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Autor: Johannes Paul II - Wojtyla, Karol Józef

Buch: Enzyklika Veritatis splendor

Titel: Johannes Paul II., Veritatis splendor

Stichwort: Gewissen - Wahrheit; Gewissen: Urteil - Entscheidung; Spaltung: sittlicher Bereich im engen Sinn - Material dafür

Kurzinhalt: Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müßte die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen ...

Textausschnitt: 55. Nach der Meinung verschiedener Theologen habe man, zumindest in bestimmten Perioden der Vergangenheit, die Funktion des Gewissens lediglich auf die Anwendung allgemeiner sittlicher Normen auf Einzelfälle des persönlichen Lebens beschränkt gesehen. Solche Normen - heißt es - sind aber nicht in der Lage, die unwiederholbare Besonderheit aller einzelnen konkreten Akte der Personen in ihrer Gesamtheit zu umfassen und zu berücksichtigen; sie können in gewisser Weise bei einer richtigen Bewertung der Situation behilflich sein, sie können aber nicht an die Stelle der Personen treten und ihre Aufgabe übernehmen, eine persönliche Entscheidung über ihr Verhalten in bestimmten Einzelfällen zu treffen. Ja, die vorgenannte Kritik an der traditionellen Interpretation der menschlichen Natur und ihrer Bedeutung für das sittliche Leben verleitet einige Autoren zu der Behauptung, diese Normen seien nicht so sehr ein bindendes objektives Kriterium für die Urteile des Gewissens, als vielmehr eine allgemeine Orientierung, die in erster Linie dem Menschen hilft, seinem persönlichen und sozialen Leben eine geregelte Ordnung zu geben. Darüber hinaus enthüllen sie die dem Phänomen des Gewissens eigene Komplexität: Diese steht in tiefem Zusammenhang mit dem gesamten psychologischen und affektiven Bereich und mit den vielfältigen Einflüssen der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung des Menschen. Andererseits wird der Wert des Gewissens hochgepriesen, das vom Konzil als "Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist",1 definiert wurde. Diese Stimme - so wird gesagt - veranlasse den Menschen nicht so sehr zu einer peinlich genauen Beachtung der universalen Normen, als zu einer kreativen und verantwortlichen Übernahme der persönlichen Aufgaben, die Gott ihm anvertraut. (Fs)

In dem Wunsch, den "kreativen" Charakter des Gewissens hervorzuheben, bezeichnen manche Autoren die Akte des Gewissens nicht mehr als "Urteile", sondern als "Entscheidungen": Nur dadurch, daß der Mensch "autonom" diese Entscheidungen trifft, könne er zu seiner sittlichen Reife gelangen. Einige vertreten auch die Ansicht, dieser Reifungsprozeß würde von der allzu kategorischen Haltung behindert, die in vielen moralischen Fragen das Lehramt der Kirche einnimmt, dessen Eingriffe bei den Gläubigen das Entstehen unnötiger Gewissenskonflikte verursachen würden. (Fs)

56. Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müßte die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen Betrachtungsweise anerkannt werden. Diese könnte, indem sie den Umständen und der Situation Rechnung trägt, legitimerweise Ausnahmen bezüglich der theoretischen Regel begründen und so gestatten, in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als für in sich schlecht eingestuft wird. Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich an, die Zulässigkeit sogenannter "pastoraler" Lösungen zu begründen, die im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine "kreative" Hermeneutik zu rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde. (Fs)

Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, daß mit diesen Ansätzen nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird. Erst die vorausgehende Klärung der auf die Wahrheit gegründeten Beziehung zwischen Freiheit und Gesetz macht eine Beurteilung dieser "schöpferischen" Interpretation des Gewissens möglich. (Fs)

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