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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Bußakt (Johannes Paul II), Schuldbekenntnis; Kirche - Schuld; Historiker: Aufgaben; Purificatio memoriae

Kurzinhalt: Die Erforschung von Kreuzzügen, Inquisition und Hexenprozessen - um nur die bekanntesten Punkte zu nennen - befindet sich erneut in einem Stadium, in welchem neue Fragestellungen, neue Methoden, neue Quellen zu gelegentlich überraschenden Ergebnissen ...

Textausschnitt: 211a Vor diesem Hintergrund und im Lichte der bereits erwähnten vorhergegangenen und nachfolgenden päpstlichen Ansprachen sind also die bei dem feierlichen Bußakt des 1. Fastensonntags ausgesprochenen Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten zu interpretieren, wenn dabei kein Zerrbild der Kirche entstehen soll. (Fs)
Vergebung wofür?

211b Es waren insgesamt sieben Bitten um Vergebung, die von Vertretern der Römischen Kurie eingeleitet und vom Papst in einem Gebet vor Gott ausgesprochen wurden. Dabei wurde auch jeweils ein Schuldbekenntnis formuliert. Da war davon die Rede, daß "auch Menschen der Kirche im Namen des Glaubens und der Moral in ihrem notwendigen Einsatz zum Schutz der Wahrheit mitunter auf Methoden zurückgegriffen haben, die dem Evangelium nicht entsprechen" (EV, S. 122). "Sünden, die die Einheit des Leibes Christi verwundet und die geschwisterliche Liebe verletzt haben" (EV, S. 123) werden bekannt, wobei offenbar nicht nur die Sünden der Katholiken gemeint sind. Den Juden gegenüber hätten - so die 4. Bitte - "nicht wenige" Sünden begangen (EV, S. 124) und den Anhängern anderer Religionen wie auch Einwanderern und Zigeunern sei "manchmal" von Christen durch Stolz, Haß, Herrschsucht oder Feindschaft Unrecht geschehen, wobei Christen "oft das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben" haben (EV, S. 125). Ebenso wurde für die Erniedrigung und Diskriminierung von Frauen (EV, S. 126) sowie für die Mißachtung der Personwürde von Armen, Ausgegrenzten, Verlassenen um Vergebung gebeten. Dem schließt sich - und damit wird der Duktus der Vergebungsbitte verlassen - die Fürbitte für die im Mutterschoß getöteten oder gar zu Forschungszwecken benützten Kinder an (EV, S. 127). (Fs)

212a In der Formulierung dieser Bitten geht es um Sünden der Gegenwart wie jene der Vergangenheit gleichermaßen. (Fs)

Sündige Kirche oder Kirche der Sünder?

212b Aus einer systematischen Analyse all dieser Äußerungen des Papstes ergibt sich, welche Haltung gegenüber Schuld und Sünde in der Vergangenheit der Kirche er einnimmt und von der Kirche nachvollzogen wissen will. (Fs)

Zum ersten ist eindeutig klar: Nicht die Kirche hat gesündigt, sondern "einige unserer Brüder", und Haltungen des Mißtrauens und der Feindseligkeit gegenüber Angehörigen anderer Religionen wurden von Gliedern der Kirche "manchmal" eingenommen. Damit wird deutlich zwischen der Kirche als der makellosen Braut Christi und ihren durchaus immer wieder sündigenden Gliedern unterschieden. Es ist kaum nachzuvollziehen, wenn zu lesen ist: "In diesem (in welchem?!) Sinn kann man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln" (EV, Einleitung, S. 13). Ebenso wie bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit man davon sprechen kann, daß "die Kirche lehrt", ist dies auch gefordert, wenn umgekehrt gesagt werden sollte, daß "die Kirche" gesündigt habe! Wann und wo aber wäre dies geschehen? Nichtsdestoweniger wird auch in einem KNA-Interview vom 24./25. Februar 2000 von "Verfehlungen von Mitgliedern der Kirche und der Kirche selbst" gesprochen. (Fs)

