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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche am Vorabend der Französischen Revolution; Ancien Regime: 5 Typen religiöser Haltung; Fundamentalismus

Kurzinhalt: Die apologetischen Schriftsteller argumentieren nämlich nur systemimmanent: z. B. Unglaube ist Beleidigung des Gottes, der die Wahrheit und Liebe ist. So aber konnte man doch nur zu Gläubigen sprechen.

Textausschnitt: 146a Eine fast unumgängliche Frage, die jeder sich stellen muß, der über Gegenwart und Zukunftsaufgaben der Kirche reflektiert und über die Neuevangelisierung Europas nachdenkt, heißt: Hat es Ähnliches schon einmal gegeben? Ebenso natürlich wie die Frage ist die Antwort: Selbstverständlich! Und zwar mehrfach. Einmal ging es zu Beginn des Mittelalters darum, auf den Resten römischen Christentums in Gallien, Britannien und Germanien die Kirche neu aufzubauen. Sodann hat die Reformation in Zentraleuropa einen kirchlichen Trümmerhaufen hinterlassen, den es wieder aufzubauen galt - und schließlich stellte die von Aufklärung und französischer Revolution bewirkte Entchristlichung vor allem Frankreichs die Kirche vor die Aufgabe einer Neuevangelisierung. (Fs)

Wir begnügen uns hier damit, den letztgenannten Fall näher zu untersuchen. Dies vor allem deswegen, weil die geistes-, gesell-schafts- und kulturgeschichtlichen Verhältnisse von heute im Wesentlichen noch immer von den Ereignissen von 1789 geprägt sind und geradezu deren mittlerweile zur Vollreife gelangte Frucht darstellen. Natürlich ist dabei zu berücksichtigen, daß es zwar "nichts Neues unter der Sonne" gibt, daß aber auch Geschichte sich nicht wiederholt. So einfach lassen sich historische Parallelen nicht konstruieren. Dennoch bringt es immer Gewinn, bei der Geschichte, der großen "Magistra vitae", in die Schule zu gehen. (Fs)

Gehen wir also unsere Aufgabe in mehreren Schritten an. Zunächst gilt es zu fragen, welches Bild die Kirche in Frankreich am Vorabend der Revolution bot, sodann ist zu zeigen, wie die Revolution gegen Kirche und Religion verfuhr und welchen Erfolg sie damit erzielte, und schließlich ist die Rechristianisierung Frankreichs darzustellen und zu fragen, welche Faktoren hierbei wirksam waren und was sie zu bewirken vermochten. Endlich wäre danach zu fragen, welche Anregungen bzw. Erkenntnisse sich daraus für heute ergeben könnten. (Fs)

Die Ecclesia Gallicana am Vorabend des 14. Juli 1789

147a Begnügen wir uns mit knappsten Informationen: Frankreich zählte ca. 26 Millionen Einwohner, davon waren 500000 Protestanten und 40000 Juden. Die 25,5 Millionen Katholiken lebten in 139 Bistümern und ca. 40000 Pfarreien. Sie wurden von ca. 50000 Seelsorgepriestern pastoral versorgt, daneben gab es ca. 15000-18000 Kanoniker, ca. 20000 männliche und 30.-40000 weibliche Ordensleute. Die Kirche besaß ca. 10 Prozent von Grund und Boden, die ein Jahreseinkommen von 150 Millionen Livres abwarfen, die gleiche Summe ergab der Zehnt. An den Staat wurden davon freiwillig 2 Prozent abgeführt. Von diesem Einkommen bestritt die Kirche das gesamte Bildungswesen sowie die gesamte Sozialfürsorge. Das bedeutete eine institutionelle Durchdringung des ganzen Lebens mit kirchlichen Elementen. Soweit der institutionell-gesellschaftliche Befund. (Fs)

Wie aber verhielt sich das Volk zu Glaube und Kirche? Jean de Viguerie unterscheidet fünf Typen religiöser Haltung während des Ancien Regime:

1. Die aufgeklärten Gegner der Religion aus den Kreisen der Intellektuellen, Künstler, Kaufleute und Beamten. (Fs)
2. Die aufgeklärten Katholiken: die einen tendierten zum Deismus, die anderen bekämpften nur gewisse ihnen suspekte Formen der Frömmigkeit. Beide sind häufig in Klöstern zu finden: insbesondere bei den Oratorianern und den Benediktinern von Saint-Vanne bzw. den Maurinern. (Fs)
3. Die immer noch zahlreichen Jansenisten: Sie übten bittere Kritik an allen, die nicht ihrer Meinung waren. (Fs)
4. Die praktizierenden Gläubigen mit wenig tiefer Überzeugung und laxer Moral. Und endlich
5. die gewissenhaften, frommen Katholiken - sie stellten die weitaus größte Zahl! Sie finden sich in allen Milieus, weniger in der Geschäfts- und Finanzwelt. Zahllos sind sie auf dem Land sowie im Klerus und in den Klöstern. Sie werden von den Aufklärern ebenso bekämpft wie von den Jansenisten. Ihre Haltung wird von den Aufklärern "Fanatisme" genannt. (Fs)

148a De Viguerie resümiert: Bischöfe und Pfarrklerus waren wie zuvor tugendhaft und pflichteifrig. Aber die Situation verschlechterte sich durch die aufklärerische Propaganda gegen die Religion und durch das geistige Unvermögen der Katholiken zu einer adäquaten Antwort. Die apologetischen Schriftsteller argumentieren nämlich nur systemimmanent: z. B. Unglaube ist Beleidigung des Gottes, der die Wahrheit und Liebe ist. So aber konnte man doch nur zu Gläubigen sprechen. Zu einer Auseinandersetzung mit den Ungläubigen erwies man sich als unfähig! Man redete auf verschiedenen Ebenen aneinander vorbei. Insofern ist der Vorwurf des Fanatismus, den Aufklärer gegenüber den Gläubigen erhoben, zu verstehen. Wir stehen also vor dem Phänomen eines sehr lebendigen, starken und das Leben prägenden Glaubens, der freilich, weil nicht mehr selbstkritisch reflektiert, nicht in der Lage war, jedermann "Rechenschaft über die Hoffnung" zu geben, die ihn beseelte. Der Rückgriff auf die Theodizee der großen Scholastik wäre imstande gewesen, diese Aufgabe zu leisten: Ein Beweis für die Notwendigkeit seriöser intellektueller Bemühungen um die Glaubensbegründung und die Gefährlichkeit des Rückzugs auf die bloße Frömmigkeit! Hier konnte man vielleicht mit Recht von "Fundamentalismus" sprechen. (Fs) (notabene)

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