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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Gott und Schöpfung

Titel: Gott und Schöpfung

Stichwort: Sein - Denken; Vernunft, Erkenntnis (Seinserfassung), Zeugung; Seele, Geistseele: quodammodo omnia fieri; kein Widerspruch: reductio in prima principia innata - r. in sensibilia; species intelligibilis - medium quo; universale post (ante) rem ...




Kurzinhalt: Erkenntnis innerhalb des Ganzen der natürlichen Seinsordnung kommt für Thomas durch einen zwischen Ding und Verstand sich abspielenden Vorgang zustande; sie ist eine Zeugung von zwei Seiten her.

Textausschnitt: LXa Die Weltwirklichkeit bietet sich uns in einer dreifachen Ordnung dar. Die erste ist die von uns vorgefundene der Naturordnung; die zweite die an der ersten durch unser Denken zustandekommende des Gedachtseins; die dritte die vom vernünftig handelnden Willen zu leistende des Seinsollens. Wir wissen um etwas außer uns, um uns selbst und um die Beziehung zwischen beiden. Der Welt des Seienden gehört jegliches an, und jene dreiheitliche Feststellung, die wir machen und notwendig machen müssen, ist bereits auch die Feststellung, daß das Seiende in irgendeiner Weise sich zu sich selbst verhält: indem es sich in sich begegnet, sich berührt, ergreift und durchdringt (per-ambulat). Genauer gesagt, wir finden uns in der Erfahrung: das Sein bietet sich uns dar als zugleich ein Sein der Verstehung und der Verstehbarkeit. Es ist ein Zustand oder Vorgang des Innewerdens seiner selbst. Was hiermit gemeint ist, wird näherhin aus einer berühmten Stelle bei Thomas (in der Philosophischen Summe IV 11) deutlich. Sie lautet:

"In den Dingen wird nach der Verschiedenheit ihrer Natur eine verschiedene Weise ihrer Ausströmung (emanatio) gefunden, so zwar daß, je höher im Range eine Natur (oder Wesenheit) ist, das, was ihr ausströmt, auch um so inwendiger ist." (Fs)

Unter allen Dingen halten nun die unbeseelten Körper die unterste Stelle. Bei ihnen kann es Ausströmungen nicht anders geben als durch die Wirktätigkeit eines Körpers auf einen andern hinüber: so wenn aus Feuer wieder Feuer erzeugt wird, indem von Feuer ein außenstehender Körper in Mitleidenschaft gezogen und in die Beschaffenheit und Art von Feuer überführt wird. (Fs)

LXIa Nach den unbeseelten Körpern halten die nächste Stelle die Pflanzen. Bei ihnen geht die Ausströmung bereits aus dem Innern hervor, insofern nämlich der innewohnende Saft der Pflanze zu Samen umgebildet wird und dieser Samen, wenn er der Erde anvertraut worden, wächst und wieder Pflanze wird. So findet sich hier schon der erste Grad von Leben: denn Lebewesen sind solche, die sich selbst zur Tätigkeit bewegen, während alles, was (bekommene Bewegung weitergebend) nur draußen ein anderes bewegen kann, völlig des Lebens ermangelt. Bei den Pflanzen aber ist dieses Kennzeichen des Lebens, daß das, was in ihnen ist, irgendeine Form bewegt. Dennoch ist das Leben der Pflanzen noch unvollkommen, weil ihre Ausströmung, obzwar sie von innen hervorgeht, allmählich doch aus dem Innern heraustritt, und das Ausströmende schließlich als etwas völlig Draußenseiendes befunden wird. Denn der Saft des Baumes, der anfänglich in ihm aufsteigt, wird Blüte, wird endlich Frucht, die vom Stamme gesondert, aber ihm noch verbunden ist; ist aber die Frucht vollendet, so trennt sie sich ganz vom Baume, fällt zur Erde und bringt durch Samenkraft eine andere Pflanze hervor. Ja, betrachtet man's genau, so ist auch das Urhebliche (principium) dieser ganzen Ausströmung im Außen anzusetzen: denn der Saft im Innern des Baumes wird durch die Wurzeln von der Erde hergeholt, aus der die Pflanze ihre Nahrung saugt.