Eine Unterscheidung zwischen der Kirche und den Gliedern der Kirche ist aber notwendig, da die Zugehörigkeit des einzelnen zur Kirche dessen Personsein und damit die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen für sein sittlich relevantes Handeln keineswegs aufhebt. Ein kollektivistischer Kirchenbegriff, der eine Verantwortlichkeit des Ganzen für das Handeln des einzelnen Kirchengliedes bzw. ein Aufgehen des einzelnen im Ganzen statuieren würde, widerspricht sowohl dem Wesen der menschlichen Person als auch dem der Kirche. Infolgedessen ist auf die Kirche in analoger Weise anwendbar, was das 2. Vatikanische Konzil in "Nostra aetate" von der Verantwortlichkeit des Volkes Israel für den Tod Jesu feststellt: "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen" (Nostra aetate, Nr. 4). Dieser Text spricht also von der Unmöglichkeit einer kollektiven Verantwortung der gleichzeitig Lebenden für das Geschehen von Golgotha, ebenso aber auch von der Unmöglichkeit, die späteren Generationen damit zu belasten. Nach dem gleichen Grundsatz kann der ganzen Kirche eine Kollektiwerantwortung für das Tun oder Lassen der einzelnen Christen und a fortiori nicht für das Handeln längst vergangener Generationen aufgebürdet werden. Dennoch tragen wir heute lebenden Glieder der Kirche - durch das gnadenhafte Band des mystischen Leibes Christi mit den Gliedern aller Generationen verbunden - die Last der Irrtümer und der Schuld jener, die uns vorausgegangen sind, mit diesen mit. (Fs)

213a Ein Vergleich mag dies veranschaulichen: Der Erbe eines verschuldeten Hofes erbt, übernimmt mit diesem die Hypotheken, die ihn belasten, ohne daß er selbst in irgendeiner Weise am Zustandekommen der Verschuldung beteiligt sein konnte. Seine Aufgabe ist es, die Hypotheken abzulösen. Dem entspricht die Feststellung: "Die sittliche Leistung, die dieser Generation abverlangt wird, ist nicht die Anerkennung einer Verantwortung für die Vergangenheit, sondern die innere Bereitschaft, die Erblasten zu übernehmen, die Hypotheken aus der Vergangenheit, für die sie, obwohl nicht selbst verantwortlich, in Mithaftung genommen sind" (A. Baumgartner). Dies ist ein Ausdruck der generationenübergreifenden Solidarität, die in diesem Falle durch die Familienzugehörigkeit begründet ist. Zugleich wird damit anerkannt, daß es auch in der eigenen Familie "schwarze Schafe" gegeben hat. Was nun die Kirche betrifft, drückt diesen Sachverhalt in treffender Weise das Evangelium aus, wenn dort zu lesen ist, daß im Netz des Petrus "gute und schlechte Fische" zu finden sind und daß der gute Weizen auf dem Acker der Kirche bis zum Tag der Ernte mit Unkraut vermischt bleibt. (Fs)

Historische Klärung vonnöten

214a Aus dem Gesagten ergibt sich für jeden Versuch eines historischen und gar eines theologisch-moralischen Urteils über Phänomene der kirchlichen Vergangenheit ein gewichtiger Vorbehalt. Wie auch die Theologenkommission betont, ist für jedes derartige Urteil eine "genaue historische und theologische Klärung" notwendig (EV, S. 69-79). (Fs)

214b Damit ist allerdings mit wenigen Worten auf ein großes und kompliziertes Problem hingewiesen, auf das Problem historischen Urteilens, das hier freilich nur andeutungsweise dargestellt werden kann. Möglich ist zweifellos der Aufweis von Ursachen, Zusammenhängen und Folgen historischen Handelns. Insofern ist mit der gebotenen Vorsicht auch die Frage nach der Verantwortung hierfür zu beantworten. Ob ein bestimmtes historisches Geschehen nun aber positiv oder negativ beurteilt werden soll, hängt doch in hohem Maße vom Standpunkt des Betrachters ab. Nicht minder aber kommt es auf die Kriterien an, an denen ein solches Urteil sich orientiert. Zudem ist auf die zeit- und kulturbedingte Relativität solcher Kriterien hinzuweisen. Nach welchen Maßstäben wären etwa die noch im 15. Jahrhundert üblichen Menschenopfer der Azteken - und dementsprechend das Vorgehen der spanischen Kolonisatoren dagegen - zu beurteilen? Es ist allein schon daraus ersichtlich, wie problematisch historische Urteile überhaupt sind. (Fs) (notabene)

