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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kreuzzüge: Begriff, Motive, Ergebnisse, Würdigung, Eroberung Konstantinopels

Kurzinhalt: Ein angemessenes historisches Urteil über die Kreuzzüge muß vor allem die höchst komplexe Natur dieses historischen Phänomens in Rechnung stellen. Das, was am meisten Kritik erregt, ist die Idee des Heiligen Krieges, Krieg im Namen Gottes! Man muß ...

Textausschnitt: 96a 900. Wiederkehr des Tages, an dem Jerusalem von den Rittern des 1. Kreuzzugs unter der Führung des Grafen Gottfried von Bouillon erobert wurde - es war der 15. Juli 1099 - hat der Diskussion über Sinn oder Unsinn, Berechtigung oder Unrecht der Kreuzzüge neuen Anlaß geboten. (Fs)

Begriffe

96b Im Hinblick darauf scheinen einige Klarstellungen angebracht zu sein: Unter Kreuzzug versteht man normalerweise ein militärisches Unternehmen, das vom Papst autorisiert wurde, um die Heiligen Stätten zurückzuerobern, oder um die Bevölkerung oder die christlichen Reiche oder auch die Rechte der Kirche zu verteidigen. Im besonderen aber versteht man unter Kreuzzug jene Versuche vom 11. bis 14. Jahrhundert, die das Ziel hatten, das Heilige Land aus der Herrschaft der Muselmanen zu befreien, wie von der Einnahme Jerusalems am 15. Juli 1099 bis zur Eroberung Akkos durch die Muselmanen im Jahre 1291 geschehen. Üblicherweise zählt man sieben Kreuzzüge, von denen der erste der berühmteste war, der vierte jener, der am meisten Schaden verursachte, da in seinem Verlauf Konstantinopel im Jahre 1204 eingenommen und zerstört und das sogenannte Lateinische Kaiserreich errichtet wurde. (Fs)

Motive

96c Ohne Zweifel hatte die Kreuzzugsbewegung ihren Ursprung in den Pilgerfahrten in das Heilige Land, die seit dem 2. Jahrhundert üblich waren. Eine neue Lage ergab sich aber mit der Eroberung des Heiligen Landes durch den Islam im 7./9. Jahrhundert. Obgleich die christlichen Wallfahrten weiter andauerten, wurden diese zunehmend schwieriger und vor allem gefährlicher, besonders nachdem der Kalif El Hakim 1008 die Basilika des Heiligen Grabes zerstören ließ. Bis zum Jahre 1014 ereilte im Reich der Fatimiden ca. 30000 christliche Kirchen das gleiche Schicksal. Auf diesem Hintergrund entwickelte und verbreitete sich sodann die Idee der bewaffneten Pilgerfahrt. Die praktische Notwendigkeit des Schutzes der Pilger verband sich im Weiteren mit verschiedenen ideologischen Elementen der feudalen Epoche. In dieser Sicht erschien vielen das Heilige Land als ein Erbbesitz des Herrn, dessen Vasallen sich nun verpflichtet fühlten, ihm - das heißt seinem Stellvertreter - dieses Erbe zurückzugewinnen. (Fs)

97a Das ritterliche Ideal der Fürsorge für die Armen und Schwachen, nämlich der durch den Islam bedrohten Christen und die Solidarität mit den christlichen Brüdern, war ein weiteres Motiv für den Kreuzzug. Es diente der Hierarchie als Grund, einige Versuche westlicher Kreuzzüge, sich Konstantinopels zu bemächtigen, in die Schranken zu weisen. Im Zusammenklang mit den großen westlichen, religiösen Bewegungen Ende des 11. Jahrhunderts wurde oftmals auch das Ideal der "vita apostolica" - des Lebens nach dem Vorbild der Apostel, der Nachfolge Christi - genannt, für dessen Verwirklichung die Kreuzzüge eine besondere Gelegenheit boten. Der einzelne Kreuzfahrer mußte große Ausgaben auf sich nehmen, er mußte all sein Hab und Gut verlassen, auch seine Familie, und konnte nicht sicher sein, ob er je wieder zurückkehren werde. Zeugnis für dieses Zurücklassen - "siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt" - sind unter anderem die Testamente der Kreuzfahrer, die uns in großer Zahl erhalten sind. Überwältigend war auch das Verlangen, Jerusalem zu sehen, das Zentrum der Heilsgeschichte und Urbild ihrer ewigen Erfüllung. Man muß gerade deshalb die religiöse Motivierung für die Teilnahme an den Kreuzzügen unterstreichen. (Fs)

