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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Grundentscheidung, Grundoption (transzendental, athematisch; eg: Rahner); zwei Ebenen der Sittlichkeit

Kurzinhalt: Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen.

Textausschnitt: 65. Das heute besonders brennende Interesse an der Freiheit veranlaßt viele Vertreter der Humanwissenschaften wie auch der Theologie, eine gründlichere Analyse ihrer Natur und ihrer Dynamik zu entwickeln. Mit Recht betont man, daß Freiheit nicht nur bedeutet, diese oder jene Einzelhandlung zu wählen, sondern sie ist, innerhalb einer solchen Wahl, auch Entscheidung über sich und Verfügung darüber, das eigene Leben für oder gegen das Gute, für oder gegen die Wahrheit, endgültig für oder gegen Gott einzusetzen. Mit Recht unterstreicht man die herausragende Bedeutung einiger Entscheidungen, die dem ganzen sittlichen Leben eines Menschen dadurch "Gestalt" verleihen, daß sie gleichsam zum Flußbett werden, in dem dann auch andere tägliche Einzelentscheidungen Platz und Entfaltung finden können. (Fs)

Einige Autoren schlagen freilich eine viel radikalere Revision der Beziehung zwischen Person und Handlung vor. Sie sprechen von einer "fundamentalen Freiheit", die tiefgründiger und anders als die Wahlfreiheit ist, und ohne deren Berücksichtigung die menschlichen Handlungen weder begriffen noch korrekt bewertet werden könnten. Nach diesen Autoren käme die Schlüsselrolle im sittlichen Leben einer "Grundoption" zu, die durch jene fundamentale Freiheit vollzogen wird, mittels der die menschliche Person über sich selbst als ganze entscheidet, und zwar nicht durch bestimmte und bewußte Wahl auf reflexer Ebene, sondern in "transzendentaler" und "athematischer" Weise. Die aus dieser Option stammenden Einzelhandlungen wären nur partiell und niemals endgültige Versuche, diese Grundoption auszudrücken; sie wären lediglich "Zeichen" oder Symptom für sie. Unmittelbarer Gegenstand dieser Handlungen ist - so heißt es - nicht das absolute Gute (dem gegenüber sich, auf transzendentaler Ebene, die Freiheit der Person äußern würde), sondern es sind die Einzelgüter (auch "kategoriale" Güter genannt). Doch nach der Meinung einiger Theologen könnte aufgrund ihrer partialen Natur keines dieser Güter die Freiheit des Menschen als Person völlig in Anspruch nehmen, auch wenn der Mensch nur durch ihre Verwirklichung bzw. ihre Zurückweisung seine Grundoption zum Ausdruck bringen kann. (Fs) (notabene)

So wird schließlich eine Unterscheidung zwischen der Grundoption und der freien Wahl konkreter Verhaltensweisen eingeführt, eine Unterscheidung, die bei einigen Autoren genau dann die Form einer Dissoziierung annimmt, wenn sie das sittlich "Gute" und "Schlechte" ausdrücklich der transzendentalen Dimension der Grundoption vorbehalten, während sie die Wahl einzelner "innerweltlicher" - das heißt die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu den anderen und zur Welt der Dinge betreffender - Verhaltensweisen als "richtig" oder "falsch" bezeichnen. Auf diese Weise scheint sich im menschlichen Handeln eine Spaltung zwischen zwei Ebenen der Sittlichkeit abzuzeichnen: die vom Willen abhängige Ordnung von Gut und Böse auf der einen und die konkreten Verhaltensweisen auf der anderen Seite, die erst infolge einer technischen Abwägung des Verhältnisses zwischen "vorsittlichen" oder "physischen" Gütern und Übeln, auf die sich die Handlung tatsächlich bezieht, als sittlich richtig oder falsch beurteilt werden. Und das geht so weit, daß ein konkretes Verhalten, obwohl frei gewählt, gleich wie ein bloßes Naturgeschehen und nicht nach den auf menschliche Handlungen zutreffenden Kriterien betrachtet wird. Das Ergebnis, zu dem man gelangt, lautet: die im eigentlichen Sinn sittliche Qualifizierung der Person hängt allein von der Grundoption ab; welche Einzelhandlungen oder konkrete Verhaltensweisen man wählt, ist für deren Ausformung ganz oder teilweise belanglos. (Fs)

