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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Gott und Schöpfung

Titel: Gott und Schöpfung

Stichwort: Möglichkeit, Wirklichkeit, Potenz, Akt; P.: nicht Nichts, ein Sein im Möge-Sein; Form als Bindeglied von Erkennen und Sein; actus primin, secundus (Verstandesseele - Fühlen, Erkennen, Wollen); potentia active, passiva; Grundsätze: actus prior ...

Kurzinhalt: So ist alles Geschaffene in diesem Spannungsverhältnis zwischen seinem Woher und Woraufhin, der Potenz und dem Akt. Seine Wirklichkeit ist niemals rein, unbedingt und selbstherrlich, sie bleibt verbunden und untermischt mit möglichem Sein: sie ist ...

Textausschnitt: LXXVIIb Nach dem Gesagten beruht die Dinglichkeit auf der Bindung von Materie und Form, das Geschehen auf der Herausführung eines Anlagehaften zum Volldasein, dem esse actu. Der Formbegriff wird uns als ein Bindeglied von Erkennen und Sein in die Hand gegeben, sofern die Form dem Ding sein Wesen, dem Geiste die Erkenntnis der dinglichen Wesenheit gibt: Seinsform und Erkenntnisform entsprechen sich im Verhältnis der Abbildlichkeit (similitudo). In dieser Erklärung des physischen Kompositums lag bereits die Anwendung jener aufbaulichen Urheiten (principia constitutionis) vor, mit denen die aristotelische Scholastik sowohl den Kern des Seins als den Nerv des Geschehens am Ganzen der Welt zu verstehen sucht. (Fs)

a) Möglichkeit und Wirklichkeit

LXXVIIIa Wie einer Leuchte, die das Geheimnis des bewegten Seins, der Veränderung und Vielheit erhellen soll, bedient sich Thomas der Lehre von Akt und Potenz. Man hat in ihr, mit vollem Recht, die Wurzel der thomistischen Welterklärung oder schlechthin das Wesen des Thomismus gesehen1. Bereits in der Betrachtung des menschlichen Erkenntnislebens ist sie uns begegnet: als Erkennende sind wir zunächst und wesentlich im passiven Stande des Aufnehmens einer nicht von uns geschaffenen Welt der Erkennbarkeit, die wir in der hinzukommenden Tätigkeit unseres beleuchtenden und ergreifenden Verstandes erst in die volle Wirklichkeit überführen. So wie hier ist im ganzen Weltgeschehen ein Vorgang der Entwicklung von Seinsanlage zu Seinsvollendung zu bemerken. Der für das Denken nicht weiter auflösbare, aber schlechthin und ausnahmslos sich bietende Eindruck der Verwirklichung - dieser Begriff allein schon sagt genug - nötigt uns, den Gesamtbereich des uns umgebenden Seins, das Verwirklichte, Vollendete, Ausgestaltete, aus seiner Seinsfülle Tätige von einem Schoßgrund her zu verstehen, in welchem es dies alles so nicht gewesen ist, aus dem es aber dazu werden konnte. Wir müssen einen Bezirk des Vermöglichen denken, in dem das Tatsächliche oder Aktuelle in gewisser Weise auch schon ein Seiendes war, als zum vollen Seien Bestimmtes, gleichsam anstehend und in Empfangsbereitschaft der Gestaltung harrend. Also auch das Potenzielle ist nicht ein Nichts, sondern ein Sein im Mögestand, ein Möge-Sein. (Fs)

LXXVIIIb Nichts Werdendes und nichts Gewordenes verliert die Beziehung zum Bereich seiner Angelegtheit noch die Abhängigkeit seines Seinsmaßes von ihm. So ist alles Geschaffene in diesem Spannungsverhältnis zwischen seinem Woher und Woraufhin, der Potenz und dem Akt. Seine Wirklichkeit ist niemals rein, unbedingt und selbstherrlich, sie bleibt verbunden und untermischt mit möglichem Sein: sie ist actus impurus. Im Wesen dieser Spannung von etwas zu etwas liegt es auch, daß das Wirklichsein, obwohl es der Zeit nach auf das mögliche Sein folgt, an und für sich dem möglichen Sein vorangehen muß, sowohl dem Begriff als der Natur und dem Range nach. Das gebaute Haus, das dasteht, war im Plane des Erbauers wirklich, bevor es im Stofflichen den wesenhaften, geistigen Plan sinnfällig machte, und es war vornehmer im ursachenden Gedanken, weil die Ursache immer vorzüglicher, adeliger (potior, nobilior) ist als das Gewirkte, und weil sie, je größer die Sphäre ihrer Wirkungen und je zusammengeraffter in ihr die Fülle der Kräfte, die sie ausströmt, um so höher in der Ordnung des Ursächlichen steht. (Fs)