214c Die von der Theologenkommission geforderte sorgfältige historische Klärung stößt aber noch vor jedem Versuch, ein Urteil auszusprechen, auf erhebliche Schwierigkeiten. In einer Reihe von Fällen, in denen die sogenannte öffentliche Meinung eindeutiges Versagen der Kirche zu erkennen meint, sind selbst die Voraussetzungen für ein seriöses historisches Urteil nicht gegeben. Die Erforschung von Kreuzzügen, Inquisition und Hexenprozessen - um nur die bekanntesten Punkte zu nennen - befindet sich erneut in einem Stadium, in welchem neue Fragestellungen, neue Methoden, neue Quellen zu gelegentlich überraschenden Ergebnissen fuhren, die den bisher selbstverständlich kolportierten Klischeevorstellungen den Boden entziehen. (Fs)

Kein Urteil über die Gewissen!

215a Unter solchen Voraussetzungen dennoch in diesen oder in anderen derartigen Fällen ein Urteil aussprechen zu wollen, wäre wissenschaftlich nicht zu verantworten. Besonders gewichtig ist aber ein zweiter vom Papst genannter Vorbehalt: Kein Historiker, kein Theologe, auch nicht die Kirche, kann über das Gewissen und damit über die Schuld oder Unschuld eines anderen Menschen richten. Das 2. Vatikanische Konzil spricht dies in deutlich aus: "Gott allein ist der Richter und Prüfer der Herzen, darum verbietet er uns, über die innere Schuld von irgend jemandem zu urteilen" (Gaudium et spes, Nr. 28). Damit spricht das Konzil eine elementare sittliche Forderung des Neuen Testaments aus. Es waren offenbar derartige Überlegungen, die den Papst bewogen haben, wohl auf "Problemfelder" hinzuweisen, wo dergleichen geschehen sein kann, aber keinerlei konkrete Fälle zu nennen, in welchen Sünde konstatiert werden müßte. Es zeugte von großer Umsicht und realistischer Geschichtsbetrachtung, wenn etwa die Spanische Bischofskonferenz einerseits für die während des Bürgerkriegs verübten Greuel um Vergebung durch Gott gebeten, es jedoch vermieden hat, für das Verhalten des Episkopats zur Zeit des Franco-Regimes um Verzeihung zu bitten, da die historischen Sachverhalte zu ungeklärt und verwickelt seien, als daß man heute schon darüber urteilen könnte. (Fs)

Solche Vorsicht bedeutet keineswegs, die Existenz von Sünde in der Vergangenheit der Kirche in Abrede zu stellen. Die Kirche war sich dessen stets bewußt, daß sie zu jeder Zeit ebenso wie Heilige auch Sünder zu ihren Gliedern zählt. Eine Erkenntnis, die sich in der religiösen Praxis der Kirche ausdrückt, die in ihrer Liturgie Sündenbekenntnis und Bitte um Vergebung, der Buße gewidmete Zeiten des Kirchenjahres, vor allem aber das Sakrament der Sündenvergebung kennt (so Kardinal Ratzinger bei der Präsentation von EV am 7. März 2000; OR, 17. März 2000). (Fs)

Deshalb eignet dem im Hinblick auf das große Jubiläum des Jahres 2000 besonders akzentuierten Schuldbekenntnis des Papstes keinesfalls der Charakter des Außerordentlichen, Spektakulären, wiewohl das immer wieder behauptet worden ist. Es verdient außerdem Aufmerksamkeit, daß der Papst entgegen vielen Erwartungen Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte für Sünden von Gliedern der Kirche in der Vergangenheit nicht Menschen oder menschlichen Gemeinschaften unserer Zeit gegenüber ausgesprochen, sondern beides in Form von Gebeten an Gott gerichtet hat. Gott allein ist der Richter über die Gewissen der Menschen, weshalb auch die Vergebung ihm vorbehalten ist - wenigstens dann, wenn jene Menschen, denen Unrecht geschehen ist, selbst nicht mehr um Verzeihung gebeten werden können. Es wurde also Gott gebeten, jenen ihre Schuld zu vergeben, die im Laufe der Kirchengeschichte gesündigt haben. Aber auch das ist nur ein Spezialfall der täglich in der Liturgie geübten Fürbitte für die verstorbenen Glieder der Kirche. (Fs)

