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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Gott und Schöpfung

Titel: Gott und Schöpfung

Stichwort: Seinsprinzipien: Materie und Form, Wirkursache und Zweckursache; actus primus, secundus; principium individuationis (tragische Rolle der Form); Ursachen (materia, forma, agens, finis, exemplaris); forma dat esse


Kurzinhalt: Die ganze physische Wirklichkeit stellt sich für Aristoteles-Thomas als ein System von Formen, von qualitativ differenzierenden und dynamisch den Weltprozeß aktivierenden Prinzipien dar. Eine uranfänglich schlummernde, gestaltlose Seinsmöglichkeit, ...

Textausschnitt: LXXIVa Wir wenden uns zwei Begriffspaaren zu, mit denen Aristoteles, in seiner Gefolgschaft Thomas, das in den bewegten Weltprozeß verstrickte physische Naturding nach seinem Aufbau zu verstehen suchte. Es sind dies Materie und Form, Wirkursache und Zweckursache. (Fs)

LXXIVb Um nicht von Anfang fehlzugehen, muß man Vorstellungen und Definitionen der Materie aus der populären Naturanschauung zunächst beiseite lassen. Worum es sich handelt, ist die Erfassung von zweierlei in jedem wirklichen Ding und jedem Vorgang von Wirklichung. Der Stoff einer Geige ist das Holz, aus dem sie gemacht ist; ihre Form oder Entelechie, also dasjenige, worauf es mit diesem Stofflichen hinauskommen soll, ist seine musikalische Verwendbarkeit. Spiele ich auf ihr, so wirklicht sich in den Tönen die Form dieses Stoffes. Diese Töne aber sind auch ihrerseits wieder Wesungsstoff, nämlich für die Melodie, die in ihnen, an diesem Woran der aufeinanderfolgenden Töne, als Form wirkt und sich wirklicht. Wiederum ist die Melodie der Wesungsstoff, an dem eine seelische Form des Spielers sich wirklichen kann, sei es Jubel, Klage oder Erbauung. Materie ist also alles, was im Werdeprozeß Grundlage ist, Form aber die das Neue aktualisierende Kraft. Wenn ich in meinem Denken auf einen ersten Ansatz oder Träger aller Gestaltung zurückgehe, so treffe ich ein Sein von schwächster Art (ens debile), eine reine Möglichkeit, ein Passivum ohne irgendwelche eigene Wirksamkeit. Das ist die materia prima, etwas Unbestimmtes, Bestimmung und Wirkung nur Aufnehmendes, das nie für sich allein da ist, sondern Sein und Dasein nur in einem bestimmten Seienden, in artikulierter Wirklichkeit und durch eine solche hat. Dieses bestimmende Element ist die Form. Sie ist der actus, das wirksame Gestaltende, sie bringt die Materie zum Sein (forma dat esse) und gibt ihr ein Gesicht. Dieses Wirken der Form am Woran Materie und dieses Versehenwerden der Materie mit Seinsbestimmtheit begründet oder konstituiert das Naturding und macht seine erstige Wirklichkeit (actus primus) aus. Nun erst kann von ihm als einem Seienden und Wesensein (esse substantiale) gesprochen werden. Aber die Form begründet zugleich auch die Wirkungsweise des Dings, denn es ist sein Wesensein, woraus ihm seine Tätigkeit erfolgt (agere sequitur esse), und eben dieses tätige, nach der wesentlichen Konstitution sich richtende In-Form-Sein ist seine zweitige Wirklichkeit (actus secundus). (Fs)

LXXVa Nun ist die Form nicht ein irgendwo selbständig, in physischer Dinghaftigkeit wesendes Sein. Sie hat die Natur der Idee, der Gestaltlichkeit, und steckt in den Möglichkeiten der Materie, wie nach Michelangelos Wort die schönsten Bildwerke im rohen Marmor enthalten sind. Die Materie ist in Hinordnung und Bereitschaft auf zahllose Formen, und dem Vermögen nach bestehen alle in ihr voraus. Aber nur eine einzige wird die Herrschaft über sie gewinnen und ganzheitlich sie durchwalten. Man könnte nach Thomas ohne diese Einzigkeit der substantialen Form nicht vom Ding als einer Einheit sprechen; eine Mehrheit solcher Formen in Einem und demselben annehmen, hieße die Einheit der Dingnatur zerstören. Er hält an dieser Auffassung mit aller Strenge fest, sowohl für die anorganischen Körper als für die Pflanzen und Tiere und besonders auch den Menschen. Bilden sich etwa im Bereich des Chemischen Gestaltungen, so vollzieht sich hier nach einer bestimmten Ordnung von Anziehung und Abstoßung das Aufkommen einer neuen Wesenheit immer unter der Herrschaft eines neuen Einheitsprinzips, eben der besonderen Wirklichkeitsidee, die wir Form nennen. Mögen die Stoffe, die sich verbinden, auch in virtueller Vielheit verbleiben, es ist doch eine reale Einheit das Ergebnis. Wasser zum Beispiel ist eine Form und als solche etwas anderes als die Elemente Wasserstoff und Sauerstoff, von denen ich weder das eine noch das andere für sich Wasser nennen kann; beide sind vor ihrem Zusammentreten substantiale Formen, aber nach der Einigung im Verhältnis von H2O sind sie nicht mehr diese eigenständigen Wirklichkeiten, sondern die neue wirkliche Form ist die eine Form Wasser. So ist auch das vollkommenste aller Mischwesen, der menschliche Körper, mit all den Substanzen, die sich in ihm einander verbinden, erfaßt, durchherrscht und in ein höheres Sein gehoben durch die Form, die wir Verstandseele nennen. (Fs)

