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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Überbevölkerung: Mythos oder Wahrheit; Beispiel: das klassische Griechenland, England (F. Bacon, Th. Hobbes, J. Swift); Platon, Aristoteles - Schriften der großen Religionen (Bibel, Talmud, Awesta, Koran)

Kurzinhalt: Zu Recht darf man fragen, ob nicht auch das Thema »Übervölkerung« in seiner globalen Betrachtungsweise in Wahrheit ein höchst hartnäckiger Mythos ist.

Textausschnitt: 31a Die Überschrift dieses Kapitels ist dem Titel des letzten, postum erschienenen Buches von Alfred Sauvy1 entlehnt. Es befaßt sich mit einer häufig jenseits aller wissenschaftlichen Untersuchung gestellten Frage: dem Verhältnis zwischen der Menschheit und dem von ihr bewohnten Raum. (Fs)

Die Zahl der Menschen hat in der Geschichte in regelmäßigen Abständen Autoren beunruhigt. Wir begegnen dieser Unruhe beispielsweise schon vor zweieinhalb Jahrtausenden in Athen, im 18. Jahrhundert in London und in jüngster Zeit bei Anbruch der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts. Beruht diese Unruhe auf realen Problemen oder hängt sie mit mythischen Fragen zusammen, wie wir sie immer wieder in den Zivilisationen antreffen?2

Als Wissenschaft von den Mythen führt uns die Mythologie zu den Menschheitsanfängen zurück, als die Götter die Sterblichen mit den Segnungen des Ackerbaus (Ceres), der Metallbearbeitung (Vulcanos), des Handels (Merkur), der Künste (Apollo) bedachten. In diesen Mythen schlägt sich nichts anderes nieder, als daß Kolonisatoren noch primitive Völker an ihrem Wissen teilhaben lassen3. (Fs)

32a Wenn wir heute vom 19. Jahrhundert als der »Belle Epoque« sprechen, dann verkürzen wir es auf den Eindruck, den die unbestrittenen Fortschritte der Industrie und der Lebenskunst hinterlassen haben, mit denen das Elend der besitzlosen Landarbeiter und ausgebeuteten Industriearbeiter zurückging und die Städte dank der Wasserversorgung und der Verbesserung der sanitären und städtebaulichen Verhältnisse im weitesten Sinne bewohnbarer wurden. (Fs)


Ein Mythos kann sich aber auch auf ein wiederkehrendes tragisches Ereignis stützen, das bis heute noch nicht überall beseitigt ist: auf die Hungersnot, die man der Übervölkerung anlastete. Die Fortschritte im Transportwesen haben diese Drohung mittlerweile sehr gemildert, denn Trockenheit oder Überschwemmung treten immer nur lokalisiert auf. Die Revolution von 1789 zum Beispiel war teilweise auch das Ergebnis einer Getreideknappheit in Frankreich: Wegen des Zerfalls der traditionellen Verwaltungskader, der Transportwege und der Abwertung des Papiergeldes blieben die schnell getroffenen Maßnahmen für eine Einfuhr ausländischen Korns erfolglos, und dies erst führte zu der wirklichen Hungersnot und den Volksaufständen. (Fs)

33a Zu Recht darf man fragen, ob nicht auch das Thema »Übervölkerung« in seiner globalen Betrachtungsweise in Wahrheit ein höchst hartnäckiger Mythos ist. (Fs)

33b Von der Bevölkerungsentwicklung ist heute fast ausschließlich im Sinne einer Überschwemmung die Rede. Die Bevölkerungszunahme in gewissen Ländern der Dritten Welt ist Gegenstand einer apokalyptischen Literatur. Sie will jeden pflichtbewußten Bürger dazu veranlassen, seine Kinder - wenn er denn unseligerweise welche haben sollte -zu sterilisieren und dann selbst von der Bildfläche zu verschwinden, um Platz zu machen... In den Augen dieser Propheten ist die Sturzflut der Meere ein Nichts im Vergleich zur Menschenflut, die manchem gar folgenschwerer dünkt als ein Atomkrieg. Weit mehr als vom Einsatz der A- oder H-Bomben, der chemischen und bakteriologischen Waffen gelte es allen Ernstes von der »B-Bombe« (»B« wie »Bevölkerung«) zu sprechen. Die hauptsächliche, ja einzige Bedrohung unseres Planeten rühre von der Menschenzahl her, und die endgültige Katastrophe drohe schon morgen.4