Keine Rehabilitationen

216a Eben dieser Gedanke, daß alles, was hinter der Schwelle der Gegenwart liegt, ein für allemal dem Gericht und der Barmherzigkeit Gottes anheimgefallen ist, hat es auch unmöglich gemacht, irgendwelche posthume Rehabilitationen auszusprechen. Forderungen nach Aufhebung der Exkommunikation Martin Luthers, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erhoben worden waren, konnten und können ebensowenig erfüllt werden wie jene nach Rehabilitation Girolamo Savonarolas oder gar Giordano Brunos. Von allem anderen abgesehen ist allein schon der Begriff der Rehabilitation - sofern es sich um Personen der Geschichte handelt -in sich höchst problematisch und außerdem durch die bekannte marxistisch-leninistische Praxis belastet. (Fs)

Indes hat Johannes Paul II. nicht gezögert, Schmerz und Bedauern darüber auszudrücken, daß etwa der vom Konstanzer Konzil als Häretiker verurteilte Jan Hus der weltlichen Gewalt und damit dem Feuertod überantwortet worden ist (Grußwort an den Hus-Kongreß im Dezember 1999 in Rom; OR, 17. Dezember 1999). In ähnlicher Weise hat der Papst es bedauert, daß Galileo Galilei unter Maßnahmen kirchlicher Organe zu leiden hatte (Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften im Oktober 1992). (Fs)

216b Darüber hinauszugehen hat der Papst jedoch mit Bedacht vermieden. Ein solcher Schritt, der nichtsdestoweniger immer wieder im Sinne der political correctness gefordert worden war, hätte bedeutet, daß Vorgänge und Urteile, denen im Kontext und nach den Kriterien ihrer Zeit keineswegs Unrechtscharakter anhaftete, im Zuge solcher "Rehabilitationen" im Nachhinein - und zwar im Abstand von Jahrhunderten - an den Maßstäben unserer Gegenwart gemessen und kriminalisiert worden wären. In einem solchen Verfahren hätten ganze Epochen der Kirchengeschichte auf die Anklagebank der Gegenwart verwiesen werden müssen, wobei, um nur ein Beispiel zu nennen, der Apostel Paulus des Einverständnisses mit der Sklaverei zu bezichtigen gewesen wäre. Die Absurdität eines solchen Anachronismus springt in die Augen! Es war also unmöglich, daß der Papst hierin einer wenig problembewußten öffentlichen Meinung folgte. Bei seinem durchaus kritischen Rückblick auf zweitausend Jahre Kirchengeschichte hat der Papst außerdem Schuld und Sünde nicht nur bei den Gliedern der Kirche gesucht. Es ist auch von Verfehlungen die Rede, deren Opfer die Kirche selbst geworden ist. (Fs)

Blick nach vorne

217a Der päpstliche Bußakt vom 12. März 2000 sowie die ihn vorbereitenden oder auch nachfolgenden vertiefenden Äußerungen Johannes Pauls II. weisen - wie bemerkt - eine unübersehbare Zukunftsorientierung auf. Dem Papst ging es um die nur von der Barmherzigkeit Gottes zu erwartende Bereinigung der Vergangenheit als unerläßliche Voraussetzung für eine von den Belastungen der Geschichte befreite Gestaltung der Zukunft. (Fs)

Was seitens der Menschen um dieses Zieles willen geschehen kann und geschehen muß, drückt Johannes Paul II. mit dem Schlüsselbegriff "Purificatio memoriae" - Reinigung des Gedächtnisses - aus. Dies ist in der Tat ein sehr glücklich geprägter Begriff. Er formuliert das Gemeinte weit zutreffender als jene Formel, die bei der Vorbereitung des historischen Treffens zwischen Paul VI. und Patriarch Athenagoras im Jahre 1971 eher als Verlegenheitslösung gefunden worden war, als man die Frage zu beantworten hatte, wie man sich beiderseits zu den folgenreichen gegenseitigen Exkommunikationen des Jahres 1054 zu stellen habe. Damals hat man davon gesprochen, daß diese "aus dem Gedächtnis der Kirche getilgt werden" sollten (Tomos Agapis, Rome/Istanbul 1971, Nr. 127-130, S. 278-297). Eine solche Redeweise konnte allerdings den Anschein erwecken, als solle man die Augen vor der historischen Realität verschließen - ein Verhalten, das an das pathologische Phänomen der "Verdrängung" erinnern könnte, das selbst wieder seelisches Fehlverhalten verursacht. Demgegenüber hat der BegrifFder "Purificatio memoriae" den Vorteil, daß er auf eine aktive Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit, auf deren intellektuelle und existenzielle Bewältigung aus der Kraft und im Lichte des Glaubens verweist. (Fs)

