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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirchenvolksbegehren - Kirchenkrise in Deutschland im 19 Jhdt.; Antizölibatsvereine (Johannes Ronge) - Reaktion d. Bischöfe; Nationalkirche, Syllabus; "Linzer Programm"


Kurzinhalt: Am Ende dieses flüchtigen Überblicks über die "Fieberanfälle" im deutschen Katholizismus drängt sich eine Einsicht auf: Außer den Versuchungen des Rationalismus und Liberalismus, also der unbewältigten Aufklärung und ihres Lebensgefühls, ...

Textausschnitt: 160a Das Kirchenvolksbegehren von 1995, das manchem wie ein drohendes Ungeheuer erscheinen mochte, zeigt sich dem Blick des Historikers in recht bescheidenen und auch wohl in seinen wirklichen Dimensionen: "In Deutschland nichts Neues!" Es genügt, sich an die letzten beiden Jahrhunderte zu erinnern. (Fs)

Da gab es - Spätblüte der Aufklärung ebenso wie Vorbote der 48er-Revolution - im Badischen und Württembergischen den "Zölibatssturm" und Antizölibatsvereine. 23 Laien aus Freiburg, an ihrer Spitze der Geheime Rat Duttlinger, richteten 1828 ausgerechnet an die Badische Ständekammer die Petition, die Regierung möge sich für die Abschaffung des Zölibats einsetzen. Die Kammer hatte soviel Verstand, das Ansinnen abzuweisen. Ein Versuch, die Massen publizistisch zu mobilisieren, schlug fehl: Der bedeutende Tübinger Theologe Johann Adam Möhler hatte mit seiner überzeugenden Verteidigung des Zölibats hingegen Erfolg. (Fs)

Nun regte sich in Mainz der Protest. Hauptagitator gegen den Zölibat war der protestantische Professor Wilhelm Hoffmann, der nun die für Staat und Gesellschaft angeblich offenkundige Schädlichkeit des Zölibats bewiesen haben wollte. Sein Mißerfolg hinderte ihn nicht, 1832/33 seinen Antrag zu wiederholen. Nun schlossen sich in der Tat 156 Freiburger Priester und 50 Priesteramtskandidaten diesen Forderungen an, und auch im Bistum Rottenburg gingen die Wogen hoch. Ein bald gegründeter Antizölibatsverein zählte binnen kurzem an die zweihundert geistliche Mitglieder. (Fs)

Die Antwort des katholischen Volkes war allerdings hart: Man boykottierte die Antizölibatären, die sich bald in ihren Kirchen alleine fanden. Mehr als vierzig Ortschaften erklärten dem König von Württemberg, sie hätten lieber keinen Pfarrer als einen beweibten. Unter dem Eindruck der beißenden Satire, mit der dieses Thema bald publizistisch aufgegriffen wurde, verbot die Regierung den Antizölibatsverein. Von einer bischöflichen Reaktion steht in den Annalen der Geschichte - nichts. (Fs) (notabene)

Demokratisierungskampagnen

161a Energischer war man damals in Limburg, wo solche Versuche bischöflicherseits im Keim erstickt wurden. Doch: nicht nur um den Zölibat ging es da - es ging auch um Demokratie in der Kirche! "Synoden" wurden lautstark gefordert: Gemischte Synoden aus Klerikern und Laien, nach Art eines Landtags. (Fs)

Erzbischof Boll von Freiburg, der die Hintergründe durchschaute und ahnte, was die Forderung, "mit dem Zeitgeiste voranzuschreiten", bedeuten mußte, sagte "nein", und daran scheiterte schließlich dieser Demokratisierungsversuch. Daß dergleichen in Rottenburg Nachahmung finden würde, war abzusehen. Hier kam es sogar zu einer interessanten Frontenbildung, wobei der Domdekan Jaumann gegen jene Katholiken polemisierte, die "päpstlicher seien als der Papst, katholischer als die katholische Welt", und die Demokratisierer verteidigte, während der Politiker Baron Hornstein diesen entschieden entgegentrat. (Fs)

Eine neue Initiative folgte in Freiburg, wo der Dekan Kuenzer 1845 eine Unterschriftenaktion zugunsten einer "gemischten" Diözesansynode in Gang setzte und schließlich das Präsidium eines Vereins zur "Beförderung des kirchlichen Lebens" übernahm, der von dem im Konkubinat lebenden Luzerner Priester Professor Fischer 1838 gegründet worden war, um "die übermäßigen Eingriffe des Papstthums mit starker Hand abzuwehren". Vornehmlich wollte man Lehrer dafür gewinnen. Der einigermaßen schwächliche Erzbischof wandte sich um Hilfe gegen diesen Verein an den Staat - vergeblich. (Fs)

Deutschkatholizismus

All dies war nur das Vorspiel für eine wesentlich ausgreifendere Bewegung, in der die Antizölibatspropaganda, die "Demokratisierung" der Kirche und die Absage an das "welsche Rom" eine "vermehrte und erweiterte Neuauflage" erleben sollten: Es war der »Deutschkatholizismus" des Breslauer Kaplans Johannes Ronge. (Fs)