97b Es gibt keinen Zweifel, daß die religiöse Ausrichtung der Kreuzzüge keineswegs andere Motive weltlicher und materieller Art ausschloß. Söhne des Adels, die ohne Erbrechte waren, betrachteten die Kreuzzüge als eine Gelegenheit, nicht nur das Heil ihrer Seelen zu erwerben, sondern auch eigenes Land zu gewinnen. Der Papst hingegen - wir sprechen von Urban II. - konnte hoffen, die Idee der "libertas ecclesiae" - Freiheit der Kirche - und die Wiedervereinigung der byzantinischen Kirche mit der lateinischen durch die Befreiung der orientalischen Kirchen von der Unterdrückung durch die Muslime voranzutreiben. Im besonderen betrachteten die italienischen Kreuzfahrer den Kreuzzug als Weiterführung ihrer Verteidigung gegen die muslimischen Piraten» die seit Jahrzehnten ihr Vaterland mit Schrecken überzogen. (Fs)

Ergebnisse

98a Das erste historische Ergebnis der Kreuzzugsbewegung war die Errichtung von vier Feudalstaaten der Kreuzfahrer: das Königreich von Jerusalem, das Fürstentum von Antiochia und die Grafschaften von Edessa und von Tripolis. Deren Behauptung und Ausdehnung war nur dank der militärischen Präsenz der Ritterorden möglich, die gerade in diesem Zusammenhang entstanden waren. Es waren der Templerorden, die Johanniter, der Deutsche Ritterorden und andere kleinere. Gleichzeitig wurde auch eine lateinische Hierarchie eingesetzt, deren Errichtung indes die Beziehungen zwischen lateinischer und griechischer Kirche verständlicherweise belastete. Es gab auch bedeutende Ergebnisse der Kreuzzugsbewegung auf kulturellem Gebiet. Es entstanden eine eigene Literatur, Kunst und Architektur in den Staaten des "oltramare". Vor allem aber gewann der Westen umfassende Kenntnis der arabischen Philosophie, der Naturwissenschaften, im besonderen der Mathematik, der Medizin und der Heilmittelkunde. Es entwickelten sich auch freundschaftliche Wirtschaftsbeziehungen zwischen der islamischen und der christlich-westlichen Welt. Gleichfalls ist festzuhalten, daß nach 1110 die zahlreiche muslimische Bevölkerung der Kreuzfahrerstaaten in Ruhe und Frieden nach ihren eigenen religiösen Gesetzen und Bräuchen leben konnte. Zum Beispiel wurden die Wallfahrten nach Mekka von Seiten der Kreuzfahrer niemals behindert. So geschah es, daß im Jahr 1163 beim Tod des Königs Balduin III. von Jerusalem die Muslime spontan große Trauer um ihn zeigten. (Fs)

Anklagen

98b In der öffentlichen Diskussion über die Kreuzzüge werden gewöhnlich gewisse Anschuldigungen gegen die westliche Kirche oder das Papsttum vorgebracht. Diese betreffen zum einen die Verfolgung der Juden durch die Kreuzfahrer, die sogenannten "Pogrome", die vor dem ersten Kreuzzug in Worms, Mainz und Köln, in Speyer und Halle sich ereigneten. In der Folge beschränkten sich die Pogrome auf Frankreich und England. Der ideologische Hintergrund hierfür war die grob vereinfachende Anwendung der Idee der Blutrache auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden, welch letztere als Mörder Jesu angesehen wurden. Die kirchlichen Autoritäten stellten sich gewöhnlich gegen diesen Volkszorn, hatten aber nur in einigen Fällen Erfolg. Der hl. Bernhard von Clairvaux z. B. war imstande, die Pogrome im Lauf des zweiten Kreuzzuges zu verhindern. Es zeigte sich aber deutlich ein gewisser Unterschied zwischen der offiziellen Verkündigung der Kirche und den Mißverständnissen einer fanatisierten Bevölkerung - ein Phänomen, das nicht nur die psychosoziale Situation von damals kennzeichnete. (Fs)