LXXIXa Der Akt, die Wirke oder Wirklichung ist doppelt. Er ist ein erstiger Akt (actus primus), nämlich die das Sein verleihende Wesungsform, und ein zweitiger, nämlich die Tätigkeit. Spricht man z. B. vom Baum als in actu primo, so ist die in ihm wirkende Form des Seiens gemeint, in welcher seine Tätigkeit, das Tätigsein auf ein Ziel-Ende hin, begründet ist. Vom Baum in actu secundo spricht man im Hinblick auf seine Tätigkeit, das Wachsen, Blühen und Fruchten. (Akt im gewöhnlichen Sprachgebrauch meint dieses aus dem konsumtiven Sein erfolgende Tätigsein, die operatio.) Danach ist beim Menschen der actus primus die Verstandseele, der actus secundus das Erkennen, Fühlen und Wollen. (Fs)

LXXIXb Entsprechend dieser Zweiheit von Akt ist auch die Potenz in doppeltem Sinne zu betrachten. Es gibt ein Vermögen, Wirkung in anderem hervorzubringen (die potentia activa, wie die Farbe den Sehsinn erregt), und ein Vermögen, die Wirkung von einem andern her aufzunehmen oder in Form einer Tätigkeit zu erleiden (die potentia passiva, wie die Erreglichkeit des Sehsinns durch die Farbe). Oder ein anderes Beispiel: alle Kräfte des Wachstums in einem Lebewesen sind aktive Vermöglichkeiten, weil durch sie die aufgenommene Nahrung in Lebenstätigkeit verwandelt wird, passive sind die der Empfindung, weil sie durch sinnfällige Dinge angesprochen und in ihre Wirklichung versetzt werden. (Fs)

LXXIXc Man versteht nun einschlägige Grundsätze und Einteilungen bei Thomas wie diese:
Das Seiende wird unterschieden nach Möglichsein und Wirklichsein (ens dividitur per potentiam et actum). Der Akt, das In-Wirke-sein, ist der Entstehung und Zeit nach später als das In-der-Möglichkeit-sein. (So ist die Farbe in actu, d. h. wirklich-sichtbare Farbe, erst infolge der Wirksamkeit des Lichtes.) Aber logisch, der Erkenntnis nach, und ursächlich, dem Sein in der Natur nach, ist die Wirklichkeit früher als die Möglichkeit (actus prior est potentia). Die Möglichkeit der Farbe, zu scheinen, bedarf eines andern, das schon in der Wirklichkeit ist, des Lichtes. (Fs)

LXXXa Darum gilt auch: ein bloß Mögliches kann sich nicht aus sich selber wirklichen, es muß durch ein anderes, schon Wirkliches, gewirklicht werden (omne, quod est in potentia, reducitur ad actum per id, quod est actu ens). Hier ist zu bemerken, daß in der Erfassung des Seins nach Akt und Potenz das Kausalitätsprinzip begründet ist, das von Thomas in seiner ganzen Strenge festgehalten wird. Es lautet: keine Wirkung ist ohne Ursache; was immer geschieht, hat seine Ursache. Ihm verwandt sind die Sätze: Aus nichts wird nichts; die Wirkung ist immer in gemäßem Verhältnis zu ihrer Ursache und so die Ursache zu ihrer Wirkung; nichts ist in der Wirkung, was nicht eher irgendwie in der Ursache gewesen ist, sei es formell, nach seinem eigentümlichen Begriff (wie das erzeugte Lebewesen im erzeugenden), sei es virtuell, der hervorbringenden Kraft nach (wie das Kunstwerk im Künstler), sei es eminenterweise, einer höheren, überragenden Vollkommenheit nach (wie die Vollkommenheit eines Geschaffenen auf höhere Weise in der Vollkommenheit des Erschaffenden ist); endlich, die Ursache einer andern Ursache ist selbst auch die Ursache des von dieser andern Verursachten, also was ein anderes dazu bestimmt, eine Wirkung hervorzubringen, ist selber auch Ursache dieser Wirkung. - Man wird immer und überall bei Thomas, offen oder verborgen, der als Akt und Potenz erfaßten Struktur des Seins und Werdens begegnen, und wer sich nicht gleich ihm mit dieser Grundsicht in alles Geschöpfliche erfüllt hat, wird weder sein gleichermaßen statisches wie dynamisches Weltbild noch seine begriffliche Schauung der Wirklichkeit Gottes und der Ubernatur verstehen. (Fs)

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