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Autor: Schooyans, Michel

Buch: Ethik, Leben, Bevölkerung

Titel: Ethik, Leben, Bevölkerung

Stichwort: [61] Ist nicht die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Freiheit ein Wesensmerkmal der demokratischen Gesellschaft?

Kurzinhalt: Eine übertrieben individualistische Gesellschaft stellt mittlerweile alles und jedes zur Disposition, von der Abtreibung über sämtliche Formen der Diskriminierung bis zur Euthanasie.

Textausschnitt: Der Wille, die Abtreibung zu liberalisieren, beruht auf einem sehr eingeengten Freiheitsbegriff (s.a. 37), wie ihn viele unserer Zeitgenossen hegen (s.a. 118-121). Er ist so überzogen, daß für die Gleichheit der Menschen und mithin für die Idee der Pflicht kein Platz mehr bleibt (EV 4). (Fs)

a) Nach dieser Vorstellung besteht die Freiheit jedes einzelnen darin, daß er alles tun kann, was ihm paßt, und daß er sein Verhalten einzig nach seinem Vergnügen ausrichtet. Dabei erzeuge das individuelle Gewissen in jedem Augenblick die für diesen gerade passende sittliche Norm. Damit gelangt man zu einem Verhalten, das sich nicht mehr an einem anzustrebenden Guten oder einem zu unterlassenden Bösen orientiert. Deshalb erinnert Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Veritatis Splendor daran, daß sich die Freiheit an der Wahrheit orientiert und nicht umgekehrt, und daß die Wahrheit keine »Schöpfung der Freiheit« ist.1 Nicht dem einzelnen obliegt es, Gut und Böse nach seinem persönlichen Belieben zu definieren (EV 20, 76). (Fs)

b) Eine übertrieben individualistische Gesellschaft stellt mittlerweile alles und jedes zur Disposition, von der Abtreibung über sämtliche Formen der Diskriminierung bis zur Euthanasie. Es gibt kein gemeinsames Streben nach dem Guten mehr, keine gemeinsame Suche nach der Gerechtigkeit. Sogar der Begriff des Gemeingutes verliert seinen Sinn, denn es gibt nur noch das partikulare Gute. In einer solchen Gesellschaft ist für den Kompromiß kein Platz mehr. Es geht nur noch um einen Meinungsaustausch im Rahmen einer totalen Toleranz (s.a. 62) gegenüber dem, was jeder gerade für gut oder schlecht hält. (Fs)

Um nicht völlig der Anarchie zu verfallen, wird deshalb nach dem Ausgleich zwischen den Einzelinteressen gesucht. Dabei gelten sämtliche Optionen als »gleichermaßen respektabel«, wobei man sich aus Nützlichkeits- oder Interessenerwägungen an eine rein »prozedurale Moral« hält (EV 68).1 Damit triumphieren »Ethik-Komitees«, die von Fall zu Fall und ohne Bezug auf irgendwelche normative moralische Prinzipien entscheiden. Daraus leitet sich der Ruf nach der Tyrannei der Mehrheit (s.a. 42) und nach der Abweichungstaktik (s.a. 3) her. Gerade im letzteren Fall werden auf das Recht die Verfahrensweisen der Kasuistik angewendet: So wie diese die Moral korrumpiert, verdreht die Abweichungstaktik das Recht. Die Gültigkeit allgemeiner Rechtsgrundsätze wird rundweg geleugnet, vielmehr paßt man diese der jeweiligen Lust und Laune und den Interessen derer an, denen man zu gefallen sucht.2 Damit feiert die Sophistik fröhliche Urständ. Was hier und heute verboten ist, kann dort und morgen erlaubt sein, denn es geht jederzeit und überall einzig darum, den einzelnen (der die Machtmöglichkeit hat, diese Maxime zu seinen Gunsten durchzusetzen) möglichst wenig zu stören, und für diesen, sich möglich wenig gestört zu fühlen. (Fs)

c) Damit bleibt für eine allgemeingültige Moral als Grundlage der menschlichen Gesellschaft kein Platz mehr. In einer solchen Freiheitsauffassung ist alles relativ. Selbst die universelle Menschenrechtserklärung verliert ihren Sinn. Es gibt nur noch Individuen, und das übersteigerte Hochhalten der Freiheit des einzelnen spaltet zwangsläufig die Menschen, weil die Interessen nicht die gleichen sind (EV 18). (Fs)

d) Die westlichen Demokratien geraten auf die schiefe Bahn, denn anstatt sich an Werten wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität zu orientieren, herrscht nur noch der rein »prozedural« bestimmte und von der gerade herrschenden Wertskala definierte Konsens. So sind die nationalen wie internationalen politischen Beratungsversammlungen gewissermaßen zu erweiterten Ethik-Komitees verkommen, in denen der Stärkere den Konsens durchzusetzen versucht, der seinen Interessen am besten dient. (Fs)

e) Dadurch wird die Schaffung einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft verunmöglicht, weil man die gleichen Grundrechte aller Menschen leugnet und sie durch Partikularinteressen einiger weniger ersetzt. (Fs)

f) Kurzum: Der ultra-individualistische Freiheitsbegriff wendet sich gegen die Freiheit selbst. In ihm wird die politische Dimension des menschlichen Daseins geleugnet; man gelangt zur Anarchie. Denn Anarchie ist ja nichts anderes als das Fehlen jedes Prinzips, somit das Fehlen einer legitimen Gewalt und mithin einer Regierung, die das Gemeinwohl im Auge hat (EV 72). (Fs)

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