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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Gewissensurteil; Paulus, Bonaventura; Gewissen - Naturgesetz

Kurzinhalt: "Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, ...

Textausschnitt: 57. Derselbe Text aus dem Römerbrief, der uns das Wesen des Naturgesetzes verständlich machte, weist auch auf den biblischen Sinn des Gewissens hin, besonders in seiner spezifischen Verbindung mit dem Gesetz: "Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich" (Röm 2,14-15). (Fs)

Nach den Worten des hl. Paulus stellt das Gewissen den Menschen gewissermaßen dem Gesetz gegenüber, wodurch es selber zum "Zeugen" für den Menschen wird: Zeuge seiner Treue oder Untreue gegenüber dem Gesetz, das heißt seiner fundamentalen sittlichen Rechtschaffenheit oder Schlechtigkeit. Das Gewissen ist der einzige Zeuge: Was im Innersten der menschlichen Person vor sich geht, bleibt den Augen von jedermann draußen verborgen. Es wendet sich mit seinem Zeugnis nur an die Person selber. Und nur die Person wiederum kennt die eigene Antwort auf die Stimme des Gewissens. (Fs) (notabene)

58. Die Bedeutung dieses inneren Dialogs des Menschen mit sich selbst wird man niemals angemessen zu schätzen wissen. In Wirklichkeit ist er jedoch der Dialog des Menschen mit Gott, dem Urheber des Gesetzes, dem ersten Vorbild und letzten Ziel des Menschen. "Das Gewissen - schreibt der hl. Bonaventura - ist gleichsam der Herold Gottes und der Bote, und was es sagt, befiehlt es nicht von sich aus, sondern als Botschaft, die von Gott stammt, wie ein Herold, wenn er den Erlaß des Königs verkündet. Und daher rührt die verpflichtende Kraft des Gewissens".1 Man kann also sagen, daß das Gewissen dem Menschen selber Zeugnis gibt von der Rechtschaffenheit bzw. Schlechtigkeit des Menschen, aber zugleich, ja noch früher, ist es Zeugnis von Gott selbst, dessen Stimme und dessen Urteil das Innerste des Menschen bis an die Wurzeln seiner Seele durchdringen, wenn sie ihn fortiter et suaviter zum Gehorsam rufen: "Das sittliche Gewissen schließt den Menschen nicht in eine unüberschreitbare und undurchdringliche Einsamkeit ein, sondern öffnet ihn für den Ruf, für die Stimme Gottes. Darin und in nichts anderem besteht das ganze Geheimnis und die Würde des sittlichen Gewissens: daß es nämlich der Ort ist, der heilige Raum, in dem Gott zum Menschen spricht".2 (Fs) (notabene)

59. Der hl. Paulus beschränkt sich nicht auf die Anerkennung des Gewissens als "Zeuge", sondern er enthüllt auch, auf welche Weise es eine solche Funktion erfüllt. Es handelt sich um "Gedanken", die die Heiden in bezug auf ihre Verhaltensweisen anklagen oder verteidigen (vgl. Röm 2,15). Der Ausdruck "Gedanken" macht den eigentlichen Charakter des Gewissens offenkundig, nämlich ein sittliches Urteil über den Menschen und seine Handlungen zu sein: Es ist ein Urteil, das freispricht oder verurteilt, je nachdem, ob die menschlichen Handlungen mit dem in das Herz eingeschriebenen Gesetz Gottes übereinstimmen oder von ihm abweichen. Und genau von dem Urteil über die Handlungen, und zugleich über ihren Urheber sowie den Zeitpunkt der endgültigen Erfüllung des Urteils, spricht der Apostel Paulus in demselben Text als von "jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkündige, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird" (Röm 2,16). (Fs)

