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Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Kirche - Neuaufbruch: Mittelalter; Gregorianische Reform; Bettelorden

Kurzinhalt: Hauptträger dieser Zentral- und Westeuropa erfassenden religiös-kulturellen Bewegung waren hervorragende Bischöfe und vor allem Mönche.

Textausschnitt: 55b Wer Zeit und Welt nur mit dem Punktstrahler seiner Augenblickssorgen anleuchtet und - notwendigerweise - dabei das Gestern und das Vorgestern sowie das übrige Umfeld im Dunkeln läßt, der sollte nicht meinen, ein Realist zu sein. Auf unsere gegenwärtige kirchliche Situation im deutschen Sprachraum angewandt, heißt das, daß die Fixierung des Blicks auf allgemein bekannte Krisen- und Verfallserscheinungen das Ganze übersehen läßt. Das gilt in geographischer Hinsicht: Die Kirche umfaßt die ganze Welt, nicht nur den deutschen Sprachraum, und das gilt auch zeitlich. Kirche gibt es nicht erst seit heute. (Fs)

Es gibt noch eine andere falsche Schau der Wirklichkeit, nämlich die durch die evolutionistische Brille. Geschichte, Entwicklung - auch der Kirche - ist nicht einfach eine ständige Entwicklung hin zum je Höheren, Vollkommeneren. Im menschlichen Leben - und damit auch im Leben der Kirche - gibt es Wellenberge und Wellentäler, Auf und Nieder, Verfall und Blüte. Wenn wir von diesen Gesichtspunkten aus die Wirklichkeit, die kirchliche Wirklichkeit betrachten, kommen wir zu einer wahrhaft realistischen Betrachtung, ergeben sich kraftvolle Impulse zum gegenwärtigen Handeln. (Fs)

Im finsteren Mittelalter

56a Was der hl. Bonifatius, eben in Germanien angekommen, erlebt hat, muß ein wirklicher Schock gewesen sein. An das geistig, kulturell, religiös hochkultivierte Milieu seiner englischen Heimat gewöhnt, fand er sich hier in barbarischen Verhältnissen wieder: Bischofssitze in den Händen geldgieriger, dem Wucher und der Unzucht frönender Männer. Priester, Diakone mit vier oder gar mehr Konkubinen, die dennoch Priester oder sogar Bischöfe wurden. Trunksüchtig, der Jagdleidenschaft ergeben und faul im Amte, waren sie ein einziges Ärgernis. Von einem Priester erfuhr Bonifatius, daß er nicht einmal die Taufformel richtig kannte. Er taufte "in nomine patria et filia et spiritus sancti". Wenn schon die Hirten von solcher Art waren - wie stand es dann um die Christen?!
Eine katastrophale Szenerie, die sich aus den Briefen des hl. Bonifatius ergibt! Doch keine fünfzig Jahre waren nach seinem Martyrium vergangen, da bot sich dem Betrachter der Kirche im Reiche Karls des Großen ein völlig anderes Bild: Bistümer und Klöster waren entstanden, in denen wie an den Kathedralen Schulen eingerichtet waren, Katechese und Liturgie wurden gepflegt, und der römische Kirchengesang, der Gregorianische Choral, wurde durch Sängerschulen verbreitet. Künste und Wissenschaften blühten auf, ihre Zeugnisse in den Museen erwecken noch heute unser Staunen. (Fs)

56b Synoden wurden abgehalten, um das kirchliche Alltagsleben zu ordnen, und selbst die Gesetze, die Karl erließ, die sog. Kapitularien, lesen sich streckenweise wie Predigten. Eine intensive Verchristlichung des Volkes hatte begonnen, erste Früchte zu tragen. Nicht umsonst spricht die Geschichtswissenschaft von einer "Karolingischen Renaissance". Sie erreichte dann unter Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen ihren Höhepunkt. (Fs)

56c Hauptträger dieser Zentral- und Westeuropa erfassenden religiös-kulturellen Bewegung waren hervorragende Bischöfe und vor allem Mönche. Jetzt erst, mit Hilfe des Abtes Benedikt von Aniane, breitete sich das benediktinische Mönchtum aus und trug Entscheidendes zur Verchristlichung der Germanen bei. Nach mancherlei Einbrüchen kam es dann zur sogenannten Ottonischen Renaissance des 10. Jahrhunderts, zur Gregorianischen Reform des 11. und 12. Jahrhunderts und schließlich unter dem Einfluß der Bettelorden im 13. Jahrhundert immer wieder zu solchen auf gewisse Erlahmungserscheinungen folgenden Neuaufbrüchen. Aufbrüche waren dies im wahrsten Sinn des Wortes, wenn etwa - an der Pariser Universität - an einem Tage 70 Professoren und Studenten das Ordenskleid der Dominikaner begehrten, oder, ein Jahrhundert zuvor, der junge Ritter Bernhard von Clairvaux mit mehr als 20 Freunden und Verwandten an der Klosterpforte von Citeaux Einlaß begehrte. Das ganze Mittelalter - weit davon entfernt, einen monolithischen Block darzustellen - war eine überaus bewegte, von immer neuen geistigen, religiösen Bewegungen charakterisierte Epoche. (Fs)

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