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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Logik - Metaphysik; M. des Transzendenten - Transzendentalen (Avicenna, Averroes); Sein, seiend: Duns Scotus - Thomas (univok - Analogia entis)

Kurzinhalt: 'Sein' ist nicht mehr Seinsakt (Thomas von Aquin: "ens est cuius actus est esse"), sondern widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit) (Duns Scotus: "ens est cui non repugnat esse")

Textausschnitt: 86a Ockham galt in der Vergangenheit vielen und gilt auch heute noch manchem als antimetaphysischer Denker, der wie mit einem Rasiermesser ("Ockhams razor") metaphysische Annahmen als gänzlich überflüssig "wegrasiert". Daß diese Einschätzung auf einem Irrtum beruht, haben bereits die eingangs dargelegten Zusammenhänge im Hinblick auf den rein methodologischen Charakter des 'rasorium' gezeigt. Danach ist es Ockham nicht darum zu tun, metaphysische Annahmen prinzipiell und ausnahmslos als überflüssig zu eliminieren, sondern die begründeten von den unbegründeten zu scheiden. Unbegründet ist eine metaphysische These immer dann, wenn sie zur Annahme der Existenz von Dingen verpflichtet, für die es in der Wirklichkeit keine Grundlage gibt. Wie aber sieht die Basis begründeter bzw. begründbarer metaphysischer Thesen aus? (Fs)

86b Zur Verdeutlichung der Besonderheit des Ansatzes und zugleich der Leistung der Ockhamschen Metaphysik ist ein Blick auf die Entwicklung dieser Disziplin im Mittelalter notwendig.1 Es lassen sich nämlich diesbezüglich die Charakteristika mittelalterlichen Philosophierens besonders deutlich erkennen: die Rezeption der Antike in Form der Metaphysik der Ideen (Platon) und der Metaphysik als Seinswissenschaft (Aristoteles); die Transformation antiken Gedankenguts in Form der Verlagerung der platonischen Ideen in das Denken Gottes (Augustinus), die Anbindung der Seinswissenschaft an die Theologie (Averroes) bzw. die Gegenthese hierzu (Avicenna); und schließlich die Konzeption einer Synthese in Form einer Onto-Theologie (Thomas von Aquin) und die Exposition von Metaphysik als Transzendentalwissenschaft (Johannes Duns Scotus). In dieser Rezeption, Transformation und Innovation kommt eine Spannung zum Ausdruck, welche die Metaphysikdiskussion des Mittelalters nahezu durchgängig prägt: die Spannung zwischen einer Metaphysik des Transzendenten, welche im Gefolge des Platonismus und Neuplatonismus durch die Absage an Sinneswahrnehmung und Einzeldinge und die Präferenz der Ideen als apriorischer Seins- und Erkenntnisgründe gekennzeichnet ist und insoweit eine unverkennbare Nähe zur Theologie besitzt, und einer Metaphysik des Transzendentalen, welche unter dem Einfluß des Aristotelismus die kritische Untersuchung der Bedingungen der Rede von Sein, Existenz und Wirklichkeit in den Vordergrund rückt und zugleich ihre relative Selbständigkeit gegenüber der Theologie zu behaupten sucht. Einen ersten Höhepunkt erreicht die Metaphysik in der arabischen Philosophie mit der Auseinandersetzung zwischen der These, Gegenstand dieser Disziplin sei das Seiende, insofern es ist (Avicenna), und der Gegenthese, ihr Gegenstand sei das erste, ausgezeichnet Seiende, nämlich Gott (Averroes). Unabhängig von einer Lösung dieses Streits baut die Metaphysik im Rahmen der Aristotelesrezeption ihre Position als eigenständige Disziplin gegenüber der Theologie weiter aus, wobei das von Averroes propagierte theologienahe Metaphysikverständnis zunehmend kritisiert wird, weil es den Unterschied zwischen Metaphysik und Theologie tendenziell auflöst. (Fs)

