Datenbank/Lektüre


Autor: Brandmüller, Walter

Buch: Licht und Schatten

Titel: Licht und Schatten

Stichwort: Europa - Bruch mit der christlichen Vergangenheit: Folgen; hegelianische Linke, Rechte; homo sovieticus, h. nordicus, h. oeconomicus; Wolfsgesellschaft, Sozialdarwinismus, Abtreibungs-, Euthanasie- und Klongesellschaft

Kurzinhalt: Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von den menschenmordenden Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis hin zu den Vernichtungslagern des Dritten Reiches und dem Archipel Gulag, sind die Ergebnisse dieses Bruchs Europas mit seiner Herkunft ...

Textausschnitt: Das Nein zu den Wurzeln

49b Die letzten beiden Jahrhunderte europäischer Geschichte sind in der Tat durch einen auf breiter Front vollzogenen Bruch mit der geistigen Überlieferung von mehr als eineinhalb Jahrtausenden charakterisiert. Es genügt, Goethes Einschätzung der in der Tat von der Kirche geprägten Vergangenheit Europas zu zitieren: "Es ist die ganze Kirchengeschichte Mischmasch von Irrtum und von Gewalt" (Zahme Xenien IX). Noch radikaler seine Absage: "Rettungsdank dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür?" (Prometheus). Und - in erschreckender Weise prophetisch: "Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei (...) und dein nicht zu achten, wie ich!" (ebd.). Was sich hierin ausdrückt, ist das elementar gewandelte Lebensgefühl der Aufklärung, aus dem sich - kaum beeinträchtigt durch das Zwischenspiel der Romantik - das Europa des 19. Jahrhunderts formte. (Fs)

50a Erwuchs aus der hegelianischen Rechten der totalitäre Staat, so aus Hegels linken Epigonen in letzter Konsequenz der Homo sovieticus von Lenin und Stalin, des gesamten ehemaligen Ostblocks. Nicht viel davon unterschieden der rassereine Homo nordicus - und nicht viel besser, nur anders, der Homo oeconomicus der kapitalistischen Welt. Sie, diese Typen des neuen Europäers, gestalteten ihre Welt, ihren Staat, ihre Kultur nach ihrem Bilde. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von den menschenmordenden Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bis hin zu den Vernichtungslagern des Dritten Reiches und dem Archipel Gulag, sind die Ergebnisse dieses Bruchs Europas mit seiner Herkunft aus Jerusalem, Athen und Rom. In dem Maße, in welchem die christliche Sicht von Mensch und Welt unter dem Einfluß der rationalistischen Philosophie der Aufklärung dahinschwand, führte der Weg in die Wolfsgesellschaft des Sozialdarwinismus, deren letzter Ausdruck die Abtreibungs-, Euthanasie- und Klongesellschaft unserer Tage ist. Am Anfang hatte - wie gesagt - das Nein zu den Grundlagen der Kulturentwicklung eines christlichen Jahrtausends gestanden. (Fs) (notabene)

Nun aber ist auch von Europas Verantwortung für den Rest - den unvergleichlich größeren Rest - der Welt zu sprechen. (Fs)

50b Europas einstige Größe war auch dafür maßgeblich, daß sein geistiges, kulturelles Erbe in allen jenen Erdteilen und Ländern aufgenommen wurde, die, wie Amerika - Nord und Süd - oder Australien, unter europäischen Einfluß gerieten. Es ist hier nicht der Ort, um den Ausgriff Europas nach den überseeischen Ländern und dessen Methoden kritisch zu bewerten. Das Phänomen "Kolonialismus" entzieht sich ob seiner Vielschichtigkeit einer einfachen Beurteilung. Nur eine Frage sei erlaubt: Würden ohne die spanische Conquista Azteken und Mayas nicht noch lange Sterne angebetet und Menschenopfer in Massen dargebracht haben, wie sie es noch zu einer Zeit taten, da die europäische Renaissancekultur in ihrem Zenit stand?

50c Europa hat - sieht man vom Fernen Osten und von Afrika ab - der Welt sein kulturelles Gepräge aufgedrückt. Mit diesem europäischen Kulturexport, der seit dem Zeitalter der Entdeckungen stetig zugenommen hat, hat der alte Kontinent auch eine schwerwiegende, ja bedrückende Verantwortung auf sich geladen. Gehörte zu diesen europäischen "Exportartikeln", die um die Mitte des 18 Jahrhunderts nach Lateinamerika transportiert wurden, der mehr oder weniger atheistische Rationalismus, so waren es im 19. Jahrhundert die in europäischen Köpfen entstandenen Ideologien. Das Ideengut der hegelianischen Linken, bis Marx und Engels, der Positivismus, der Vulgärmaterialismus und - ganz besonders virulent - der Nationalismus haben ihre Wirkungen sowohl in Lateinamerika als auch vor allem in Asien gezeitigt. Fragt man, wo die großen Revolutionsführer der Dritten Welt im 19. und 20. Jahrhundert ihre geistige Formung, ihre akademische Ausbildung erfahren haben, dann stößt man unweigerlich auf die bedeutenden Universitäten des alten Kontinents. Hier wurden jene philosophischen Ideen entwickelt, die, in gesellschaftspolitische Realität umgesetzt, zu den brutalsten totalitären Regimen geführt haben. Tschou En Lai und Deng Hsiao Ping mögen anstatt vieler hier genannt sein. (Fs)

51a Es sei nun - ausnahmsweise - einmal gestattet zu fragen, was umgekehrt hätte geschehen können, wenn die Genannten in Europa die Grundlagen der Naturrechtslehre, einer christlichen Anthropologie, einer personalistischen, der "philosophia perennis" verpflichteten Metaphysik kennengelernt und aufgenommen hätten!

51b Nun aber hatte das geistige Europa aufweite Strecken hin sich von seinen in Antike und Christentum liegenden Wurzeln gelöst, und den Studenten gab man an den Universitäten Steine statt Brot. Das seinen Ursprüngen entfremdete Europa der Moderne trägt an den geistigen und, in deren Konsequenz, auch den politischen Katastrophen nicht nur im eigenen Haus, sondern auch in der übrigen Welt ein gerütteltes Maß an Mitschuld. (Fs) (notabene)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt