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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Metaphysik - Kategorien; Sein als verschieden sein; lingua interior; Erstintention - Zweitintention

Kurzinhalt: Ockham nimmt damit den augustinischen Gedanken von der Sprache des Inneren auf, deutet ihn aber in einer neuen Weise, nämlich als System von Zeichen.

Textausschnitt: 92a Seit der aristotelischen Exposition der Kategorien in der gleichnamigen Schrift ist darüber gestritten worden, ob es sich hierbei um eine Gliederung in Seins- oder in Aussageweisen handelt.1 Diese Frage zu entscheiden ist nicht Aufgabe der vorliegenden Schrift. Wohl aber müssen wir uns kurz des aristotelischen Ansatzes vergewissern, um die Besonderheit der Ockhamschen Stellungnahme hierzu zu begreifen. Aristoteles hat bekanntlich den Ausdruck 'kategoria' dem gerichtssprachlichen Bereich der Agora entnommen und in die philosophische Fachterminologie in der Bedeutung von 'Aussage' bzw. 'Aussageform' eingeführt. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen solchen Ausdrücken, die als Träger anderer Ausdrücke fungieren, und solchen, die selbst keine Träger sind, wohl aber anderem zukommen können. Was weder von etwas anderem ausgesagt wird noch etwas anderem zukommt, dafür aber die Funktion des Trägers übernehmen kann, nennt Aristoteles 'Substanz', während umgekehrt dasjenige, was zwar nicht als Träger fungieren, wohl aber von anderem ausgesagt werden kann, 'Akzidens' heißt. Hier liegt die Doppelfunktion der aristotelischen Kategorienauffassung deutlich zutage: Die Kategorien sind einerseits Prädikationsformen, sie thematisieren aber auch andererseits mit der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Substanz als dem Selbständigen und den Akzidentien als dem Unselbständigen Seinsweisen. Dies und die daraus resultierende Frage, ob zwischen der Struktur der Wirklichkeit und der Klassifikation der Aussagemöglichkeiten eine unmittelbare Affinität besteht, hat die Kategorienlehre in der Nachfolge des Aristoteles zu einem zentralen Thema ontologischer Untersuchungen gemacht. (Fs)

93a Ockham läßt von Anfang an keinen Zweifel daran, daß für ihn die Kategorien nicht Klassen von Dingen sind. Interessant ist seine Begründung hierfür: Sie können es nicht sein, weil in der Wirklichkeit der Einzeldinge Bestimmungen wie Quantitäten, Relationen etc. in selbständiger Form nicht auftreten können. Konkret: Im Bereich der realen Einzeldinge gibt es nicht so etwas wie 'fünf-Meter-hoch', sondern nur fünf-Meter-hohe Bäume, noch stellt das Größersein des einen Baumes im Vergleich zu einem anderen eine Realität eigener Art dar. Beides, Quantität wie Relation, ist von der Substanz der Dinge realiter nicht verschieden. Der Baum ist seine fünf Meter hoch, er ist sein Größersein. Das bedeutet nicht, daß man nicht sinnvoll zwischen seiner Größe oder seiner Relation zu anderen Bäumen unterscheiden könnte. Nur sind solche Unterscheidungen Aktivitäten des Verstandes, keine Wiedergaben real existierender und damit real verschiedener Sachverhalte. (Fs)

93b Wir stoßen hier auf ein Grundprinzip der Ockhamschen Metaphysik: Sein heißt verschieden sein. Nur was von anderem verschieden ist, kann ein eigenes Sein besitzen. Wenn, so Ockhams Argument, die Kategorien der Quantität, der Relation etc. Seinsklassen sein sollen, dann müßten die unter diese Klassen fallenden einzelnen Quantitäten, Relationen etc. selbständige Realitäten darstellen. Eben das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Vielheit der Kategorien basiert nicht auf einer Verschiedenheit der Dinge, sondern auf der Unterscheidbarkeit des begrifflichen Zugangs zu ihnen. Es sind die Begriffe von Quantitäten, Relationen etc., nicht die quantifizierten und aufeinander bezogenen Dinge, welche die Basis für derartige kategoriale Unterscheidungen liefern. Von der Unterscheidbarkeit der Begriffe auf eine reale Verschiedenheit der Dinge zu schließen, ist eine der Fallen, in die der der Logik Unkundige und der Grammatik der Terme Unsichere unweigerlich hineintappt. (Fs) (notabene)