66. Zweifellos anerkennt die christliche Sittenlehre in ihren eigenen biblischen Wurzeln die besondere Bedeutung einer Grundentscheidung, die das sittliche Leben kennzeichnet und die Freiheit radikal Gott gegenüber in Anspruch nimmt. Es handelt sich um die Entscheidung des Glaubens, um den Gehorsam des Glaubens (vgl. Röm 16,26), in dem "der Mensch sich als ganzer Gott in Freiheit überantwortet, indem er sich 'dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen voll unterwirft'".1 Dieser Glaube, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6), kommt aus der Mitte des Menschen, aus seinem "Herzen" (vgl. Röm 10,10) und ist von daher berufen, Gutes hervorzubringen in den Werken (vgl. Mt 12,33-35; Lk 6,45; Röm 8,5-8; Gal 5,22). Im Dekalog steht über den einzelnen Geboten der fundamentale Satz: "Ich bin Jahwe, dein Gott ..." (Ex 20,2), der dadurch, daß er den vielfältigen und verschiedenen Einzelgeboten den ursprünglichen Sinn aufprägt, der Moral des Bundes den Charakter der Ganzheit, Einheit und Tiefe sichert. Die Grundentscheidung Israels betrifft also das grundlegende Gebot (vgl. Jos 24,14-25; Ex 19,3-8; Mich 6,8). Auch die Moral des Neuen Bundes wird von dem grundlegenden Aufruf Jesu zu seiner "Nachfolge" beherrscht - so sagt er auch zu dem jungen Mann: "Wenn du vollkommen sein willst, ... komm und folge mir nach!" (Mt 19,21) -: Auf diesen Anruf antwortet der Jünger mit einer radikalen Entscheidung. Die evangelischen Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der verlorenen Perle, für die einer seinen ganzen Besitz verkauft, sind beredte und wirkungsvolle Bilder für den radikalen und bedingungslosen Charakter der Entscheidung, die das Reich Gottes erfordert. Die Radikalität der Entscheidung, Jesus nachzufolgen, findet großartigen Ausdruck in seinen Worten: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten" (Mk 8,35). (Fs)

Der Aufruf Jesu "komm und folge mir nach" bezeichnet den größtmöglichen Lobpreis der Freiheit des Menschen und bestätigt gleichzeitig die Wahrheit und Verpflichtung von Glaubensakten und Entscheidungen, die man Grundoption nennen kann. Einer ähnlichen Hochschätzung der menschlichen Freiheit begegnen wir in den Worten des hl. Paulus: "Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder" (Gal 5,13). Aber der Apostel fügt sogleich eine ernste Mahnung an: "Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch!". In dieser Mahnung klingen seine vorausgegangenen Worte an: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und laßt euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Der Apostel Paulus fordert uns zur Wachsamkeit auf: Die Freiheit ist ständig von der Knechtschaft bedroht. Und genau das trifft auf einen Glaubensakt - im Sinne einer Grundoption - zu, der den oben erwähnten Tendenzen entsprechend von der Wahl der Einzelakte getrennt wird. (Fs)
67. Diese Tendenzen stehen also im Gegensatz zur biblischen Lehre, welche die Grundoption als eine echte und eigentliche Entscheidung der Freiheit versteht und diese Entscheidung zutiefst mit den konkreten Einzelhandlungen verbindet. Durch die Grundentscheidung ist der Mensch befähigt, dem göttlichen Ruf folgend sein Leben auf sein Ziel auszurichten und dies mit Hilfe der Gnade anzustreben. Aber tatsächlich ausgeübt wird diese Befähigung jeweils in der konkreten Wahl bestimmter Handlungen, durch die der Mensch sich aus freiem Entschluß nach dem Willen, der Weisheit und dem Gesetz Gottes richtet. Es muß deshalb festgehalten werden, daß sich die sogenannte Grundoption - insoweit sie sich von einer bloß generellen, bezüglich der konkret engagierten Festlegung der Freiheit noch unbestimmten Intention unterscheidet - immer durch bewußte und freie Wahlakte verwirklicht. Eben deshalb wird die Grundoption genau dann widerrufen, wenn der Mensch in sittlich schwerwiegender Materie seine Freiheit durch bewußte, in entgegengesetzte Richtung weisende Wahlakte engagiert. (Fs) (notabene)