218a Eben dies aber fordert der Papst nicht nur von den Gliedern der Kirche, sondern von allen "Menschen guten Willens". Damit hat der Papst einen unumgänglichen Weg zu Versöhnung und Frieden überhaupt gewiesen. Dies ist nun des Näheren auszufuhren. (Fs)

Reinigung des Gedächtnisses

218b Wer immer nach den Wurzeln heutiger Konflikte forscht, muß in der Tat tief graben. Ereignisse, die Jahrhunderte zurückliegen, entfalten noch in der Gegenwart ihre unheilvollen Folgen, werden zu Ursachen von Krieg und Gewalt. Der Beispiele hierfür sind zu viele, als daß sie hier aufgeführt werden könnten. Es gibt kaum ein Volk, eine religiöse Gemeinschaft, in deren Vergangenheit nicht eine solche Drachensaat ausgestreut worden wäre. Lange Zeit beschrieb man etwa das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen als Erbfeindschaft. Die blutigen Attentate und Straßenschlachten im heutigen Ulster sind ohne die fest im Gedächtnis haftende Erinnerung an die politisch-religiöse Unterdrückung Irlands seit dem 17. Jahrhundert nicht denkbar. Bis in unsere Tage hat das Schicksal des Jan Hus die Beziehungen zwischen Deutschen bzw. Österreichern und Tschechen belastet. Ebenso ist die Erinnerung an die Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch das Heer des 4. Kreuzzuges im Jahre 1204 noch immer ein schwereres Hindernis für die Verständigung der griechischen Orthodoxie mit Rom als etwa die dogmatische Differenz bezüglich des "Filioque". Den Römern wiederum bleibt der 6. Mai 1527 unvergeßlich, an dem die "Lanzichenechi", die Landsknechte Karls V., das Rom der Renaissance in einer Orgie der Verwüstung untergehen ließen. (Fs)

Zu zahlreich und zu vielgestaltig sind die aus der Vergangenheit erwachsenden Belastungen, als daß sie auch nur annähernd namhaft gemacht werden könnten. Am meisten genannt wird in unseren Tagen die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten, die bis heute und mit immer noch tiefgreifenden Konsequenzen ihre Schatten auf das Verhältnis Israels zu Deutschland, ja sogar zur katholischen Kirche wirft. Es läßt sich - ganz allgemein - kaum ein Konflikt finden, für den es keine historischen Wurzeln gibt, der nicht durch bewußt am Leben erhaltene Erinnerung immer neu genährt würde. So etwa ist der Hintergrund beschaffen, vor dem Johannes Paul II. seit Beginn seines Pontifikats zum Frieden mahnt, Wege zum Frieden weist, zur "Purificatio memoriae" aufruft. (Fs)

219a Die Notwendigkeit dieser Reinigung aber beruht, wie angedeutet, auf der vorausgegangenen Verunreinigung des kollektiven Gedächtnisses, der Erinnerung und damit der Traditionen von politischen wie religiösen Sozialgebilden. Nicht selten sind - und das verschärft das Problem - solche "vergiftete" Erinnerungen geradezu zu Kristallisationspunkten für deren nationale oder auch religiöse Identität geworden. Der päpstliche Appell zur "Purificatio memoriae" ist darum in höchstem Maße aktuell. Er richtet sich naturgemäß in erster Linie an die Zunft der Historiker. Sie waren es, die bis in die Gegenwart hinein ihre Aufgabe allzuoft darin gesehen haben, politischen, ökonomischen, ja sogar religiösen Interessen der eigenen Gemeinschaft zu dienen - mittels einer selektiven, bewußt akzentuierenden Geschichtsdarstellung oder sogar mittels einer die Tatsachen wenn nicht manipulierenden, so doch verfärbenden Art der Darstellung. Wurde, wird eine solche nationalistische, konfessionalistische Geschichtsschreibung zudem noch durch Dichtung, Theater, bildende Kunst und Folklore in die breiten Schichten von Völkern hineingetragen, so gelang auf diese Weise die Vermittlung eines Geschichtsbildes, das, vorwiegend in den Farben Schwarz und Weiß gemalt, einerseits die Identifikation mit der eigenen Gemeinschaft und ihren Traditionen begründen, andererseits aber zur mehr oder weniger emotionalen Ablehnung des "schwarzen" anderen führen konnte. (Fs)