LXXVb Materie und Form sind also die Wesenselemente des in Werden und Vergehen befindlichen natürlichen Dings. Ist aber die Materie, nämlich als die gemeinsame Urunterlage alles Stofflichen, nur die immer und überall gleiche, unterschiedslose Bühne für das Auftauchen und Verschwinden der Formen oder Entelechien? Wir finden doch auf Schritt und Tritt an Dingen von der nämlichen Wesenheit und Art zahlenmäßige Unterschiede und individuelle Abweichung des einen vom andern. Woher die besondere Prägung am Einzelseienden? Woran liegt es, daß eine und dieselbe Wesenheit in Sonderexistenzen auseinandersplittert, die zwar in der Wesungsform übereinkommen, so daß sie eine artliche Einheit bilden - wie die Hunde in der Spezies Hund -, die aber im einzelnen den Typus auf ihre vereinzelte, einmalige und unmittelbare Weise variieren? Offenkundig sind Wesenheit und Individualsein in den Naturdingen nicht dasselbe. Fragen wir nach dem Warum, so deutet Thomas auf den Träger der Form, die Materie, aber nicht als materia prima, sondern als diese bestimmte sinnliche, der Quantität fähige, zur Aufnahme von Form verschiedentlich bereits zugerüstete oder zu Form hin proportionierte, nämlich die materia (sensibilis) signata. Sie ist der Grund dafür, daß die Träger derselben Wesenheit zählbar sind und zum Beispiel die menschliche Natur nach den Maßgaben der aufnehmenden Leiblichkeit je ihre besonderliche Prägung empfängt. Die Seelen individuieren sich je nach den Körpern (secundum corpora), die zu ihrer Aufnahme beordnet sind, wie sie selbst zum Eingehen in diese sobestimmte Materie. (Fs)

LXXVIa Unter zwei Begriffen also erfaßt die aristotelisch-scholastische Anschauung das Sein und Werden in der Natur. Immer wird nach dem Schema dieses "Hylemorphismus" von einem Passiven ein Aktives aufgenommen, überall ist ein Tragendes, womit ein Getragenes in sein Vollsein sich wirklicht. Das Herrschende im Aufbau des Seins ist das Element der Form, aber es braucht, woran es herrscht, und diese Unterlage ist als principium individuationis nicht ohne den Charakter eines gewissen Rückherrschens in die Wirklichung der Form (weshalb man auch von ihrer tragischen Rolle gesprochen hat): Materie ist um der Form willen da, hinwieder ist die Form als immer nur an bestimmter Materie individuell gewirklichte in gewisser Hinsicht auch leidentlich im Spiel. Die ganze physische Wirklichkeit stellt sich für Aristoteles-Thomas als ein System von Formen, von qualitativ differenzierenden und dynamisch den Weltprozeß aktivierenden Prinzipien dar. Eine uranfänglich schlummernde, gestaltlose Seinsmöglichkeit, die materia prima, ist der Grund dafür, daß es gezeichnete Materie wie Fleisch und Knochen geben kann, Fleisch und Knochen in bestimmter Zumessung sind die Materie meiner Hand, diese Hand hat zur bestimmenden Form das Greifen, das Greifen empfängt je und je seine Form vom erstrebten Ding, dieses Streben wird informiert von meinem Willen, mein Wille vom Verstand. (Fs)
(notabene)

LXXVIIa Die Anschauung der Dinge, des Seins und des Werdens, nach Materie und Form enthält in sich bereits den Grundriß zu einer bestimmten Ausgestaltung der Idee der Ursächlichkeit. Es ist Materie, es ist Form, es ist Bewegung von der Form her, und es ist Richtung auf sie hin. Jede Ursache ist eine von diesen vieren: materia, die den Stoff zu einem Ding hergebende Ursache; forma, die gestaltlich wirksame, die Dingwesenheit begründende Ursache; agens, die als Anstoß etwas anderem Dasein verleihende Ursache; finis, der zweckliche Ziel- und Ruhepunkt, das Wozu und Woraufhin der Tätigkeit. Die Material- und Formalursache gehören als dem Ding inneseiende (causae intrinsecae) der Ordnung des Seins an, die Wirk- und Zweckursache als dem Ding außenseiende (causae extrinsecae) der Ordnung des Werdens. Zu diesen vier aristotelischen Ursachen kommt für Thomas noch ab fünfte die aus der platonischen Denkwelt stammende vorbildliche Ursache (causa exemplaris), nämlich die im Geiste der vernünftigen Wirkursache existierende Idee, der gedankliche Entwurf oder Typus, nach dem eine schöpferische oder künstlerische Tätigkeit sich vollzieht. (Fs)

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