Gestützt wird der Mythos einer absoluten Übervölkerung von vorgeblich ernsthaften Expertenuntersuchungen. Aber ist er denn eine Besonderheit unserer Zeit? Wer diesen heute verbreiteten Mythos verstehen will, muß wissen, daß die Angst vor der Übervölkerung zu jenen Urängsten gehört, die die Menschheitsgeschichte durchziehen und in jeder Epoche ihre berühmten Propagandisten gefunden haben. Was gestern ins Feld geführt wurde, um die Angst vor der Bevölkerungsentwicklung zu schüren, zeigt uns, daß die heutigen Argumente ganz und gar nicht neu sind. (Fs)

34a Den Ideologen der Bevölkerungsangst der vergangenen Jahrhunderte können wir ganz einfache Antworten entgegenhalten, die uns die Entwicklung der Menschheit liefert. Sie wollen wir in diesem Kapitel behandeln. Sodann wenden wir uns zwei heutigen Argumentationslinien zu, die im engen Verbund den Mythos von der Übervölkerung propagieren. Wohnt ihnen ein Realitätsgewicht inne oder müssen wir sie namens der Realität zurückweisen?

Erinnern wir als erstes daran, daß der Reflex der Bevölkerungsangst uralt ist. Die Texte der großen Religionen - Bibel, Talmud, Awesta, Koran - freilich halten die Fruchtbarkeit in Ehren und betrachten sie als Segen und Pflicht zugleich. In der Genesis sagt Gott nach der Sintflut: »Seid fruchtbar und vermehrt euch« (Gen 1,28). (Fs)

Das klassische Griechenland

34b Die griechischen Philosophen verkündeten hingegen eine Doktrin, die von der Bevölkerungszunahme abrät. Platon schwebt als demographisches Ideal eine streng stationäre Bevölkerung vor. In seinen Augen lassen sich die Güter der Erde nicht ausweiten, weshalb den Freien eine feste Bevölkerungszahl zu setzen ist, während die Zahl der Fremden und Sklaven keine Bedeutung hat. Im fünften Buch der »Gesetze« heißt es, der Staat müsse »die Zahl der Wohnstätten auf fünftausendundvierzig« festsetzen. Diese Zahl ist keine Zufallswahl. Sie läßt sich durch sämtliche Zahlen zwischen 1 und 12 (mit Ausnahme der 11) teilen, was die Arbeit der Verwaltung vereinfacht. Denn Platon ist der Theoretiker einer staatlichen Gesellschaft, in der die Zentralgewalt die Familie ihres Sinnes entleert und eine neue demographische Ordnung erzwingt. (Fs)

35a Da die Familie ihres Sinnes entleert werden muß, leben die Menschen in Gemeinschaft: »Daß diese Weiber allen diesen Männern [den Kriegern] gemeinsam seien, keine aber irgendeinem eigentümlich beiwohne, und so auch die Kinder gemein, so daß weder ein Vater sein Kind kenne noch auch ein Kind seinen Vater«, schreibt Platon in »Politeia«.5 Die demographische Ordnung wird durch autoritäre Maßnahmen sowie das erzwungen, was man später Eugenik nennt, in Sparta praktiziert wurde und 2000 Jahre später zu den traurigsten Blüten der Hitlerschen Ideologie gehörte. So heißt es in »Politeia«: »Nach dem Eingestandenen sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und die Sprößlinge jener sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll.«6 Notfalls müssen die Geburten von Amts wegen eingeschränkt werden, denn »man muß darauf achten, daß die Anzahl der jetzt von uns verteilten Wohnstätten stets dieselbe bleibe und weder größer noch kleiner werde«7. (Fs)

36a Aristoteles macht sich Platons demographische Auffassungen zu eigen, betont aber noch mehr die wirtschaftlichen Risiken einer Bevölkerungsexpansion. In »Politik« schreibt er: »Unsinnig ist es aber auch, daß Sokrates zwar die Besitztümer vereinheitlicht, die Menge der Bürger aber nicht veranschlagt [...]. Denn jetzt gerät zwar keines deswegen, weil die Habe unter eine beliebige Menge von Kindern aufgeteilt werden muß, in eine ausweglose Situation, dann aber, weil ja die Habe unteilbar ist, müssen die überzähligen Verwandten ohne Besitz sein.«8 Um dieser unvermeidlichen Bevölkerungszunahme zu entgehen, schlägt er eine Kontrolle der Fortpflanzung vor und lädt auch seinerseits zu einer gewissen Eugenik ein, wenn er beispielsweise vorschreibt: »Weiterhin [...] muß man dafür Obsorge hegen, daß die Körper der Geborenen nach dem Wollen des Gesetzgebers beschaffen sind.«9