LXIb Über das Pflanzenleben hinaus treffen wir einen höheren Grad von Leben an, nämlich das der Sinnenseele. Ihre eigentümliche Ausströmung nimmt zwar ihren Anfang von etwas draußen, aber sie kommt doch im Inneren zum Abschluß, und je weiter sie fortschreitet, um so weiter ins Innere gelangt sie: denn das Sinnfällige draußen führt seine Form den äußeren Sinnen zu, und von diesen dringt sie in die Vorstellungskraft und weiter in die Schatzkammer des Gedächtnisses. Dennoch gehören bei jedem Verlauf dieser Ausströmung Ausgang und Ende zu Verschiedenem: denn kein Sinnesvermögen sinnt auf sich selbst zurück (in seipsam reflectitur, so wie der Verstand). Also steht dieser Grad von Leben über dem Pflanzenleben um so höher, je mehr hier die Lebenstätigkeit im Inneren gesammelt bleibt. Aber doch ist es noch nicht vollkommenes Leben, weil die Ausströmung immer im Übergang von einem auf anderes geschieht.

LXIc Nun ist der höchste und vollkommene Grad von Leben der im Verstande: denn der Verstand sinnt auf sich selbst zurück und kann sich selbst verstehen. Aber auch im verstandlichen Leben findet man verschiedene Grade vor. Denn der menschliche Verstand kann sich zwar selbst erkennen, aber den ersten Anfang seiner Erkenntnis nimmt er von draußen, weil es Verstehung nicht ohne Vorstellungsbild gibt. Vollkommener also ist das verstehende Leben in den Engeln, bei denen der Verstand nicht von etwas draußen zur Erkennung seiner selbst fortschreitet, sondern über sich selbst hin (durch die eigene Wesenheit) sich erfaßt. Und selbst der Engel Leben gelangt noch nicht zur höchsten Vollkommenheit; denn obgleich das mit dem Verstand erschaute Wesensbild ihnen ganz innerlich ist, so ist dieses Wesensbild doch nicht ihre Wesenheit, weil in ihnen nicht das nämliche ist Denken und Sein (intelligere et esse). Mithin: der höchste Grad von Leben kommt Gott zu, in welchem nicht etwas anderes ist das Denken, etwas anderes das Sein. Und so muß denn in Gott das erfaßte Wesensbild die göttliche Wesenheit selber sein. ("Gott denkt, was er ist.") (Fs) (notabene)

LXIIa So sind nach Thomas im Seinsreiche als ganzem die Stufen des Seiens Stufen der tätigen Verinnerung bis in die Tiefe und Fülle seiner reinen Selbstbegreifung, die jenseits alles Einzelseienden das Leben Gottes ist. Ein und dieselbe Seinswirklichkeit, wie sie für uns da ist, ist zugleich verstehend und verstehbar. Das Menschenwesen findet sich auf einer bestimmten Stufe der lebendigen Selbsterfassung des Seins, und zwar in der Ordnung der verstehenden Wesenheiten auf der untersten. Unser Erkenntnisleben hat aus unserer Stellung im Seinsreich eine bestimmte, der Menschennatur eigenbehörige Verfassung. (Fs)

