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Autor: Dumont, Gérard-Francois

Buch: Europa stirbt vor sich hin

Titel: Europa stirbt vor sich hin

Stichwort: Geschichte, Kennzeichen: 21. Jahrhundert; Vevölkerungswachstum (Verdreifachung in 90 Jahren) - Rückgang der Fruchtbarkeit; Kronos

Kurzinhalt: Heute scheinen die Völker der am weitesten entwickelten Industriegesellschaften nicht anders als Kronos der Jugend den Platz zu verweigern, ist sie doch der Spiegel, in dem man die Zeit ablaufen sieht.

Textausschnitt: 18b Wie immer dem sei: Die geschichtliche Stunde hat geschlagen, das 21. Jahrhundert ist angebrochen. Die Ideologie, die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ganze Völker und zahllose Köpfe dominierte, hat ausgedient. 1989/1990 hat eine neue Geschichte, ein neues Zeitalter begonnen. (Fs)
So darf man getrost schon jetzt die Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben. An Fakten mangelt es nicht, leere Blätter braucht kein Historiker zu befürchten: zwei Weltkriege, Bürgerkriege zu Dutzenden, zu unterschiedlichen Zeiten die Errichtung von Tyranneien in diversen Ländern, aber auch Aufschwünge zur Demokratie, Erlangung der Unabhängigkeit, Sieg der bürgerlichen Freiheiten, hier und dort Vereinbarungen über die Einrichtung von Friedenszonen1. (Fs)

19a An wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen war das 20. Jahrhundert nicht minder reich als an diplomatischen und militärischen: Nutzung neuer Energiequellen, technischer Fortschritt, mit Auto und Flugzeug eine Revolution des Verkehrswesens, Aufschwung von Telekommunikation und Informatik bis hin zur Mikro-Informatik, Hebung des Lebensstandards und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken, Ansteigen der Produktivität auch in der Landwirtschaft, Vervielfachung der Dienstleistungen... - und kontrapunktisch dazu Wirtschaftskrisen, Inflationszeiten, mangelhafter Umgang mit der Beschäftigung, Forderung nach umweltverträglicher Produktion, umfangreiche Sozialkonflikte... (Fs)

So ist denn die Geschichte des 20. Jahrhunderts gewissermaßen »prall gefüllt«. Aber waren es die vorangehenden denn weniger? Ganz gewiß nicht. Sämtliche Jahrhunderte der Menschheit sind gekennzeichnet vom Widerstreit zwischen dem Wollen der Mächtigen und dem Bemühen um Frieden, vom Streben nach besseren Lebensbedingungen und dem Kampf gegen alles, was sich ihm widersetzt, vom Forschen der Künstler und Denker und von der Vernichtung dieses oder jenes Aspekts des kulturellen Erbgutes der Menschheit. Gewiß scheinen die geschichtlichen Erschütterungen in manchen Jahrhunderten weniger groß gewesen zu sein. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, daß es Jahrhunderte der Verödung und der allgemeinen Rezession waren, meist verbunden mit einem Rückgang der Bevölkerungszahlen. (Fs)

20a Unterscheidet sich also dieses letzte Jahrhundert, das die Welt erlebt hat - dieses 20. Jahrhundert - von den anderen? Rechtfertigt seine historische Analyse andere Methoden, als wir sie auf frühere Jahrhunderte anzuwenden gewohnt sind? Gewiß gelangt es in den Genuß erheblich umfangreicherer Quellen und Aussagen von Zeitzeugen. Aber brauchen wir zu seiner Betrachtung eine andere Brille, müssen wir bei unserer Analyse eine ganz bestimmte Wirklichkeit in Rechnung stellen?