94a Ein weiterer, mit dem bisher genannten verwandter Grund für die Nichtaffinität zwischen kategorialer Unterschiedenheit und Dingstruktur ist der, daß ein und dasselbe reale Einzelding - wenn auch in je anderer Hinsicht - unter verschiedene Kategorien fallen kann, ohne dadurch seine Identität in irgendeiner Form einzubüßen. Daß, um bei unserem Beispiel zu bleiben, der Baum fünf Meter mißt, daß er größer ist als ein neben ihm stehender Baum, daß er in Rom steht, daß er 50 Jahre alt ist etc., macht aus ihm nicht ein Ding plus fünf Meter plus einem Größer-Sein plus einem in Rom-Sein. Es ist vielmehr ein und derselbe individuelle Baum, der in Rom steht und die genannten Ausmaße und vergleichbaren Größenordnungen besitzt. (Fs)

94b Für Ockham scheint daher die Kontroverse, ob die aristotelischen Kategorien Seins- oder Aussageweisen sind, von allenfalls untergeordneter Bedeutung zu sein. Jedenfalls beginnt er mit einer ganz anders gearteten Unterscheidung, nämlich derjenigen zwischen 'Kategorie' ('praedicamentum') (a) als Ausdruck für die Gesamtheit der durch Über- und Unterordnung eingeteilten Begriffe und (b) als Bezeichnung des ersten und allgemeinsten Begriffs eines solchen Ordnungsschemas (OP I, 111). In beiden Fällen handelt es sich nicht um die Klassifikation bloßer Worte, sondern um eine solche signifikativer Ausdrücke. Darin liege die Hauptabsicht des Aristoteles, in der Kategorienschrift die die Dinge bezeichnenden Ausdrücke näherhin zu bestimmen ("de vocibus res significantibus determinare", OP II, 136). In gewissem Sinne, so Ockham, behandelt Aristoteles mit den signifikativen Ausdrücken zugleich auch die Dinge, indem er in der Kategorienschrift manches sagt, was "nebenher" auch die Dinge betrifft. Doch ist die Behandlung der Dinge nur eine sekundäre. Mancher seiner Zeitgenossen ('moderni'), so Ockham mit Blick auf Walter Burleigh, hat das übersehen und erblickt in der aristotelischen Kategorienschrift von vornherein einen ontologischen Traktat. In Wirklichkeit hat es die Kategorienlehre in erster Linie mit signifikativen sprachlichen Ausdrücken und deren Klassifikation zu tun; ihre Verbindung mit den Dingen und deren Einteilung ist nur eine mittelbare. Darin besteht ja gerade der Nutzen dieser Schrift, zu wissen, "welche Namen welche Dinge bezeichnen" (I.e.). (Fs)

95a Ockham bestreitet damit nicht einen Zusammenhang zwischen kategonaler und ontologischer Struktur; was er bestreitet ist die Berechtigung des Versuches, zwischen kategorialer und ontologischer Struktur eine unmittelbare Affinität zu erblicken oder gar eine Abhängigkeit der ersteren von der letzteren zu konstruieren. In der Sache freilich ist die Nähe zum Bereich der Dinge und damit zur Frage nach dem ontologischen Fundament der Kategorien durchaus gegeben; denn die signifikativen Ausdrücke werden als Termini im Satz verwendet und treten damit, wie dargelegt, in ein bestimmtes Suppositionsverhältnis ein, wobei sie unter anderem - siehe die personale Supposition - auch für Dinge stehen können. Dennoch bleiben die Kategorien Klassifikationen möglicher Prädikate bzw. Begriffe, welche im Satz als Prädikate Verwendung finden. Die Kategorien können daher nicht als Klassifikationen der Dinge und damit auch nicht als deren ontologische Struktur angesehen werden. (Fs)