Aufgaben der Historiker

219b So gewiß es nun in der Tat eine wesentliche Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, durch die Erhellung und Bewußtmachung der Herkunft einer Gemeinschaft soziale Identität zu stiften, so unabweisbar ist es, daß dies sinnvoll und verantwortbar nur auf der Grundlage der unverfälschten historischen Wahrheit geschehen kann und darf. Insofern richtet sich der Appell zur Reinigung des Gedächtnisses in erster Linie an die historische Wissenschaft. Für sie - Profan- wie Kirchenhistoriker - muß als Programm gelten, was Leo XIII. anläßlich der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs in seinem Schreiben "Saepe numero considerantes" vom 18. August 1883 den Historikern - mit Worten Ciceros - ins Stammbuch geschrieben hat: "Primum esse historiae legem ne quid falsi dicere audeat deinde ne quid veri non audeat, ne qua suspicio gratiae sit in scribendo ne qua simultatis" (Acta Leonis XIII, III, Romae 1884, S. 268): Dies ist der Geschichtsschreibung erstes Gesetz: nicht wagen, Falsches zu sagen, nicht auch Wahres nicht zu sagen. Kein Verdacht auf Gunst und Mißgunst darf Raum finden! "Non abbiamo paura della pubblicitä dei documenti": Wir haben keine Angst vor der Offenlegung unserer Dokumente! -das war ein weiterer Kommentar zur Öffnung des Archivs. (Fs)

220a Es wird also die Erforschung der historischen Wahrheit - sofern diese durch die Methoden der Geschichtswissenschaft überhaupt erfaßbar ist - zum obersten Leitsatz erkoren. Damit aber ist ein entschlossener Verzicht auf jederlei Instrumentalisierung der geschichtlichen Wahrheit kategorisch gefordert. Diese gilt es vielmehr ans Tageslicht zu heben, sie sachgerecht zu interpretieren und zu einem realistischen Geschichtsbild auszuarbeiten, in dem die lichten wie die dunklen Farben nicht nach Sympathie oder Antipathie, auch durch keine Interessen getrübt, der erkannten Wahrheit entsprechend aufgetragen sind. Die Liebe des Historikers zu seinem Volk, zu seiner religiösen Gemeinschaft darf nie in Konkurrenz zu seiner Liebe zur wissenschaftlich erarbeiteten Wahrheit treten. Hier beginnt die "Purificatio memoriae". Sie geschieht dadurch, daß auf der "eigenen" Seite Irrtum oder Verbrechen ebenso zur Kenntnis genommen und als tatsächlich geschehen anerkannt werden wie auf der "anderen" Seite Erfolg, Leistung, Größe - und umgekehrt. Daß eine solche Geschichtsbetrachtung nicht nur eine intellektuelle Anstrengung erfordert, sondern eine bewußte Überwindung überlieferter Ressentiments, macht die "Purificatio memoriae" nicht leichter. Indes kann der Respekt vor der historischen Wahrheit und die Verantwortung ihr gegenüber den Geschichtsschreiber hierzu befähigen, selbst wenn auf diese Weise manches Heroendenkmal stürzt, das bislang Verehrung genoß. (Fs)

221a Die Forderung, der erkannten historischen Wahrheit die Ehre zu geben, bedeutet jedoch nicht, vom Historiker Standpunktlosigkeit oder Preisgabe seiner Identität zu verlangen. Wohl aber ist von ihm die Bereitschaft zum Verstehen und der Verzicht auf schnelles oder gar parteiisches Urteil zu erwarten. Der Beruf des Historikers, auch des historischen Schriftstellers oder des Geschichtslehrers, ist weder der eines Anklägers noch jener des Verteidigers oder auch des Richters. Der Relativität und der damit gegebenen Überholbarkeit seiner Einschätzungen und Beurteilungen bewußt, wird der Historiker, der sich für die Reinigung des Gedächtnisses in die Pflicht genommen weiß, sein Bemühen auf die möglichst lückenlose Ermittlung der Tatsachen und auf die Frage nach deren Ursachen, vielfachen Verflechtungen und Folgen konzentrieren, ehe er mit aller Behutsamkeit Bewertungen vornimmt. (Fs)