Das Urteil des Gewissens ist ein praktisches Urteil, das heißt ein Urteil, das anordnet, was der Mensch tun oder lassen soll, oder das eine von ihm bereits ausgeführte Tat bewertet. Es ist ein Urteil, das die vernünftige Überzeugung, daß man das Gute lieben und tun und das Böse meiden soll, auf eine konkrete Situation anwendet. Dieses erste Prinzip der praktischen Vernunft gehört zum Naturgesetz, ja es stellt dessen eigentliche Grundlage dar, insofern es jenes ursprüngliche Licht zur Unterscheidung von Gut und Übel zum Ausdruck bringt, das als Widerschein der schöpferischen Weisheit Gottes wie ein unzerstörbarer Funke (scintilla animae) im Herzen jedes Menschen strahlt. Während jedoch das Naturgesetz die objektiven und universalen Ansprüche des sittlich Guten herausstellt, ist das Gewissen die Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall und wird so für den Menschen zu einem inneren Gebot, zu einem Anruf, in der konkreten Situation das Gute zu tun. Das Gewissen drückt also die sittliche Verpflichtung im Lichte des Naturgesetzes aus: Es ist die Verpflichtung, das zu tun, was der Mensch durch seinen Gewissensakt als ein Gutes erkennt, das ihm hier und jetzt aufgegeben ist. Der universale Charakter des Gesetzes und der Verpflichtung wird nicht ausgelöscht, sondern vielmehr anerkannt, wenn die Vernunft deren Anwendungen in der konkreten aktuellen Situation bestimmt. Das Urteil des Gewissens bestätigt "abschließend" die Übereinstimmung eines bestimmten konkreten Verhaltens mit dem Gesetz; es ist die nächstliegende Norm der Sittlichkeit einer willentlichen Handlung und realisiert "die Anwendung des objektiven Gesetzes auf einen Einzelfall".3

60. Wie das Naturgesetz selbst und jede praktische Erkenntnis, hat auch das Urteil des Gewissens befehlenden Charakter: Der Mensch soll in Übereinstimmung mit ihm handeln. Wenn der Mensch gegen dieses Urteil handelt oder auch wenn er bei fehlender Sicherheit über die Richtigkeit und Güte eines bestimmten Aktes diesen dennoch ausführt, wird er vom eigenen Gewissen, das die letzte maßgebliche Norm der persönlichen Sittlichkeit ist, verurteilt. Die Würde dieser Vernunftinstanz und die Autorität ihrer Stimme und ihrer Urteile stammen aus der Wahrheit über sittlich Gut und Böse, die zu hören und auszudrücken sie gerufen ist. Auf diese Wahrheit wird vom "göttlichen Gesetz", der universalen und objektiven Norm der Sittlichkeit, hingewiesen. Das Urteil des Gewissens begründet nicht das Gesetz, aber es bestätigt die Autorität des Naturgesetzes und der praktischen Beziehung in Beziehung zum höchsten Gut, dessen Anziehungskraft die menschliche Person erfährt und dessen Gebote sie annimmt: "Das Gewissen ist keine autonome und ausschließliche Instanz, um zu entscheiden, was gut und was böse ist; ihm ist vielmehr ein Prinzip des Gehorsams gegenüber der objektiven Norm tief eingeprägt, welche die Übereinstimmung seiner Entscheidungen mit den Geboten und Verboten begründet und bedingt, die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegen."4 (Fs) (notabene)

61. Die im Gesetz der Vernunft ausgesprochene Wahrheit über das sittlich Gute wird vom Urteil des Gewissens praktisch und konkret anerkannt, was dazu führt, die Verantwortung für das vollbrachte Gute und das begangene Böse zu übernehmen: Wenn der Mensch Schlechtes tut, bleibt das richtige Gewissensurteil in ihm Zeuge der universalen Wahrheit des Guten wie auch der Schlechtigkeit seiner Einzelentscheidung. Aber der Spruch des Gewissens bleibt in ihm auch so etwas wie ein Unterpfand der Hoffnung und des Erbarmens: Während es das begangene Übel bestätigt, erinnert es auch daran, um Verzeihung zu bitten, das Gute zu tun und unaufhörlich mit Gottes Gnade die Tugend zu üben. (Fs)
So offenbart sich im praktischen Urteil des Gewissens, das der menschlichen Person die Verpflichtung zum Vollzug einer bestimmten Handlung auferlegt, das Band zwischen Freiheit und Wahrheit. Deshalb zeigt sich das Gewissen mit "Urteils"-Akten, die die Wahrheit über das Gute widerspiegeln, und nicht in willkürlichen "Entscheidungen". Und die Reife und Verantwortung dieser Urteile - und letztlich des Menschen, der ihr Subjekt ist - läßt sich nicht an der Befreiung des Gewissens von der objektiven Wahrheit zugunsten einer angeblichen Autonomie der eigenen Entscheidungen messen, sondern im Gegenteil am beharrlichen Suchen nach der Wahrheit und daran, daß man sich von ihr beim Handeln leiten läßt. (Fs)

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