LXIIb Unsere Seele ist darauf angelegt, gewissermaßen "ein Spiegel des Alls" zu werden. Auf die Aktion der Dinge gegen uns her erfolgt eine Re-aktion, durch welche sowohl eine neue und eigentümliche Seinsweise der Außenwirklichkeit erzeugt wird, wie auch der Träger der Einwirkung, indem er diese innewird und verinnernd in seine eigene Seinsform überführt, erst zur vollen Wirklichkeit seiner zur Seinsverstehung bestimmten Natur gelangt. Nach Thomas - er spricht hier mit Aristoteles - ist die Seele als mit Erkenntniskraft begabte in der Lage, gleichsam alles werden zu können (quodammodo omnia fieri). Ihr Vermögen, zu erkennen, ist ein Vermögen, anderes zu werden, eine Befähigung (man höre in "fähig" das "fahen", greifig werden) für das andere. Das Leben dieses anderen irgendwie in sein eigenes zu ziehen, ohne jenes andere aufzuheben, zu versehren oder in irgendwelche Art von Mitleidenschaft zu versetzen, macht das innerste Wesen der Erkenntnis aus. Sie ist zugleich ein Vorgang der Veräußerung, weil das Ding nicht von vornherein Habe der Seele ist, und zugleich der Verinnerung, weil das Ding der Seinsweise der Seele anverwandelt wird. Es liegt im Erkennen - eben wegen dieses "Ein-anderes-werden" - nichts Selbstisches, ganz im Gegensatz zum Wollen, das immer den Zug nach einem zweckhaften Gut, also nach außen hat. "Es ist etwas von höherem Rang, in sich den Adel eines andern Seins (nämlich seine Wesensform) zu besitzen, als nur Beziehung zu einem adeligen Seienden zu haben, das draußen bleibt." (Fs)

LXIIIa Wieso geschieht nun dieses Anderes-werden, dieses Fremde-Formen-Haben der Seele im Erkennen? Erkennen weist sich über seine Natur selber aus: daß es nämlich ein Innelesen im Ding ist (intelligere = intus legere). Es hat den Charakter der Bestimmtheit durch den Gegenstand. Schon in seinem Auftreffen auf die Ursätze des Denkens muß es diese auch, wie gezeigt worden ist, als Seinsgesetze anerkennen. Die Ergreifbarkeit des Seins ist ihm natürliche Gewißheit, nicht nur etwas, was es guten Glaubens annimmt oder vertrauensvoll voraussetzt. Der Satz vom Widerspruch oder der Identität (a = a) ist schlechthin da, er zwingt von der Dingwelt her und zwingt im Verstande. Nun heißt aber Dingbestimmtheit des Erkennens nicht soviel als schlechthin Einssein von Ding und erkanntem Ding. Dieses Höchste von verstandlicher Ergreifung des Seins ereignet sich nur in der Selbsterfassung des Ich und mag in einem künftigen Leben der Vollendung Tatsache werden. Als die Menschen, die wir sind, erkennen wir nicht ohne Weg und Mittel, und eben diese Notwendigkeit bestimmt die Rangstufe unserer Natur, sofern sie eine erkennende ist. Alle unsere Seinsverstehung ruht nämlich auf sinnlichen Gegebenheiten auf und kommt zu ihrer höchsten, wesentlichen Leistung nur auf dem zwar unbewußt sich vollziehenden, aber doch unerläßlich von unserer Natur gebotenen Verfahren der Abstraktion. (Fs)