221b Der Anerkennung der geschichtlichen Wahrheit folgt alsdann als zweiter Schritt eine Stellungnahme zu ihr. Eine solche ist jedoch nicht möglich ohne den vorhergegangenen Versuch, das Geschehene aus seinen Gründen und Umständen und mit seinen Folgen zu verstehen. Daß die historische Methode selbst bei Anwendung ihres gesamten Instrumentars hierbei häufig an Grenzen stößt, kann nicht verwundern, sind doch historische Handlungen schon des Individuums und erst recht solche von Gemeinschaften Ergebnisse letzten Endes undurchdringlicher Geflechte von menschlicher Freiheit, äußeren und inneren Voraussetzungen und Bedingungen, ganz zu schweigen von den latenten Auseinandersetzungen im Inneren des Menschen zwischen Gnade und Sünde. Ohne Anerkenntnis der Realität der Sünde, aber auch der Gnade, kann der Lauf der Geschichte kaum oder nur oberflächlich verstanden werden. (Fs) (notabene)

Indem all die genannten Faktoren und insbesondere das nicht selten unvermeidliche "non liquet" beim Entwurf eines zutreffenden Geschichtsbildes gebührend in Anschlag gebracht werden, geschieht "Reinigung des Gedächtnisses". Daß indes hierbei nicht nur per defectum, sondern auch per excessum gefehlt werden kann, lehrt die Erfahrung. Je ernster der Wille zur Reinigung des Gedächtnisses ist, desto leichter kann es geschehen, daß in der Vergangenheit der eigenen Gemeinschaft - Nation oder Kirche - die negativen Elemente schärfer in den Blick gefaßt werden als die positiven. Unter solchen Umständen kann ein Geschichtsbild entstehen, das die für die Existenz der betroffenen Gemeinschaft wesentliche Identifikation mit der eigenen Geschichte belastet, wenn es nicht sogar zur Distanzierung von ihr, ja geradezu zur Selbstverachtung führt. Die sozialpsychologischen Folgen einer solchen Haltung sind leicht mit jenen zu vergleichen, die sich im analogen Fall beim Individuum einstellen, das seine eigene Herkunft bzw. Vergangenheit anzunehmen verweigert. (Fs)

222a Was sich aus solchen Überlegungen klar ergibt, ist die Notwendigkeit einer vorgängigen Versöhnung mit der eigenen Geschichte, ehe es zur Versöhnung mit anderen Personen oder Gemeinschaften kommen kann. In jedem Falle wird der Weg über die manchmal auch Mut und Selbstverleugnung erfordernde Anerkennung der Realität des Bösen in der eigenen Vergangenheit führen müssen und damit zur Bitte um Vergebung durch Gott - der sich, wenn solche, denen Unrecht geschehen ist, noch am Leben sind, die Bitte um deren Verzeihung anzuschließen hat. Wenn dergestalt die eigene wie die fremde Vergangenheit dem Urteil und der Barmherzigkeit Gottes überantwortet werden, eröffnet sich die Möglichkeit, sich dieser Vergangenheit vorurteilslos zu stellen und sie mit innerer Gelassenheit anzunehmen. Dann allerdings ist auch der Augenblick gekommen, in dem die Historia als "Vitae magistra" ihr Wirken entfalten kann. Dies könnte etwa im Bezug auf die von Johannes Paul II. eigens apostrophierten Spaltungen der Kirche geschehen. In dem Maße, in dem die Erkenntnis wächst und sich durchsetzt, welch entscheidende Rolle bei nahezu allen Spaltungen politische, kulturelle, ja selbst ökonomische, also ganz und gar sachfremde profane Faktoren gespielt haben, könnte es möglich werden, zu prüfen, ob nach Wegfall der genannten Gründe nicht der Weg zur Wiedervereinigung beschritten werden könnte. Auf diese Weise könnte der vom Papst gewiesene Weg der "Purificatio memoriae" in der Tat zum Frieden zwischen den christlichen Konfessionen, aber auch zwischen den Völkern und den Religionen führen. (E10; 05.02.2010)

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