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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Sittenverfall; Kirche, Moral

Kurzinhalt: ... doch ausschlaggebend ist, wie die Vorkommnisse geistig verarbeitet werden, d.h. wie das öffentliche Bewußtsein sie beurteilt.

Textausschnitt: 96. Der Sittenverfall

229a Dem Irrweg im Hinblick auf die weibliche Natur gleicht der Irrweg, der im Sexualverhalten beschritten wurde. Um dies richtig einzuschätzen, wäre zu beachten, daß bei allen menschlichen Handlungsweisen, besonders aber denen, die die Sitten betreffen, gewiß das mehr oder weniger häufige Vorkommen zählt (ohne diese Häufigkeit liegt keine Sitte vor), doch ausschlaggebend ist, wie die Vorkommnisse geistig verarbeitet werden, d.h. wie das öffentliche Bewußtsein sie beurteilt. Was das häufige Vorkommen anbelangt, bestreitet niemand, daß die Schamlosigkeit heute viel weiter verbreitet ist als in der Vergangenheit. Früher waren Ausschweifungen ein Phänomen begrenzter Kreise, und mehr noch, sie pflegten im Verborgenen zu bleiben. Man wagte nicht, sie zur Schau zu stellen. Heute gehört dies zum Bild unserer Städte. Man kann sagen, daß die verflossenen Jahrhunderte die Schamhaftigkeit, unser Jahrhundert dagegen insgesamt die Schamlosigkeit kennzeichnet. Um sich darüber Gewißheit zu verschaffen, genügt es, die Liebestraktate, die Bücher über die Lebensführung der Frauen, die Bestimmungen des Zivil- und kanonischen Rechts sowie die Handbücher für Beichtväter (die wichtigsten Quellen hierfür) durchzusehen. Heute dagegen haben die intimen Handlungen die altherkömmliche Hülle der Schamröte verloren, breiten sich ostentativ aus und erscheinen sogar in den Rubriken der vom Volk verschlungenen Illustrierten. Die sinnliche Liebe ist bevorzugtes Thema der schauspielerischen Darbietung, besonders des Films, und die sie theoretisch untermauernde Ästhetik stellt schließlich fest, es gehöre nun einmal mit zur Kunst, die moralischen Schranken zu übertreten. Von daher geht das Obszöne ganz automatisch weiter, ohne Ende: von der einfachen Unkeuschheit zum Ehebruch, vom Ehebruch zur Homosexualität, von dort zum Inzest, dann zum homosexuellen Inzest, zur Sodomie, Koprophagie und zu anderen, unaussprechlichen Dingen. Der öffentliche Geschlechtsverkehr, eine feststehende Tatsache, beweist vielleicht am krassesten, wie sich die Fleischeslust unserer Zeit faktisch auswirkt. Man muß schon bis zu den Kynikern zurückgehen, um auf ihn zu stoßen, und der hl. Augustinus hielt ihn sogar aus physiologischen Gründen für unmöglich. Vielleicht gehen jedoch die internationalen Erotika-Ausstellungen noch darüber hinaus, wie z.B. im Jahr 1969 die berühmt-berüchtigte Schau in Kopenhagen und die 1969 in Hamburg vom Kulturbeauftragten eröffnete internationale Ausstellung pornographischer Kunst. (Fs)

230a Die Kirche hat alsbald eine nachsichtige Haltung gegenüber dem der Unkeuschheit dienenden Filmschaffen eingenommen. Man wies in der kircheneigenen Presse nicht mehr auf die zu meidenden Filme hin und rechtfertigte dies mit dem Spruch: »Die gegenwärtige Moral ist etwas anderes als der grobe Moralismus, in den man früher nicht selten verfiel«. Man prämiierte Streifen von eklatanter Schamlosigkeit; man stellte die nunmehr geübte Nachsicht als Achtung vor der Reife des modernen Menschen hin. (Fs)

230b Erheblicher jedoch als die Vorkommnisse selbst ist, wie gesagt, die Bedeutung, die diese im menschlichen Geist erlangen, sind die in der Tiefe schlummernden Überzeugungen, die zur Urteilsbildung führen. Es empfiehlt sich also, uns ein wenig mit dem Phänomen des Schamempfindens zu befassen, um aufzuzeigen, daß auch der gegenwärtige Sittenverfall von der Leugnung der Naturen und Essenzen herrührt. (Fs)

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