99a Im besonderen wird die Eroberung Jerusalems am 15. Juli 1099 als blutrünstige Orgie unerhörten Ausmaßes im Zeichen des Kreuzes dargestellt. Wird der Fall Jerusalems aber im Licht der modernen Forschung dargestellt, d. h. auf der Grundlage einer kritischen Prüfung der erzählenden lateinischen, hebräischen und muslimischen Quellen, so verliert dieses Ereignis seinen Ausnahmecharakter. So etwa folgt daraus, daß die Absicht der mittelalterlichen Geschichtsschreiber eine andere war als die einfache Beschreibung der historischen Fakten. Eine genauere Analyse der Texte zeigt, daß die Vorkommnisse des Jahres 1099 in einem Analogiezusammenhang mit gewissen alttestamentlichen Texten verstanden wurden, z. B. mit Josua 6, wo die Eroberung Jerichos so beschrieben wurde: "Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht sein ... Die Stadtmauer stürzte in sich zusammen, und das Volk stieg in die Stadt hinein, jeder an der nächstbesten Stelle. So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel." Oder auch in Offenbarung 14,20: "die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten, und Blut strömte aus der Kelter; es stieg an, bis an die Zügel der Pferde, eintausendsechshundert Stadien weit." Auf diese Art und Weise versuchten die mittelalterlichen Chronisten, den Sieg des Volkes Gottes über seine Gegner auszudrücken. So viel zur literarischen Form einiger Quellen. Die Anzahl der Opfer wird deshalb in den erzählenden Quellen grotesk übertrieben. Das zeigen z. B. die zeitgenössischen Verzeichnisse, die in der alten Synagoge von Kairo gefunden wurden, auf denen zahlreiche Juden, Bürger Jerusalems, die nach der Einnahme der Stadt nach Ägypten emigriert waren, aufgelistet werden. Man muß auch festhalten, daß im Unterschied zu den erzählenden Quellen, die von 100 000 Einwohnern Jerusalems sprechen, die wirkliche Einwohnerzahl Jerusalems 10 000 niemals überstieg. Sie war zudem auf Grund der zahlreichen Kriege mit verschiedenen muslimischen Feinden schon vor den Kreuzzügen deutlich gesunken. Weiters hatten sich bei der Nachricht von der Ankunft der Kreuzfahrer viele Einwohner in die Umgebung außerhalb der Stadt geflüchtet, während die Christen aus der Stadt vertrieben wurden, da man befürchtete, sie würden gemeinsame Sache mit den Angreifern machen. (Fs)

100a Es ist deshalb notwendig, das Ausmaß des Blutbades vom 15. Juli 1099 gegenüber den erzählenden Quellen deutlich einzuschränken. Im Ausmaß, in dem Grausamkeiten geschahen, unterschied sich die Eroberung Jerusalems nicht von anderen vergleichbaren Fällen. (Fs)

Eroberung Konstantinopels

100b Heftig sind die Anschuldigungen - besonders von orthodoxer Seite - wegen der Einnahme und der Zerstörung der Stadt Konstantinopel im Jahr 1204 während des vierten Kreuzzuges. Diese Tatsache wird immer hervorgehoben, wenn es sich um die Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel handelt. Auch in diesem Fall ist die historische Wahrheit weit weniger einfach, als man gewöhnlich meint. (Fs)