162a Theologisch ignorant, ohne eigentliche Berufung war er nach einem verbummelten Studentenleben zum Priester geweiht worden und alsbald am Glauben und am Zölibat gescheitert. Im Konflikt mit dem Breslauer Ordinariat amtsenthoben, sah er - herausgefordert durch die bevorstehende Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt des Jahres 1844 - seinen antirömischen Weizen blühen. In einem ebenso dümmlichen wie schwülstig-aggressiven offenen Brief an Bischof Arnoldi von Trier, in dem er die Heiligtumsfahrt lächerlich machte und den Bischof verunglimpfte, verkündete er seine Parole: Christentum ohne Rom, ohne Dogma, ohne Sakrament und ohne Priester, und natürlich ohne Zölibat! (Fs) (notabene)

Er wandte sich an "seine deutschen Mitbürger" und rief sie auf, "nach Kräften und endlich einmal entschieden der tyrannischen Macht der römischen Hierarchie zu begegnen und Einhalt zu thun" - er, der Ex-Kaplan aus Breslau. Und er ward der Held des Tages! Ein neuer Luther wurde er genannt. In dem gleichfalls wegen Bruchs des Zölibats suspendierten Kaplan Johannes Czerski, der in Schneidemühl eine "christlich-katholische Kirche" gegründet hatte, fand er einen Verbündeten. Und nun begann Ronges Siegeszug durch Nord-, West- und Südwestdeutschland - der nur an Bayerns Grenzen halt machen mußte. Sein Publikum: mit ihrer Kirche innerlich zerfallene Katholiken und Protestanten, hauptsächlich die kleinen und größeren Bourgeois der Städte; unzufriedene protestantische Pastoren und zölibatsflüchtige katholische Priester. Aus ihnen rekrutierten sich die Prediger der "deutsch-katholischen Kirche". (Fs)

Ein Konzil gab es gar, in Leipzig, Ende März 1845. Sein Präsident: der Stenographielehrer Wigard. Die Hauptrolle spielte der Theaterkassier Robert Blum, später Führer der extremen Linken in der Frankfurter Paulskirche, der nach dem Zusammenbruch der Wiener Revolution 1848 dort erschossen wurde. (Fs)

Vom eigentlichen Christlichen blieb nichts mehr übrig, platter Rationalismus war das Dogma der neuen "Kirche", ihre Moral erschöpfte sich in sozialen und pädagogischen Initiativen. Das Leipziger "Konzil" überließ denn auch die Bibel der Auslegung durch jeden einzelnen, ebenso die Entscheidung, ob man an die Gottheit Jesu Christi glauben wolle oder nicht. (Fs)

Papsttum, Beichte und spezifisch katholische Frömmigkeit wurden verworfen. Man dachte sich auch eine deutsche Liturgie aus und verabreichte zum "Abendmahl" Brot und Wein. Selbstverständlich war die freie Wahl der Prediger durch die Gemeinden. (Fs)

163a Im Hochgefühl, eine Großtat vollbracht zu haben, rief Ronge aus: "Ha, mich schauert, daß wir schon so nahe daran! - Doch jetzt ist's vorüber. Der große Wurf ist gelungen, der Fortschritt des Jahrhunderts ist gerettet. Der Genius Deutschlands greift schon nach dem Lorbeerkranz - und Rom muß fallen!"

Bezeichnend ist der enthusiastische Beifall, den Ronge aus dem rationalistischen Lager des Protestantismus erhielt. Selbst der Berliner Hof schenkte ihm Beachtung, und fürs erste förderte ihn auch die preußische Regierung. Doch - Rom fiel nicht, und um 1860 war der Spuk zu Ende. Reste verloren sich in der Gottlosenbewegung der "Lichtfreunde" und anderswo. (Fs)

Nationalkirche?

Inzwischen hatte die ultramontane, d. h. bewußt romorientierte und papsttreue Bewegung, die den Pontifikat Pius' IX. kennzeichnet, auch in Deutschland ihre Kraft entfaltet und natürlich auch Gegenreaktionen des "Anti-Ultramontanismus" ausgelöst. Der "Syllabus" Pius' IX. mit seiner Verurteilung des Rationalismus, Liberalismus und Kommunismus, der Staatsomnipotenz usw. hatte in der liberalen Bourgeoisie zu schärfsten Protesten gegen Rom geführt. Man sah die gesamte moderne Kultur und Zivilisation durch ein finsteres römisch-jesuitisch mittelalterliches Komplott gefährdet. Sein Ziel: die Weltherrschaft des Papstes! (Fs) (notabene)

Nun ergab sich im Vorfeld des 1. Vatikanischen Konzils auf der Basis des Protestes gegen Rom und seine "ultramontanen Umtriebe" eine Allianz zwischen antiultramontan-nationalistischen Katholiken und dem liberalen Protestantismus, repräsentiert durch den Protestantenverein, dessen Protagonisten längst mit dem authentischen Christus-Glauben gebrochen hatten. (Fs)