87a Nicht zuletzt um dies zu vermeiden, bestehen führende Denker der Hochscholastik wie Albert der Große, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus auf dem eigenständigen wissenschaftlichen Rang dieser Disziplin. Sie begreifen Metaphysik als Theorie des Seienden, insofern es ist, auch wenn eine solche Theorie unter gewissen Voraussetzungen auch das ausgezeichnet Seiende Gott zu ihrem Gegenstand hat. Doch entscheidend ist nicht dies, sondern der systematische Ansatz der Metaphysik bei der Untersuchung des Prädikates 'seiend' ('ens'), welches allen anderen Prädikaten vorausgeht und damit von Ko-Prädikaten wie Materialität und Prozessualität absehen läßt. So sieht Thomas von Aquin die Aufgabe der Metaphysik in der Untersuchung des fundamentalen Charakters des allgemeinsten Begriffes 'seiend' sowie der mit ihm konvertiblen Bestimmungen ('passiones entis convertibiles') des Guten, des Wahren, der Einheit etc. Zugleich liegt dem Aquinaten daran, deutlich zu machen, daß der Begriff 'seiend' sowohl die Weise der Existenz beschreibt, wie Gott ist, als auch - in Analogie dazu - die Existenzweise, welche alles Geschaffene besitzt, und zwar insoweit, als es am göttlichen Sein partizipiert. Mit diesem dem Neuplatonismus entstammenden Teilhabe-Gedanken rückt der Aquinate die Metaphysik wiederum in die Nähe der Theologie. Seine Metaphysik wird "Onto-Theologie".1

88a Eine solche Nähe zur Theologie sucht Ockhams Hauptdiskussionspartner in diesem Punkt, Johannes Duns Scotus, dadurch zu vermeiden, daß er den Begriff 'seiend' nicht wie Thomas aus der Perspektive von Tun und Leiden (Gott ist sein Sein, der Mensch hat sein Sein (empfangen), sondern unter dem Aspekt widerspruchsfreier Existenz(-möglichkeit) konzipiert. 'Sein' ist nicht mehr Seinsakt (Thomas von Aquin: "ens est cuius actus est esse"), sondern widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit) (Duns Scotus: "ens est cui non repugnat esse").2 Weil an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gebunden, wird der Ausdruck 'seiend' zu einem die kategoriale Ordnung übersteigenden transkategorialen oder transzendentalen Grundbegriff und die Metaphysik die 'Wissenschaft von den transkategorialen bzw. transzendentalen Bestimmungen' ("scientia de transcendentibus", Duns Scotus).3 Die Metaphysik beschäftigt sich mit jener formalen Struktur, innerhalb deren endliches wie unendliches, kontingentes wie notwendiges Seiendes überhaupt erst zum Gegenstand von Wissenschaft gemacht werden kann. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (16.12.09), zu oben: "Weil an das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gebunden, wird der Ausdruck 'seiend' zu einem die kategoriale Ordnung übersteigenden transkategorialen oder transzendentalen Grundbegriff ..." Gerade die Widerspruchsfreiheit setzt das Sein im Sinne von Seinsakt voraus.

88b Genau hier setzt Ockham an, indem er aus der bisherigen Metaphysikdiskussion eine methodologische und eine inhaltliche Konsequenz zieht. Die methodologische lautet: Wenn man die Charakterisierung einer Wissenschaft nicht über ihre Inhalte oder gar ihren Hauptgegenstand vornehmen kann, dann muß man es über die Art und Weise versuchen, wie die betreffende Disziplin mit Fragen umgeht, für die sie sich zuständig sieht. Folge: Das Paradigma der Bestimmung der Metaphysik nach Maßgabe ihres Gegenstandes muß durch ein neues Paradigma, nämlich das ihrer Bestimmung durch die Art und Weise des Umgangs mit ihren Gegenständen, ersetzt werden. Die inhaltliche Konsequenz, die Ockham aus der bisherigen Diskussion zieht, lautet: Metaphysik hat es unmittelbar überhaupt nicht mit Gegenständen - welcher Art auch immer - zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie begründete Aussagen über den ontologischen Status desjenigen gemacht werden können, was in einer noch näher zu bestimmenden Weise Realität beansprucht. Beide Konsequenzen, die methodologische wie die inhaltliche, gehören erkennbar zusammen, der Wechsel von der Gegenstands- zur Methodenbestimmung ist nicht ohne die Ersetzung der Dinge durch die Weisen ihrer Existenzprädikation möglich. (Fs)