100c Um die Geldmittel für den Seetransport aufzubringen, hatte sich das Heer der Kreuzfahrer unter dem Kommando der Grafen von Champagne, Blois und Flandern bei der Signorie von Venedig stark verschuldet. Diese verlangte nun als Gegenleistung die Rückeroberung der adriatischen Stadt Zadar, die von Venedig im Jahr 1186 abgefallen war. Ungeachtet der Proteste Innozenz' III. und gegen den Willen eines Teils der Kreuzfahrer wurde in der Tat die christliche Stadt Zadar eingenommen. Der Papst reagierte mit schweren Vorwürfen und Kirchenstrafen, die die Venezianer jedoch gleichgültig ließen. Die unheilvolle Wendung des Kreuzzuges gegen Konstantinopel alsdann war die Folge von dynastischen Konflikten innerhalb des byzantinischen Reiches. Nachdem Kaiser Isaak II. Angelos zusammen mit seinem Sohn Alexios im Jahr 1195 von seinem jüngeren Bruder Alexios III. abgesetzt und eingekerkert worden war, Alexios aber 1202 aus dem Kerker hatte entfliehen können, wandte er sich an seinen Schwager Philipp von Schwaben, indem er den Kreuzfahrern für die Rückeroberung des Thrones die Summe von 200000 Mark in Silber, die Teilnahme am Kreuzzug und seine Finanzierung sowie die Unterwerfung der byzantinischen Kirche unter den römischen Papst versprach. Innozenz III. verbot zwar strengstens jeden Angriff auf das byzantinische Reich, indem er die Befreiung des Heiligen Landes als ausschließliches Ziel der Kreuzzüge hervorhob - jedoch vergebens. Am 17. Juli 1203 wird Konstantinopel erobert, Isaak Angelos aus dem Kerker befreit und wiedereingesetzt, sein Sohn Alexios IV. als Mitherrscher ausgerufen. Der Kaiser aber konnte seine Versprechungen, die er den Kreuzfahrern gemacht hatte, nicht erfüllen. Er wurde neuerdings abgesetzt und starb schließlich im Kerker. Alexios IV. wird ermordet, Alexios V. Ende Januar 1204 gekrönt. Seine Weigerung, die Kreuzfahrer zufriedenzustellen, zusammen mit den Intrigen Enrico Dandolos, des Dogen von Venedig, führte alsdann zur Katastrophe des 13. April 1204: dem Fall von Konstantinopel und der Errichtung des lateinischen Kaiserreiches von Konstantinopel und der eigenmächtigen Einsetzung eines lateinischen Patriarchen durch die Venezianer. Die Haltung Innozenz' III. bezüglich des Vorgefallenen war nicht ganz eindeutig. Auf der einen Seite verurteilte er, sobald er davon erfuhr, strengstens die Exzesse der Kreuzfahrer, auf der anderen Seite glaubte er, die solchermaßen entstandene Lage für die Befreiung des Heiligen Landes und für die Wiedervereinigung der Kirchen ausnützen zu können - eine Hoffnung, die sich jedoch niemals erfüllte. (Fs)

Krieg im Namen Gottes?

101a Mehr als alles andere zeigt dieser Fall, daß es unmöglich war, das hohe religiöse Niveau beizubehalten, das für den ersten Kreuzzug bezeichnend gewesen war. In dem Maße, in dem der Einfluß der Päpste zurückging, überwogen die politischen, die wirtschaftlichen Interessen in einem Unternehmen, das von Anfang an ganz ideal angelegt war. (Fs)

Ein angemessenes historisches Urteil über die Kreuzzüge muß vor allem die höchst komplexe Natur dieses historischen Phänomens in Rechnung stellen. Das, was am meisten Kritik erregt, ist die Idee des Heiligen Krieges, Krieg im Namen Gottes! Man muß sich aber vor Augen halten, daß dies nicht ein rein christliches Phänomen war, sondern vielmehr eine allgemeine Idee prämoderner Kulturen. Es war ein Ausdruck für eine Wertordnung, in der der Wert des Heiligen alles andere übertraf und die Menschen dazu bewog, dafür alles zu riskieren, auch Menschenleben - das der Feinde, wie das eigene Leben. (Fs)

102a Man sollte auch im Fall der Kreuzzüge, anstatt zu urteilen, zu verstehen suchen und daran denken, daß auch unsere Gegenwart einmal von den zukünftigen Generationen beurteilt werden wird. (Fs)

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