"Katholikenvereine" schossen, im deutschen Südwesten zumal, aus dem Boden, und man erstrebte nicht mehr und nicht weniger als eine gemeinsame protestantisch-katholische rom- und natürlich auch dogmenfreie deutsche Nationalkirche. Die "Allgemeine Zeitung", Deutschlands meistgelesenes Blatt, machte sich zum Sprachrohr dieser Bewegung, die dann nach dem Konzil von 1869/70 mit seinen Papstdogmen in den Kulturkampf mündete. Frucht der Anti-Konzilsagitation war der Altkatholizismus. Er hatte - im wesentlichen eine Bewegung von Universitätsprofessoren und Bourgeois - anfanglich Anhang gefunden, schrumpfte aber alsbald wieder zusammen. Mochte der antirömische Protest auch von der staatlichen Bürokratie offen unterstützt werden, das katholische Volk hat sich ihm nie und nirgendwo angeschlossen. (Fs) (notabene)

164a Im Gegenteil: Gerade im Gefolge des Konzils nahm der deutsche Katholizismus, der sich immer mehr als papsttreu erwies, einen staunenswerten Aufschwung. Volksfrömmigkeit, sozial-karitative Initiativen, Verbände, Orden, Einsatz für die Weltmission - das alles blühte mächtig auf, und der Widerstand gegen die Arroganz des kulturkämpferischen Staates vereinte Katholiken, Klerus und Episkopat zu einer imponierenden Phalanx, an der schließlich selbst ein Bismarck gescheitert ist. (Fs)

Auch die "Los-von-Rom-Bewegung", die dann in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts von sich reden machte, konnte in Deutschland kaum Erfolge erzielen. Anders war dies in Österreich. Durch das "Linzer Programm" der österreichischen Deutschnationalen von 1882 und den 1893 gegründeten, ebenso antikatholischen wie antisemitischen "Alldeutschen Verband" erstrebten dessen Führer die Eingliederung Deutsch-Österreichs in das Deutsche Reich sowie die Lostrennung der österreichischen Katholiken von Rom als Voraussetzung für die Gründung einer "deutschrassigen" Einheits-Nationalreligion. In Österreich jedoch hatte diese Bewegung bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hinein beträchtliche Erfolge. Die heutige Krise des österreichischen Katholizismus hat hierin ihre historischen Wurzeln! (Fs) (notabene)

Am Ende dieses flüchtigen Überblicks über die "Fieberanfälle" im deutschen Katholizismus drängt sich eine Einsicht auf: Außer den Versuchungen des Rationalismus und Liberalismus, also der unbewältigten Aufklärung und ihres Lebensgefühls, war dabei auch immer eine nationalistische Strömung wirksam, die das Deutschtum höher hielt als das Katholischsein. Im deutschen Nationalgefühl war man auch mit den Protestanten einig - und beiden war das "welsche Rom" suspekt. Ein deutsches Christentum als nationale Einheitsreligion, als Basis nationaler Einheit, erstrebte der Liberalismus - längst bevor Hitler seine "Deutschen Christen" erfand. (Fs)

Und heute?

165a Trotzdem: alle diese Fieberanfälle gingen vorüber. Am Ende blieb der gesunde Glaubenssinn resistent gegen die Flötenklänge der Rattenfänger. Mit dieser Feststellung ist aber nicht schon die Frage beantwortet, ob wir uns auch in der gegenwärtigen Krise auf diese bewährte Widerstandskraft verlassen dürfen. Daran ist allerdings zu zweifeln. Die Umstände von heute sind anders. Die Macht der Medien, denen die große Masse der Katholiken ausgeliefert ist, der Ausfall geistiger Führung durch einen theologisch desorientierten und verunsicherten Klerus - das alles macht die Katholiken anfällig für die Propheten des Zeitgeistes. Und die haben angesichts einer Fernsehgesellschaft, die ihr Kritikvermögen weithin verloren hat, ein gar leichtes Spiel. Hinzu kommt der nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassende kulturelle Zusammenbruch, der sich auch in einer akuten Glaubenskrise des deutschen Katholizismus äußert. Was diesen in den Erschütterungen der jüngeren Vergangenheit so widerstandsfähig gemacht hatte, war die enge Verbindung der Bischöfe mit dem Papst, war die geistige Geschlossenheit des Klerus und die Einigkeit der Gläubigen mit Papst, Bischof und Priestern. (Fs) (notabene)

165b Wenn der deutsche Katholizismus aus seiner augenblicklichen Krise ebenso neu gekräftigt hervorgehen soll wie aus den vergangenen Stürmen, dann allerdings ist ein hoher Einsatz gefordert. Der aber wird nur möglich sein, wenn jener enge Schulterschluß zwischen Bischöfen und Papst, Priestern und Bischof, zwischen Gläubigen und Priestern wiederhergestellt wird, der sich bisher bewährt hat -und wenn man aus dem Wahn erwacht, am deutschen Wesen müsse die Kirche genesen. (Fs)

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