' Grundgedanken über das menschliche Sollen und die theoretischen Fundamente der auf Gott und seine Offenbarung verwiesenen Praxis des Lebens. (Fs)

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