89a Dieser Methodenwechsel liegt ganz in der Linie der Ockhamschen Wissenschaftskonzeption (vgl. Kap. III), wonach eine gegebene Disziplin nicht einen, sondern viele Gegenstände hat, und zwar so viele, wie in ihr einschlägige Sätze mit begründetem wissenschaftlichen Anspruch auftreten. Wissenschaftliche Disziplinen sind ständig erweiterbar und insoweit offene Systeme. Es ist daher müßig, sie über ihre Gegenstände definieren zu wollen; entscheidend ist die Ordnung, in der die Sätze einer gegebenen Disziplin zueinander stehen. Hinsichtlich der Metaphysik bedeutet dies: Sie hat nicht einen Gegenstand, weder das Seiende, insofern es ist, noch Gott als das erste ausgezeichnet Seiende, sondern viele Gegenstände, und zwar so viele, wie es in ihr begründete Sätze über den ontologischen Status von etwas gibt. Damit kann Metaphysik nicht mehr, wie noch bei Thomas von Aquin, Onto-Theologie sein: Das geschaffene Seiende "partizipiert" nicht am ungeschaffenen Seienden, es ist vielmehr dessen kontingentes Produkt. (Fs)

89b Damit ergibt sich für Ockham auch gar nicht erst das Problem, welches der Aquinate mit der sog. "Analogia entis", der analogen Prädikation des Ausdrucks 'seiend', in bezug auf das geschaffene Seiende (welches Sein hat) im Unterschied zum ungeschaffenen Seienden Gott (welcher sein Sein ist) zu lösen sucht. 'Seiend' - darin folgt Ockham Duns Scotus - ist das allgemeinste Prädikat; es ist völlig frei von jedweder inhaltlichen Bestimmtheit und meint lediglich widerspruchsfreie Existenz-(-möglichkeit). Daraus folgt, daß die Verwendung dieses Prädikats nur eine univoke sein kann: Es ist gleichermaßen von Gott und Kreatur aussagbar. Der Unterschied zwischen ungeschaffenem und geschaffenem Seienden ist der, daß im Falle des ersteren Existenzmöglichkeit und Existenzwirklichkeit zusammenfallen und daß Gottes Sein ein absolut notwendiges ist, während im Falle des geschaffenen Seienden widerspruchsfreie Existenzmöglichkeit keineswegs notwendig Existenzwirklichkeit einschließt. Es darf dem Einzelseienden lediglich nicht widersprechen, zu sein, doch folgt daraus nicht, daß es mit Notwendigkeit existiert, sobald es existiert. Für Gott wäre nicht zu sein ein Widerspruch, für die Kreatur ist die Möglichkeit ihres Nicht-Seins hingegen kein Widerspruch. (Fs)