Freilich: Platon und Aristoteles benötigten gar keine Jünger, die ihre Bevölkerungspolitik zur Abwehr des Mythos der Übervölkerung durchsetzten. Denn die Wirklichkeit, die Griechenland ereilte, war das genaue Gegenteil: die Entvölkerung, die zum Untergang führte. Diesen Untergang hat nicht einmal der Platonsche Mythos überlebt, der für etwa zwanzig Jahrhunderte begraben blieb. (Fs)

Unruhiges England

37a Zu neuem Leben wurde der Mythos im 16. Jahrhundert in England erweckt, als sich zahlreiche Autoren der Vermeidung einer Überbevölkerung verschrieben, die das als fundamental erachtete Gleichgewicht zwischen Bevölkerungszahl und Ernährung gefährden würde. (Fs)

Thomas Morus (1480-1535) war der erste einer langen Reihe von Engländern, die Bevölkerungsauswüchse befürchteten. In seinem 1516 erschienen »Utopia« beschrieb er die bestdenkbare Regierung. Diese müsse über die Bevölkerungsentwicklung wachen (für den Fall einer zu zahlreichen oder aber unzureichenden Bevölkerung schlug er Wanderungsbewegungen in der einen oder anderen Richtung vor). Allerdings wartete Thomas Morus mit Zahlen auf, die von einem recht pauschalen Kenntnisstand zeugen. So schrieb er: »Damit aber die Zahl der Bürger nicht abnehmen und nicht über eine gewisse Grenze anwachsen kann, ist vorgesehen, daß keinem Familienverbande - von denen jede Stadt sechstausend umfaßt ohne den zugehörigen Landbezirk - weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene angehören dürfen (die Zahl der unmündigen Kinder läßt sich ja nicht im voraus begrenzen).«1 Tatsächlich aber hatte damals die englische Durchschnittsfamilie etwa fünf Kinder, von denen nur 2 oder 3 überlebten. (Fs)

38a Francis Bacon (1561-1626) war gewissermaßen Malthusianer vor Malthus, denn er entwickelte die statische Argumentation und die starre Sichtweise, die den Malthusianismus im Grunde ausmachen. Im 1598 erschienenen Essay »Über Aufstände und öffentliche Unruhen« schrieb er: »Im allgemeinen muß ferner Vorsorge getroffen werden, daß die Bevölkerung eines Staates, namentlich wenn sie nicht durch Kriege dezimiert worden ist, nicht so groß wird, daß seine Vorräte sie nicht mehr ernähren können.«2

Auch Thomas Hobbes (1588-1679) kam in seinem 1651 erschienenen »Leviathan« auf die Frage der natürlichen Hilfsquellen zu sprechen: »Die Menge der Nahrungsmittel bestimmt die Natur selbst und besteht aus dem, was Erde und Wasser als nährende Brüste dieser unserer gemeinschaftlichen Mutter hervorbringen.«3

Im gleichen Sinne braucht man zur Vervollständigung nur den Titel einer Schrift von Jonathan Swift (1667-1745) zu zitieren; es handelt sich um »Einen bescheidenen Vorschlag, damit die Kinder der Armen in Irland ihren Eltern oder ihrem Land nicht zur- Last fallen, sondern für die Öffentlichkeit nützlich werden«. Der Text wurde 1729 veröffentlicht, gehört aber eher in den Bereich der politischen Satire als der demographischen Ernsthaftigkeit. (Fs)

39a Interessanterweise tauchten im selben 18. Jahrhundert die ersten großen technischen Entdeckungen auf, die die industrielle Revolution zum Ausbruch brachten. (Fs)

Die französischen Staatstheoretiker jener Zeit waren im Gegensatz zu den Engländern bevölkerungsfreundlich und unterstrichen die Ausweitungsmöglichkeiten der Güterproduktion der Erde. Geschrieben haben über dieses Thema Charles Dutot, Schatzmeister der »Compagnie des Indes«, im Jahre 1738, Louis Sébastien Mercier d'Argenson (1740-1814), Abbé de Saint-Pierre (1658-1743). Sie liegen ganz auf der Linie Fénelons, der in »Les aventures de Telemaque« (1699) erklärte: »Gut bearbeitet, ernährt die Erde hundertmal mehr Menschen als heute.« Die Zahl hundert ist natürlich symbolisch und dem Volksmund entlehnt. Der Wirtschaftswissenschafter Auxiron schreckt jedoch nicht vor der Nennung einer Höchstzahl zurück, wenn er 1766 schreibt, diese liege für Frankreich bei 140 Millionen - dem Sechs- bis Siebenfachen der damaligen Bevölkerung. Das entspräche einer Bevölkerungsdichte von 230 Einwohnern pro Quadratkilometern, weniger also, als heute in Deutschland, Belgien oder den Niederlanden leben... (Fs)

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