20b Diese Fragen sind allesamt zu bejahen. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich ein in der ganzen, reichen Geschichte der Menschheit einmaliges Phänomen abgespielt. Dieses unvorhergesehene, ja unglaubliche Phänomen ist an den Kurven der Weltbevölkerung abzulesen. Im Jahre 1900 zählte unser Planet 1.634 Millionen Einwohner. 1997 ist er von rund 5.790 Millionen, mithin dem 3,54fachen bewohnt. Binnen neunzig Jahren hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht - und das ist beileibe ein außergewöhnliches Ereignis. (Fs)

22a Sicher: Auch in der Vergangenheit hat die Weltbevölkerung starke Wachstumsphasen erlebt, jedesmal nämlich, wenn der technische Fortschritt der Menschheit einen Sprung nach vorne tat (vgl. dazu Grafik 1). Dank der Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht im vierten Jahrhundert vor Christus hat sich die Bevölkerung verzehnfacht, freilich im Laufe von zehn Jahrhunderten. Mit dem Aufschwung zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert verdoppelte sie sich in etwa, bis dann die Verheerungen der schwarzen Pest einen schweren Einbruch bewirkten. Im 16. Jahrhundert schätzt man das Bevölkerungswachstum auf 25 Prozent, im 17. auf 18 Prozent, im 18. auf 24 Prozent, und im 19. Jahrhundert schnellte es mit 71 Prozent plötzlich hoch. Zwischen 1900 und 2000 wird die Weltbevölkerung indes von 1.634 auf rund 6.127 Millionen gestiegen sein. (Fs)

22b Niemals in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden ihrer Geschichte ist die Bevölkerung der Erde binnen knapp hundert Jahren um 375 Prozent gewachsen. Im Lichte der Geschichte ist dies ganz unzweifelhaft das fundamentale Wesensmerkmal des 20. Jahrhunderts. Es ist das Ergebnis einer phantastischen Revolution, deren Voraussetzungen verkannt wurden, weil man sie nicht zur Kenntnis nahm. Verkannt wurden sie vor allem durch die stagnierende Schule des 20. Jahrhunderts, die im Gefolge von Alvin Hansen1 an einen Niedergang der demographischen Bedingungen geglaubt hat. Nicht zur Kenntnis genommen wurden sie einfach deshalb, weil Zahlen und Statistiken für sich allein schweigen. Für sich genommen erklären sie gar nichts. Sie lösen keine Ängste aus, sondern bestenfalls Fragen. (Fs)

23a Ohne Erklärung dieses Wachstums bleibt das 20. Jahrhundert unverständlich, und dieses Wachstum hat mit dem Phänomen der ersten demographischen Umwälzung zu tun, daß sich nämlich die Lebenserwartung fast verdreifacht hat. (Fs)

23b Nicht minder ungewöhnlich und einmalig in der Geschichte ist indes ein zweites Wesensmerkmal, das das 20. Jahrhundert in seinen letzten Jahrzehnten kennzeichnet: der Rückgang der Fruchtbarkeit im entwickeltesten Viertel des Planeten auf einen unvorstellbaren Tiefstand. Unvorstellbar ist er insoweit, als - wie uns die meisten Autoren sagen - die Bevölkerungsgeschichte lehrt, die Bevölkerungsentwicklung sei ein ausschließlich positiv verlaufendes Naturgesetz. Plötzlich aber stehen wir in verschiedenen Ländern und Regionen wegen des Fruchtbarkeitsrückgangs negativen Zahlen gegenüber, teilweise verdeckt freilich von der längeren Lebenserwartung und von der Einwanderung. (Fs)

23c Eine Zukunftsplanung ist sinnlos, wenn sie vor der Realität einer zweiten Bevölkerungsrevolution - der UnterFruchtbarkeit - die Augen verschließt, die im Laufe des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts in bestimmten Ländern eingetreten ist. Diese Unter-Fruchtbarkeit betrifft ausgerechnet den Teil der Weltbevölkerung, der in den vergangenen Jahrhunderten den größten technischen Fortschritt verwirklicht hat und allein in der Lage scheint, die Herausforderungen der Dritten Welt zu bewältigen. (Fs)

24a Diese beiden in der Geschichte der Menschheit beispiellosen Phänomene, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen und im 21. Jahrhundert noch folgenschwerer werden, haben zwar mit derselben Gegebenheit - den menschlichen Ressourcen - zu tun, unterscheiden sich indes wesentlich voneinander. Die erste demographische Revolution ist die Folge eines phantastischen Fortschritts und einer grundlegenden Veränderung des menschlichen Verhaltens. Diese Revolution tritt mit fast unerbittlicher Logik geradezu mechanisch ein, sobald sich Techniken ausbreiten und Verhaltensweisen entwickeln. (Fs)