90a Daß der Ausdruck 'seiend' in ein und derselben Bedeutung von Gott und Kreatur ausgesagt werden kann, ist deswegen völlig problemlos, weil mit ihm nicht eine Eigenschaft prädiziert wird. Besäße Gott die 'Eigenschaft' zu sein, dann stellte sich in der Tat die gravierende Frage, wie man dann Mensch, Tier, Stein etc. ebenfalls die 'Eigenschaft' zu sein zusprechen könnte. Anders liegen die Dinge, wenn 'seiend' keine Eigenschaft, sondern lediglich eine bestimmte Weise der Prädikation ist. Univozität kann daher auch nicht zum Wesen irgendeines Seienden gehören; es ist der Begriff bzw. seine Verwendung, welche univok sind, nicht die Sache (vgl. OT II, 310f). Die Aussage "Sokrates ist ein Seiendes" z.B. ist nicht so zu verstehen, als gäbe es die Realität 'Sokrates' und eine weitere Realität, nämlich 'Seiendes', und beide Realitäten würden durch die Aussage miteinander verbunden. Eine solche Sicht der Dinge würde zur Annahme überflüssiger Entitäten verleiten. Viel naheliegender und frei von überflüssigen bis gewagten ontologischen Annahmen ist die prädikationslogische Deutung dieses Satzes: Wann immer dieser Satz zwischen 469 und 399 v. Chr. formuliert worden ist: es ist ein wahrer Satz gewesen, und zwar deswegen, weil in diesem Zeitraum der Subjektterminus 'Sokrates' für dasselbe supponiert hat wie der Prädikatterminus 'ist seiend' (unnötig darauf hinzuweisen, daß das Umgekehrte natürlich nicht notwendig gilt). Ähnlich sieht die Analyse des Satzes "Sokrates ist ein Seiendes gewesen" aus: Hier wird nicht ein Gewesen-Sein dem Sokrates zugesprochen, sondern es wird gesagt: Wann immer diese Aussage seit dem Jahre 399 v. Chr. getätigt wird: Sie ist wahr, weil Subjekt- und Prädikatterm für ein und dasselbe supponieren. (Fs)

91a Die Analyse zeigt, daß der Ausdruck 'seiend' nicht auf aktuell Existierendes eingeschränkt ist; er läßt sich ebenso auf Vergangenes und Zukünftiges anwenden. Entscheidend ist nicht die tatsächliche Existenz, sondern die Tatsache, daß Identität der 'supposita' gegeben ist. Weil 'seiend' auf alles anwendbar ist, was widerspruchsfrei existiert oder existiert hat oder existieren wird bzw. kann, geht es sowohl der Unterscheidung in Realseiendes und Gedachtseiendes ('entia realia'/'entia rationalia') als auch der kategorialen Einteilung der Aussageweisen voraus. 'Seiend' ist ein überkategorialer oder - in der Terminologie des Duns Scotus - ein transzendentaler Ausdruck. 'Transzendental' nicht im kantischen Sinne der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung, sondern im Sinne des die kategoriale Ordnung Überschreitens. Man könnte auch, das lateinische 'transcendens' übernehmend, von einem 'transzendierenden' Ausdruck sprechen, nur könnte dann das Mißverständnis auftreten, es würde sich dabei um eine den Bereich des immanenten Seienden übersteigende Seinsweise handeln. Eine solche Deutung liegt Ockham nicht nur fern, sie wäre das Gegenteil dessen, was er meint. Transzendenz ist für ihn nicht ein Ausdruck für etwas Ontisches, sondern ein prädikationslogischer Terminus. (Fs)

91b Ockham hat, anders als mancher seiner Zeitgenossen und Vorgänger, keinen Kommentar zur (aristotelischen) Metaphysik geschrieben. Zwar hatte er solches nach eigenem Bekunden vor (vgl. OP II, 325/26), doch scheint er nicht dazu gekommen zu sein, möglicherweise infolge seiner Zitierung nach Avignon und der damit verbundenen Unruhe, welche in gewissem Sinne eine Art Zäsur in seinem Leben und Schaffen bedeutet. Jedenfalls kann das Fehlen eines solchen Kommentars nicht als Beleg für seine angebliche Metaphysikfeindlichkeit herhalten. Ockham hat der Metaphysik nicht ablehnend, wohl aber der traditionellen Metaphysik seiner Vorgänger und Zeitgenossen äußerst kritisch gegenübergestanden. Eine solche Position ist, wie sollte es anders sein, ohne ein eigenes Konzept von Metaphysik nicht möglich. Im folgenden sollen zunächst einige der wichtigsten Brennpunkte seiner Metaphysik(-kritischen)-Dis-kussion erörtert werden. Im Anschluß daran soll die Frage exponiert werden, wie nach Ockham Metaphysik als wissenschaftliche Unternehmung überhaupt möglich ist. Als Brennpunkte bieten sich das Kategorienproblem und das Universalienproblem an. (Fs)

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