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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Barock - Rehabilitation der Sinne; Liturgie; Barockdrama; Ignatius von Loyola



Kurzinhalt: In all den zur Illustration hier angeführten Fällen tritt eins zutage: Die Sinne des Menschen werden hier als die Einfallstore zu seiner innersten Seele verstanden, durch die die Botschaft des Evangeliums eindringen soll.

Textausschnitt: 132c Die hier skizzierte Lehre des Konzils von Trient machte es durch ihre zwar nicht wortwörtlich ausgesprochene, doch aber aus ihr folgende theologische Rehabilitation der Sinne möglich, daß die vielfältigen Formen menschlichen, leiblichen Tuns vor allem in Kult und Kunst ihr strahlenden Ausdruck verliehen. Daß nach der tridentinischen Rechtfertigungslehre der ganze vorher dem Unheil verfallene Mensch durch die Taufe zu einer - so schon Paulus (2 Kor 5,17 und Gal 6,15) - neuen Schöpfung geworden und Gott in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu dienen berufen sei, erkannte man als einen Appell, alle geistigen, leiblichen und sinnlichen Kräfte des Menschen der Verwirklichung des einen Zieles und Zweckes der Schöpfung, der "Gloria Dei", dienstbar zu machen. Das bedeutete für Künste und Künstler, daß sie in Gestalt, Linie, Farbe, Wort und Ton die Werke Gottes in Erschaffung und Erlösung zu verkündigen, und dem Glauben, der Anbetung und Hingabe des Menschen sinnenhaften Ausdruck zu verleihen vermochten. (Fs)

133a Allein schon die Architektur des barocken Kirchenbaus wurde durch vielfältige Symbolik, der etwa die Dreizahl der göttlichen Personen, die Vierzahl der Kardinaltugenden, die Siebenzahl der Sakramente oder die Zwölfzahl der Apostel zugrunde lag, zu einer stummen Predigt. In den Figuren der Heiligen wurde überdies dem Beschauer beständig das Beispiel heroischen christlichen Lebens vor Augen gestellt, Altargemälde und die ikonographischen Programme der Fresken erinnerten den Kirchenbesucher an die Szenen aus beiden Testamenten und an die jenseitigen Dinge. Selbst die so makabre Verkleidung von Gruftkapellen mit unzähligen Teilen von Skeletten und die malerische und auch literarische Darstellung von Tod und Verwesung war nichts anderes als ein in der Sprache der Künste ausgesprochenes Memento mori. "Die Kunst Bayerns" - und das läßt sich zweifellos verallgemeinern -"erwächst damals aus der geschlossenen Einheit von Kirche und Welt. So kann sie Schöpfung und Gesellschaft bejahen und in den Dienst Gottes stellen. Alle Pracht dient, auch wo berechtigter Stolz an eigener Leistung und Stellung mitspricht, doch dazu, die Gegenstände des Glaubens schaubar zu machen ... Wissen, Schauen und Glauben waren eins" (S. Benker). (Fs)
Hinzu trat die Gestaltung der Liturgie, die in dem andächtigen Teilnehmer das Bewußtsein von der Größe des sich im eucharistischen Opfer vollziehenden Mysteriums der Erlösung wecken sollte. Vor allem war es der durch das Tridentinum aufs neue bekräftigte Glaube an den "vere realiter et substantialiter" - wahrhaft, wirklich und dem Wesen nach - in der Eucharistie gegenwärtigen Christus, der die Formen des Gottesdienstes prägte: Der feierlichste Gottesdienst war darum die Messe vor dem in der sonnenförmigen prachtvollen Strahlenmonstranz der gläubigen Schau in Gestalt der Hostie dargebotenen Leib des Herrn. Vor ihm taten Klerus und Ministranten einen geradezu höfisch-zeremoniellen Dienst, für den das Schönste und Kostbarste an Gewand, Gerät und Schmuck noch eben genügte. Vermittelte dies dem Auge, so die immer reicher und fülliger werdende Musik dem Ohr, Weihrauch und Blumen dem Geruch einen lebendigen und tiefen Eindruck von der Nähe der göttlichen Majestät, durch den auf dem Weg über alle Sinne des Menschen in dessen Innerem die Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe geweckt und gestützt wurden. In klassischer Form läßt Friedrich von Schiller den jungen Mortimer jenen Eindruck barocker Liturgie in "Maria Stuart" schildern. Merkwürdig und aufschlußreich, wie sehr der Dichter des 19. Jahrhunderts - im Gegensatz zur Geringschätzung des Barocks, die seine Zeit kennzeichnete - das ganz und gar barocke Erleben des Mortimer nachfühlen und ausdrücken konnte. (Fs)