LXIIIb Man kennt aus der Geistesgeschichte mancherlei Verlegenheiten, die sinnliche Seite des Menschen und der Welt mit der geistigen in ein schickliches Verhältnis zu bringen. Bald ist die eine, bald die andere in Gefahr, um ihr Recht oder ihre Würde zu kommen. Nicht so bei Thomas: ihm hat das Leibliche und Sinnliche das Recht und die Würde des tragenden Fundaments in der Ordnung, der wir angehören. Das wird in seinem Begriff vom Menschen als einer Natureinheit aus Leib und Seele offenbar, und folgerecht auch in seiner Auffassung der Erkenntnis. Er sagt nicht wie Platon, schließlich sei nur die Seele der wahre Mensch, der Leib als ihr bloßes Werkzeug nicht zu seinem Wesen gehörig, sondern er nimmt sie als zusammengehörig für das Wesensganze Mensch, in dem die Geistseele die alles wirkende, ordnende und ausrichtende Form ist. Wenn es nun die natürliche Bestimmung dieser Geistseele ist, in grenzenloser Offenheit für die Weltwirklichkeit (nata omnia fieri) Seiendes nach Kräften aufzunehmen und erobernd zu durchdringen, solcherweise, daß in ihr die ganze Ordnung des Universums und seiner Ursachen sich abzeichne (ut in ea describatur totus ordo universi et causarum eius), so löst sie sich auch bei ihrer höchsten und tiefsten Tätigkeit, nämlich der denkenden Seinserfassung, nicht aus dem ursprünglichen Verbund mit der leiblichen Wesensseite des Menschen. Dieses gebundene Leib-Seele-Sein entspricht der Verfassung einer Welt, die bei aller Stofflichkeit im letzten Grunde aus einem geheimnisvollen denkerischen Entwürfe hervorgeht, so daß die Seele und die Welt komplementär sind von Natur. Das ist festzuhalten, wenn man die thomisti-sche Erkenntnislehre, die so wenig weit-flüchtig ist wie sein System von Sein und Sollen als ganzes, nicht verkennen will. (Fs)

LXIVa Wir fanden jene Ursätze des Denkens im Sein selbst vergründet. Wir haben sie schlechthin, nämlich als Teilhaber an der Einen Ordnung aller Natur, und es ist uns unmöglich, sie nicht zu haben. Was wir an Wahrheit und Erkenntnis uns gewinnen, besteht die Probe auf Gewißheit nur in der Rückführung auf diese Elemente. Darum spricht Thomas von der reductio in prima principia innata - also von angeborenen Ursätzen. Das ist aber mit einer notwendigen Unterscheidung gegen die Vertreter der üblich so genannten eingeborenen Ideen zu verstehen, die Thomas mit Nachdruck und vielen Gründen bekämpft. Fragt man ihn, ob wir unsere allgemeinsten, immergültigen Erkenntnisse lediglich einer außermenschlich entspringenden Einstrahlung verdanken, ob wir die Ursätze ohne weiteres, noch vor aller Begegnung mit der Welt der Gegenstände, die uns zu geistiger Stellungnahme, zu Begriffsbildung und Urteil veranlaßt, wie einen abgelösten, an und für sich wirksamen und zwingenden Text in unserer Seele vorfinden und lesen, ob wir die Begriffe Zahl und Recht und Schön und Gut und Wahr ohne jede Grundlage von Empfindung und Erfahrung der sinnlichen Welt in uns vorliegend finden, so antwortet er mit Nein. Daß er die prima principia angeboren nennt, will dies besagen: Im Unterschied von den Sinnen, die immer nur auf ein Einzelnes, ein Dies-da (hoc aliquid), ein Nichtnotwendiges und Stofflich-Ungedankliches gerichtet sind, hat der Verstand den Zug (intentio) zum Allgemeinsamen, Notwendigen und Gedanklichen, und das könnte so nicht sein, wenn diese vollkommenere Art der Seinserfassung nicht vorher in seiner Natur angelegt wäre - als Vermögen nämlich, am Stoffe Welt zu Wesensbegriffen und sicheren Urteilen zu gelangen. Seines angeborenen Rüstzeugs wird er inne, wenn er es gebraucht, und im Gebrauche erst wird es seine Wirklichkeit. Der Verstand als tätiger muß erst sein eigenes Licht auf seine eigene in ihm ruhende Gabe werfen, um so auch zum Bewußtsein der Ursätze, der von Natur ihm gegebenen Grundlage jedes Urteils, zu gelangen. (Fs) (notabene)