95b Angesichts dieses Resultats ist zu fragen, ob das Lehrstück von den Kategorien zur Metaphysik gerechnet werden kann. Ockham hält das bisherige Kernstück der ontologischen Diskussion der Kategorienfrage, nämlich die aristotelische Parallelisierung von Aussage- und Seinsstruktur, wie gezeigt, für unbegründet. Dafür tritt aber für Ockham in ganz anderer Form eine neue ontologische Problematik auf, wenn man die Klassifikation der signifikativen Worte mit der Ordnung der Begriffe bzw. der Denkintentionen parallelisiert und damit die Frage nach dem ontologischen Status des Mentalen aufwirft (vgl. OP II, 148). Begriffe sind Bestandteile einer Sprache, deren Sprecher sie mit Zugriffen auf die Wirklichkeiten verbinden. Der ontologische Status solcher Begriffe ist daher nicht einfach nur der des Sich-im-Denken-Befindens, des Mentalen, sondern darüber hinaus und vor allem der des Intentionalen. Mit Hilfe der Begriffe deutet der Mensch die Wirklichkeit auf seine Weise. Damit stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status der Begriffe als 'Intentionen des menschlichen Geistes' ('intentiones animae'), eine Frage, der Ockham größte Bedeutung beimißt und von der er ausdrücklich feststellt, daß sie in die Metaphysik gehört. An einer 'intentio' ist grundsätzlich ein Zweifaches bedeutsam: Sie ist stets eine Angelegenheit des Intellekts, welcher etwas 'intendiert', und sie ist ihrer Natur nach darauf angelegt, etwas von ihr Verschiedenes zu bezeichnen (vgl. OP I, 41). Nun könnte man behaupten, zu einer Bezeichnung käme es doch erst, wenn eine 'intentio animae' als Begriff in einer Aussage Verwendung findet, also ausgesprochen und/oder niedergeschrieben wird. Ersteres ist nach Ockham in der Tat erforderlich, letzteres hingegen nicht. Eine 'Aussage' ('propositio') muß nämlich nicht gesprochen oder niedergeschrieben werden, sie kann sich auch ausschließlich im Denken befinden, ja dies ist sogar ihr ursprünglicher Ort und ihre ursprüngliche Seinsweise. Ockham spricht von der "inneren Sprache" ("lingua interior"), deren sich der Intellekt bedient und die mit keiner der lebenden Sprachen identisch ist. Aus der Sicht der lebenden Sprachen sind die Denkintentionen rein 'mentale Worte' ('verba mentalia'), die keinem konkreten Idiom angehören ("sunt nullius idiomatis"). (Fs)

96a Ockham nimmt damit den augustinischen Gedanken von der Sprache des Inneren auf,2 deutet ihn aber in einer neuen Weise, nämlich als System von Zeichen. Bezieht sich ein mentales Zeichen auf ein selbständig existierendes Einzelding, spricht man von einer 'Erstintention' ('intentio prima'), bezieht es sich auf ein anderes Zeichen, liegt eine 'Zweitintention' ('intentio secunda') vor. Daß Erstintentionen als Zeichen für Gegenstände und Zweitintentionen als Zeichen für Zeichen fungieren, ändert nichts an der Gemeinsamkeit beider, Denkinhalte zu sein. Der Primat der Erst- vor den Zweitintentionen ist bei Ockham anders als in der Tradition vor ihm (etwa bei Thomas von Aquin) nicht ein ontologischer, sondern ein semantischer: Zeichen stehen natürlicherweise für etwas von ihnen Verschiedenes. So gilt das Zeichen 'Mensch' primär für die existierenden Einzelmenschen; erst sekundär kommt es zur Verwendung dieses Zeichens für ein anderes Zeichen (z.B. in der Aussage "'Mensch' ist eine Spezies"). 'Natürlich' heißen die Zeichen deswegen, weil sie als von den Einzeldingen unmittelbar verursacht gelten; so ist z.B. der vom Feuer verursachte Rauch ein 'natürliches' Zeichen für Feuer. Im Unterschied hierzu sind Zeichen, welche für andere Zeichen stehen, Resultate der Konvention der Zeichenverwender. Daß man heute einen Radweg mit einem entsprechenden Piktogramm kennzeichnet, ist nicht, wie der Rauch vom Feuer, von Fahrrädern 'verursacht', sondern beruht auf einer Übereinkunft und damit ursprünglich auf einer freien Entscheidung, welche dann freilich verbindlich geworden ist. (Fs)