134a Ganz bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind auch die dramatischen Ausgestaltungen der offiziellen Liturgie, besonders an den hohen Festen. Aus dem Bamberger Rituale des bedeutenden Lothar Franz von Schönborn von 1724 ist zum Beispiel die Nachmittagsprozession am Himmelfahrtstage bekannt. Inmitten der Kirche wurde ein Tisch aufgestellt, auf dem zwischen brennenden Kerzen eine Statue des auffahrenden Herrn aufgestellt wurde. Vor ihm knieten Klerus und Ministranten nieder, dann trug man in Prozession die Statue durch die Kirche, während man den Himmelfahrtshymnus "Aeterne Rex" sang. Schließlich kehrte man zu dem Tisch zurück, setzte die Statue dort nieder und sang nach Psalm und Oration im Wechsel mit dem Chor die Antiphon "Ascendo ad Patrem meum et ad Patrem vestrum, Deum meum et Deum vestrum, alleluja" - Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Mittlerweile waren zwei Knaben auf den Dachboden der Kirche gestiegen und sangen, die Engel darstellend, deren Frage an die Jünger: " Viri Galilaei quid aspicitis in caelum?" - Ihr Männer von Galiläa, was schaut ihr zum Himmel hinauf? Ihnen antwortete der Chor: "Hie Jesus, qui assumptus est a vobis in caelum, sic veniet, alleluja!" - Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen! Während man dies dreimal sang, wurde die Statue langsam durch eine Öffnung durch das Kirchendach gezogen. - War sie "den Blicken entschwunden", sang die ganze Gemeinde "Christ fuhr gen Himmel". Und, um die ganze theologische Symbolik auszuschöpfen, warf man von oben (unkonsekrierte) Hostien und goß Wasser hinab: Der Herr hatte die Seinen nur sichtbar verlassen, in den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie blieb er bei ihnen. - Ähnliches vollzog sich an Pfingsten, wo man unter analogen Antiphonen und Gebeten nach dreimaligem "Veni sancte Spiritus" - komm, heiliger Geist - eine Taube von oben hinabließ, mancherorts warf man brennende Watteflocken hinunter, um die feurigen Zungen des Pfingsttags darzustellen. Darstellung, sinnenfällige Darstellung des Mysteriums war auch die Absicht, der die gleichfalls im Zeitalter des Barock zur höchsten künstlerischen Blüte geführten figürlichen Weihnachtskrippe wie auch das "Castrum doloris", das Heilige Grab, dienen sollten. Welches Gewicht all diesen Dingen für das religiöse Leben zukam, erhellt gerade aus der Tatsache, daß den in protestantischen Orten lebenden Katholiken all dies, das Tragen von Rosenkränzen, von Palmzweigen am Palmsonntag, das Aufstellen von Krippe und Heiligem Grab, Prozessionen und dergleichen mehr verboten war, wie wir etwa aus dem Fürstentum Ansbach-Bayreuth wissen. (Fs)

135a Große Bedeutung hatten auch die Prozessionen, in deren Vollzug sich die Gläubigen als streitende und pilgernde Kirche erlebten, die auf dem Weg zum Himmel von Christus in der Monstranz und seinen Heiligen begleitet wurden, deren Statuen man mittrug. Ähnlich verstand man auch die zahlreichen Wallfahrten.