LXVa Da nun diese Ursätze eine natürliche Mitgift des Verstandes sind, nicht eigentlich Gegenstand als vielmehr Voraussetzung seiner Erkenntnistätigkeit, so ist der bei Thomas festzustellende Gegensatz der platonischen Methode der reductio in prima principia innata und der aristotelischen reductio in sensibilia, nämlich der Rückführung aller unserer Begriffe auf sinnliche Erfahrung, nicht auch ein Widerspruch; denn obgleich nach Thomas die sinnlichen Erfahrungen die Voraussetzung für jede Tätigkeit des Verstandes sind, auch für die aktuelle Gewinnung oder vielmehr Erwahrung der Ursätze, so gehören sie doch nicht zu seinem Wesen. (Fs)

LXVb Von unbeschränkter Geltung also ist der Satz: Nichts ist im Verstande, was nicht zuvor im Gesinn gewesen wäre (nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu). Das hierin ausgesprochene Gründen unseres höheren Erkenntnislebens auf dem niederen begreift in sich sowohl das volle Ernstnehmen der stofflichen Seite an Welt und Mensch als auch die Einsicht, daß unser geistiges Sein ohne den Rückhalt an der Sinneserfahrung der eigenen Sicherheit ermangelt - der Träumende unterscheidet sich vom Wachen durch die Unmöglichkeit des Zurückkommens auf die sensibilia, von denen losgerissen seine Vorstellungen ohne die Bestätigung aus der Wirklichkeit ihr wildes Spiel mit ihm treiben. Die ganze thomistische Erkenntnislehre beruht auf der Voraussetzung, daß sich das Sein als erkennbares und das Sein als erkennendes im Verhältnis urangelegter Entsprechung und gegenseitiger Zuordnung befinden. So gibt es ein echtes Ankommen unserer Geisteskraft bei der uns umgebenden Wirklichkeit, unsere letzten Funde tragen den Charakter der Gewißheit, mithin auch der Verpflichtung, und unsere Aussagen von den Dingen sind, mit Goethe zu sprechen, "nicht bloße Vorstellungsart", sondern wir fassen "die wirklichen Dinge in unserer Vorstellung". "Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre" - dieses Wort des Deutschen trifft unbewußt die Überzeugung des Aquinaten, die lange vor ihm schon Augustin in seiner Weise ausgesprochen: daß die Erscheinung des Dinges auch schon die Antwort auf die Frage nach seinem Wesen sei. (Fs)

LXVIa Soweit es auf der Bahn, die von den Pythagoreern, von Anaxagoras, Platon und Aristoteles herführte, irgend möglich war, baute Thomas seine Gedanken über das Denken, das Sein und ihrer beider Verwobenheit aus dem Grunde der Erfahrung herauf, nicht von metaphysischen Ansätzen herab, und er nahm den Bereich jenseits dessen, was noch Natur zu nennen ist, so wenig als möglich in Anspruch. Diese Natur als Ganzes freilich nahm und erklärte er so wenig aus und durch sich selbst, daß er gerade in ihr den zwingenden Hinweis auf Über-Natur, den Ursacher und Urbildträger - Gott - erkannte. So kommt er auch in seiner Erkenntnislehre, so streng er der Erfahrung folgt, notwendig über Mensch und Ding auf ein überliegendes Drittes hinaus. Indem er den Erkenntnisvorgang von den Tatsachen des Bewußtseins aus verfolgt, gelangt er zur Anerkenntnis eines Urgrunds, der als reine alldenkende und allebendige Wirklichkeit jenseits unseres erfahrenden und denkenden Bewußtseins liegt. Er sagt mit Augustin: wir erkennen die Dinge, weil sie sind; die Dinge aber sind, weil Gott sie sieht. (Fs)