97a Zwei wichtige Fragen sind hier zu klären. Erstens: Wenn sich nach Ockham die natürlichen Zeichen der Verursachung durch die Einzeldinge verdanken, ist dann ihre signifikative Funktion von der aktuellen Präsenz der Einzeldinge abhängig? Zweitens: Wie steht es mit den Allgemeinbegriffen: Können dieselben signifikative Funktion ausüben und wenn ja, wie? Die erste Frage beantwortet sich durch einen Blick auf die Grammatik des Ausdrucks 'bezeichnen' ('significare', vgl. OP I, 95ff). Hier lassen sich vier verschiedene Verwendungsweisen voneinander unterscheiden: (1) Ein Zeichen übt dann seine Funktion aus, wenn es für dasjenige steht, von dem es im Satz ausgesagt wird. Beispiel: In der Aussage "Der Mensch ist vernunftbegabt" steht 'vernunftbegabt' für jeden einzelnen Menschen. Die Bezeichnung besitzt hier 'demonstrative' Funktion, d.h. man kann auf einen einzelnen Menschen zeigen und sagen: "Dieser hier ist vernunftbegabt". Hierzu bedarf es naturgemäß der Präsenz des Bezeichneten. Fällt das Bezeichnete weg, entfällt auch die Bezeichnung. (2) Anders sieht es im Fall der Noch-nicht- oder der Nicht(-mehr)-Anwesenheit des Signifikats aus. So bezeichnet 'vernunftbegabt' ja nicht nur gegenwärtige, sondern auch abwesende und gleichermaßen auch vergangene wie zukünftige Menschen. Hier ist die Funktion des Zeichens im Unterschied zu (1) nicht an die Existenz oder gar Präsenz des Bezeichneten gebunden, sondern sie ist frei von 'demonstrativer' Bestätigung. (3) Wiederum anders wird der Terminus 'bezeichnen' verwandt, wenn man damit nicht den Gegenstand - sei er nun 'demonstrativ' präsent wie in (1), sei er davon unabhängig, wie in (2) -, sondern die entsprechende Qualität meint. So bezeichnet 'vernunftbegabt' ja nicht nur den (existierenden, gewesenen, zukünftigen) Einzelmenschen, sondern es weist auf das Haben von Vernunft hin. Schließlich gibt es noch eine vierte, freilich sehr weite Bedeutung von 'bezeichnen'; man kann sie die indirekte nennen. Sie findet sich im Satz, und zwar dort, wo etwas mitbenannt wird, das vordergründig gar nicht zum Gegenstand der Bezeichnung zu gehören scheint. So bezeichnet der Terminus 'blind' zwar prima facie den Mangel an Sehfähigkeit. Gleichwohl kann man nach Ockham sagen, dieser Ausdruck bezeichne die Sehfähigkeit im Modus ihrer Defizienz. (Fs)

98a Wie aber steht es mit den allgemeinen Zeichen? Damit sind wir bei der zweiten der beiden obigen Fragen. Für Ockham sind auch die Allgemeinbegriffe Zeichen. Sie sind jedoch keine natürlichen Zeichen, weil sie nicht durch die Einzeldinge verursacht sind. Die Allgemeinbegriffe verdanken sich ausschließlich der Tätigkeit des Verstandes. Es sind die Begriffe in Form von Denkintentionen, mit deren Hilfe der Intellekt sich der Wirklichkeit zu vergewissern sucht. Daß er den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen, die sich um eine ähnliche Vergewisserung bemühen, mit Hilfe einer bestimmten Sprache und/oder der schriftlichen Fixierung seiner Aussagen sucht, ändert nichts daran, daß die Dimension, in der solches stattfindet, eine rein mentale ist. Diesen Bereich als eine Realität sui generis zu exponieren, ist eine der Hauptaufgaben Ockhamscher Metaphysik. Eine weitere ist die Klärung des ontologischen Status der Universalien. (Fs)

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