Die Grundoption von den konkreten Verhaltensweisen zu trennen heißt, sich mit der wesenhaften Integrität oder der leib-seelischen personalen Einheit des sittlich Handelnden in Widerspruch zu setzen. Eine Grundoption, verstanden ohne ausdrückliche Berücksichtigung der Möglichkeiten, die sie aktualisiert, und der Konkretisierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, wird der dem Handeln des Menschen und jeder seiner freien Wahlakte innewohnenden rationalen Zielhaftigkeit nicht gerecht. In Wirklichkeit ist die sittliche Qualität der menschlichen Handlungen nicht allein aus der Absicht, der Grundorientierung oder Grundoption abzuleiten - verstanden im Sinne einer Intention ohne klar bestimmte bindende Inhalte bzw. einer Intention, die kein tatkräftiges Bemühen hinsichtlich der verschiedenen Verpflichtungen des sittlichen Lebens entspricht. Die Sittlichkeit kann nicht beurteilt werden, wenn man absieht von der Übereinstimmung bzw. dem Widerspruch der bedachten Wahl einer konkreten Verhaltensweise mit der Würde und der integralen Berufung der menschlichen Person. Jede Handlungswahl schließt immer eine Bezugnahme des freien Willens auf jene Güter und Übel ein, wie sie vom Naturgesetz als zu verfolgendes Gutes und zu meidendes Übel aufgewiesen werden. Im Falle der positiv gebietenden sittlichen Gebote ist es stets Aufgabe der Klugheit festzustellen, wie weit sie für eine bestimmte Situation zutreffen, indem man zum Beispiel andere, vielleicht wichtigere oder dringendere Verpflichtungen berücksichtigt. Die negativ formulierten sittlichen Gebote hingegen, das heißt diejenigen, die einige konkrete Handlungen oder Verhaltensweisen als in sich schlecht verbieten, lassen keine legitime Ausnahme zu; sie lassen keinerlei moralisch annehmbaren Freiraum für die "Kreativität" irgendeiner gegensätzlichen Bestimmung. Ist einmal die sittliche Artbestimmung einer von einer allgemeingültigen Regel verbotenen konkret definierten Handlung erkannt, so besteht das sittlich gute Handeln allein darin, dem Sittengesetz zu gehorchen und die Handlung, die es verbietet, zu unterlassen. (Fs) (notabene)

68. Hier gilt es, eine wichtige pastorale Überlegung anzufügen. Gemäß der Logik der oben skizzierten Positionen könnte der Mensch kraft einer Grundoption Gott treu bleiben, unabhängig davon, ob einige seiner Wahlentscheidungen und seiner konkreten Handlungen mit den spezifischen darauf bezogenen sittlichen Normen oder Regeln übereinstimmen oder nicht. Aufgrund einer anfänglichen Option für die Liebe könnte der Mensch sittlich gut bleiben, in der Gnade Gottes verharren und sein Heil erlangen, auch wenn einige seiner konkreten Verhaltensweisen aus freiem Entschluß und in schwerwiegender Sache zu den von der Kirche wieder vorgelegten Geboten Gottes entschieden und ernsthaft im Gegensatz stünden. (Fs)

In Wirklichkeit geht der Mensch nicht nur durch die Untreue gegenüber jener Grundoption verloren, durch die er sich "als ganzer Gott in Freiheit" überantwortet.1 Durch jede aus bedachtem Entschluß begangene Todsünde beleidigt er Gott, der ihm das Gesetz geschenkt hat, und macht sich daher dem ganzen Gesetz gegenüber schuldig (vgl. Jak 2,8-11); auch wenn er im Glauben bleibt, verliert er die "heiligmachende Gnade", die "Liebe" und die "ewige Seligkeit".2 "Die einmal empfangene Gnade der Rechtfertigung - so lehrt das Konzil von Trient - kann nicht nur durch die Untreue, die den Menschen um seinen Glauben bringt, sondern auch durch jede andere Todsünde verlorengehen".3

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