Selbst die Predigt und die erstaunlich zahlreiche und auflagenstarke religiös-erbauliche Literatur dieser Zeit suchte den Zugang zu den Herzen über die Sinne der Hörer und Leser. Daher die Fülle, Farbigkeit und Plastik der Bildersprache der Zeit. So meinte etwa Franz von Sales in seiner "Philothea", alles in der Welt spreche eine stumme, aber wohl verständliche Sprache, es gebe kein Geschöpf, das nicht das Lob Gottes verkünde und zu frommen Gedanken anrege. Das Anschwemmen von Muscheln, Pflanzen und kleinen Austern am Strand ist ihm ein Sinnbild für den hin- und hergetriebenen Menschen, ein Hase, der vor den Hunden flüchtet, stellt die von ihren Feinden verfolgte Seele dar, ein kleines Schäflein erinnert sogleich an das Lamm Gottes, und die dornentragende Rose symbolisiert ihm die durch die Erbsünde verwundete Schöpfung. (Fs)

136a Jeder kennt schließlich die ungemein drastischen und plastischen Vergleiche, mit denen ein Abraham a Santa Clara seine Predigten würzte - und in seinem Gefolge noch viele Prediger des Barock, deren Werke erst jetzt die Germanisten zu interessieren beginnen. (Fs)

In diesem Zusammenhang muß auch das religiös-moralische Barockdrama erwähnt werden, das, namentlich von den Jesuiten und Benediktinern, zu hoher literarischer Blüte geführt wurde. Ganz im Sinne der barocken Neigung zur Allegorese wurden hier Tugenden, Laster, Seelenregungen und jenseitige Mächte personifiziert auf die Bühne gestellt. So sehr zog solches Spiel die Zuschauer in seinen Bann, daß sie oftmals eine aristotelische Katharsis im christlichen Sinne erlebten: Von einer Münchener Aufführung von Jakob Bidermanns berühmtem "Cenodoxus, der Doktor von Paris" wird in der Vorrede zum Druck der Bidermannschen Dramen von 1666 berichtet: "Wiewohl dieses Stück die Lachmuskeln der Zuschauer so in Bewegung versetzte, daß die Stühle in Gefahr gerieten, so machte es doch auf die Zuschauer einen so heilsamen Eindruck, daß man vierzehn derselben, hochgestellte Persönlichkeiten am bayerischen Hof, an den folgenden Tagen sich in die Einsamkeit zurückziehen sah, um Exerzitien zu machen und ihr Leben zu ändern; hundert Predigten hätten keinen solchen Erfolg gehabt. Ja, bei den Schlußszenen, in denen Cenodoxus vor seinem ewigen Richter erscheint, zitterten die meisten Zuschauer an allen Gliedern, als ob sie daselbst gerichtet würden. Der Schauspieler der Hauptrolle trat bald darauf in unsere Gesellschaft ein, worin er nach einigen in Unschuld und Heiligkeit verbrachten Jahren selig starb."

136b Bereits von Ignatius von Loyola wissen wir, daß er in seinen Exerzitien die sogenannte "Applicatio sensuum" - sinnenhafte Vorstellung z.B. der biblischen Begebenheiten - für eine wichtige Vorstufe der religiösen Betrachtung hielt. Bei den Betrachtungen über das Leben Jesu, die normalerweise in der zweiten Woche der Exerzitien anzustellen waren, weist er den Exerzitanten an, so zu beginnen: "Zurichtung des Schauplatzes. Hier schauen die gesamte Weite des Erdenrundes, auf dem so viele und so verschiedenartige Völker wohnen; und nachher im besondern das Haus und die Zimmer Unserer Herrin in der Stadt Nazareth in der Provinz Galiläa ... Der erste Punkt ist: sehen die Personen, die einen und die andern. Und zuerst die über dem Erdkreis, in so großer Verschiedenheit der Tracht wie des Benehmens, die einen weiß und die andern schwarz, die einen im Frieden und die andern im Krieg, die einen weinend und die andern lachend, die einen gesund und die andern krank, die einen geboren werdend, die andern sterbend usf. Zweitens: sehen und erwägen die drei Personen auf Ihrem Königsstuhl oder Thron Seiner Göttlichen Majestät, wie Sie das ganze Erdenrund überblicken und alle Völker in so großer Blindheit dahinleben und sterben und zur Hölle fahren sehen." Bedenkt man nun, welch ungeheure Verbreitung das Exerzitienbüchlein hatte - bis zum Ende des Jesuitenordens im Jahre 1773 wurden mehr als sechshundert Kommentare dazu geschrieben -, dann ist zu ermessen, wie sehr hieraus der Geist einer Zeit sprach - und wie sehr der Geist des Barock dadurch wiederum geformt wurde. (Fs)