LXVIb Erkenntnis innerhalb des Ganzen der natürlichen Seinsordnung kommt für Thomas durch einen zwischen Ding und Verstand sich abspielenden Vorgang zustande; sie ist eine Zeugung von zwei Seiten her. Angereizt von der stofflichen Außenwelt erkennt das Gesinn nur Einzeldinge, aber ein anderes Vermögen unserer Natur vollzieht eine Verarbeitung, in welcher die von den Dingen in uns verursachten Anschauungsbilder (species sensibiles, phantasmata) gleichsam erst ihr Schweigen brechen und wie ein inneres Wort sich vernehmen lassen. Dieses tiefere Aufnehmen, das eigentliche Ergreifen, leistet unser Verstand, indem er unsere sinnlichen Vorstellungen mit seinem Lichte bestrahlt (illuminat), von ihnen das Stoffartige hinwegläutert (depurat) und etwas herauszieht, hervorsondert, losdenkt (abstrahit), was trotz solcher Entfernung vom Ding nun erst eigentlich ihm gerecht wird, weil es seine, des einzelbesonderen Dings, inneseiende Seinsform oder Wesenheit, seine allgemeine Natur darstellt: es ist das geläuterte begriffliche Erkenntnisbild (species intelligibilis, die letzte noch erfaßliche Bestimmtheit oder, nach alten deutschen Übersetzern, Gestaltnis des Gegenstands). Ich habe den Begriff, das Denkbild "Stein" nicht schon im Verstande (etwa als angeborene Idee), bevor ich das Anschauungsbild "Stein" empfangen habe, und ich habe dieses innere Anschauungsbild nicht, bevor ich es nicht gesehenem oder sonstwie sinnlich erfahrenem Stein abgewonnen habe. Wie aber steht es mit dem geistigen Erfassen der unkörperlichen Gegenstände, von denen der tätige Verstand doch keine Phantasmen haben kann? Wir denken, sagt Thomas, auch das Unstoffliche, solang wir die irdischen Menschen sind, nach Art und im Ähnlichkeitsverhältnis (analogice) der sinnlich erfahrbaren Welt, indem wir vermittels des erkannten Stofflichen auch das Unstoffliche uns verständlich machen, etwa auch die geistigsten Verhältnisse in sprachlicher Bildlichkeit darstellen. (Fs) (notabene)

LXVIIa Was nun ist es also, was vom Verstande schließlich und eigentlich erkannt wird? Wenn alles Erkennen als abbildende, abformende Tätigkeit zuletzt ein reines, stoff-entlöstes Denkbild hervorbringt: ist nun bloß unser inner-menschlicher, vom Außending hervorgereizter Eindruck, also das Ding, wie es in der Seele steht, erkannt, oder spricht unsere abgezogene Erkenntnisform in wahrer, verlässiger Abbildlichkeit das Ding an sich aus, wie es außerhalb der Seele ist? Thomas antwortet: das Denkbild ist nur ein Erkenntnismittel (medium quo) zur Erfassung des Erkenntnisgegenstands; es ist der Repräsentant des Dings an sich, und durch jenen wird dieses selbst erkannt - nach seiner eigenen Wesenheit (oder Washeit, quidditas) jenseits vom Bewußtsein des Erkennenden. (Also nicht Psychologismus und Phänomenalismus, sondern Realismus.) Hat das sinnliche Dingabbild in uns nur das einzelne, besondere Draußending erfaßt, so übermittelt sich uns im abgezogenen, gedachten Bilde seine wahre Natur, die draußen freilich nicht so wie in der erkennenden Seele da ist, als eine und allgemeine in der Abgelöstheit von dem und jenem Ding, sondern immer nur als im individuell Verstückten vorhandene: draußen gibt es nur bestimmte Einzelsteine, das aber, was insgemein ihre Natur ausmacht, der Stein, der sie alle sind, diese Wesenheit Stein eines jeden Steins ist nur in der Seele. Sie ist als Dingnatur das bestimmende Allgemeine in den einzelnen Trägern (universale in re), sie ist der vom Ding losgedachte Inbegriff im Denken (universale post rem), aber auch das Urvorbild des Dinges, schon eher als dieses bestehend gleich dem Plan des Kunstwerks im Geiste des Künstlers (universale ante rem, das Ding im göttlichen Verstande). (Fs) (notabene)

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