137a In all den zur Illustration hier angeführten Fällen tritt eins zutage: Die Sinne des Menschen werden hier als die Einfallstore zu seiner innersten Seele verstanden, durch die die Botschaft des Evangeliums eindringen soll. Das hinwiederum ist deshalb möglich, weil die Welt, deren Vielfalt, Glanz und Schönheit die Sinne wahrnahmen, dem Menschen des Barock ein Abglanz der himmlischen Herrlichkeit war. (Fs) (notabene)

137b Dienten so die bislang oft mit religiösem Mißtrauen betrachteten Sinne des Menschen als Organe zur Aufnahme und inneren Aneignung des Evangeliums, so kam ihnen, dem Leib des Menschen überhaupt, auch die Funktion zu, dem Inneren, dem Glauben, Hoffen und Lieben des Christen, Ausdruck zu verleihen. Dabei ergab sich eine dem elektromagnetischen Rückkopplungseffekt analoge Wirkung: Was solchermaßen an seelischen Vorgängen sinnenhaften Ausdruck fand, strömte durch die gleichen Tore, aus denen es geflossen war, zurück, der Quelle neue Nahrung zuführend. (Fs)

Anbetung äußerte sich demnach im körperlichen Vollzug kultischer Formen - in Verneigung und Kniebeugung, im prunkvollen Schmuck, mit dem man die als Königsthron Christi verstandene Monstranz umgab. Die Inständigkeit der Bitte drängte spontan zum Niederwerfen vor dem Altar oder dem Bild des Heiligen, von dem man Fürsprache bei Gott erbat. Buße, Schmerz über die Sünde wollten im sinnlichen, fühlbaren Schmerz realisiert werden: Bußgürtel, Geißelung, Tragen schwerer Kreuze oder schäbiger Kleidung dienten als Mittel, sie auszudrücken. Die innere Verbindung mit der Gottesmutter Maria sollte durch das Tragen von Rosenkränzen, Medaillen, Skapulieren öffentlich sichtbar werden. (Fs)

138a Diese in all den als Beispiel angeführten Fällen bewußt-unbewußt verwirklichte Einbeziehung von Leib und Sinnen des Menschen in den Heilsprozeß bedeutete nun nicht nur eine lebensvolle Konkretisierung des Glaubens, sie hatte zugleich eine Heiligung der sinnlichen Sphäre zur Folge. Was hier sichtbar wird, ist eine spannungsreiche Harmonie von Leib und Geist im Menschen, wie sie in je gewandelter Form zu jeder Zeit Aufgabe menschlicher und christlicher Selbstverwirklichung bleibt. (Fs)

138b Aus der so möglichen Tiefe des Erlebens konnte sich auch eine Szene wie die folgende ereignen: Soeben mit dem Doktorhut der philosophischen Fakultät in Ingolstadt ausgezeichnet, ging der etwa zwanzigjährige Elsässer Jakob Bälde an einem Abend des Jahres 1624 durch die Gassen der Universitätsstadt. Sein Ziel: das Haus des Bäckermeisters Dolnhover, dessen Tochter er verehrt. Unter ihrem Fenster singt und spielt er seine Serenade. Doch statt einer Antwort schlägt's Mitternacht von den Türmen, und vom nahen Kloster Gnadental weht der Wind die Klänge der beginnenden Matutin. Da packt es den leicht bewegbaren Elsässer: "Cantatum satis est: frangito barbiton! - Schluß mit den Liedern: Zum Teufel mit der Laute!" ruft er, zerschmettert die Laute an der Wand des Hauses - und ward am nächsten Morgen Jesuit. Spontaneruption einer barocken Kraftnatur! Sie ließ ihn später acht Bände bedeutender Lyrik hervorbringen, bis er 1668 starb. In solchen Gestalten wie jenem großen Jesuitendichter wird sichtbar, wie sehr in dieser Zeit Geistigkeit und Vitalität sich zu schöpferischer Harmonie gefügt hatten. B. Hubensteiner charakterisiert Baldes Werk mit einer Formulierung Eliots: "ein unmittelbar sinnliches Ergreifen des Denkens oder ein Umschaffen des Denkens zum Fühlen". (Fs)

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