24b Doch gleichwie die erste ist auch die zweite Revolution alles andere als zufällig. Sie kommt nicht ex nihilo. Sondern in ihr schlagen sich Veränderungen der Verhaltensweisen nieder, die ihrerseits im Zivilisatorischen wurzeln. Ihr ursächlicher Schwerpunkt dürfte darin zu suchen sein, daß der Sinn für Dauer abhanden gekommen ist2, man sich im gegenwärtigen Augenblick einigelt, sich weigert, die Autonomie von Zeit und Leben anzuerkennen. Die mythologische Verkörperung dieser Grundeinstellung ist der griechische Gott Kronos: Er weigerte sich, der Zeit und dem Leben ihren Lauf zu lassen, weshalb er, damit ihm nur niemals einer nachfolgen könne, ein Festmahl hielt und seine eigenen Kinder fraß. Mit dem Fehlen eines Nachfolgers wollte er sich ewiger, unangefochtener Herrschaft vergewissern. Zwischen 1819 und 1823 malte Francisco de Goya y Lucientes ein Ölbild, auf dem sich der schreckliche Herr der Kultur unter seinem lateinischen Namen Saturn mit weitaufgerissenem Maul und in beispielloser Gier anschickt, eines seiner Kinder zu verzehren. (Fs) (notabene)

25a Heute scheinen die Völker der am weitesten entwickelten Industriegesellschaften nicht anders als Kronos der Jugend den Platz zu verweigern, ist sie doch der Spiegel, in dem man die Zeit ablaufen sieht. Meinen sie etwa, mit der Einschnürung der Fruchtbarkeit den Spiegel verkleinern und so der Wirkung der Zeit Einhalt gebieten zu können? Glaubt der vom Kronos-Komplex befallene »Homo sapiens« (werden wir ihn gar »supersapiens« oder »hypersapiens« taufen?), dieser Alchimist von heute, sich mit der Ablehnung einer Nachkommenschaft, wie sie die Kontinuität des Lebens voraussetzt, eine Ewigkeit bauen zu können?

Setzen sich diese Tendenzen fort, so werden die Folgen dieser zweiten Bevölkerungsrevolution beträchtlich, ja vielleicht nicht wieder gutzumachen sein, wie der angesehene französische Demograph Jean Bourgeois-Pichat in der renommierten Zeitschrift »Population«3 nachgewiesen hat. Darum gilt es, darüber nachzudenken, wie sich diese negativen Folgen verhindern lassen. Mit anderen Worten: Aufweichen Wertvorstellungen läßt sich eine dauerhafte Zivilisation aufbauen?

25a Für eine erste Antwort auf diese Frage müssen wir zunächst dem Planeten auf den Puls fühlen. Denn die Geschichte der europäischen Bevölkerung ist Bestandteil eines Weltganzen, in dem die Internationalisierung der Information und die Globalisierung der Kommunikation oft genug die Besonderheiten verhehlen. Wozu denn sich für einen Teil der Welt - Europa - interessieren, wenn es einzig um die Evolution der menschlichen Spezies als Ganzes geht? Wer die Notwendigkeit einer Analyse Europas verstehen will, muß zuerst einmal die gängige Tendenz entmystifizieren, die das sozio-demographisch Erhebliche stets und ausschließlich im Gesamtweltbild erblicken will. Was nottut, ist ganz im Gegenteil der Blick auf klar umgrenzte Räume, denn entscheidend ist die Heterogenität und Diskontinuität der menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit. (Fs)

25b Haben wir uns vom Globalisierungsmythos befreit (Kapitel 1), der ja keineswegs in der Natur der Dinge liegt, müssen wir uns als nächstes eben dieser Natur der Dinge zuwenden. Das geht nur, wenn wir die beiden verkannten demographischen Revolutionen (Kapitel 2), die Wesensmerkmale des runzlig gewordenen Europa (Kapitel 3) und die Eigentümlichkeiten des europäischen Westens und Ostens (Kapitel 4) verstehen. Über die technischen Mechanismen hinaus führt uns die Untersuchung der Kausalitäten der politischen Démographie zu der Frage, ob vielleicht Europa durch Vorgehens- und Verhaltensweisen geprägt ist, die man eine »Ich-Kultur« nennen könnte (Kapitel 5). »Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird überhaupt nicht sein«, schrieb André Malraux. In Anlehnung daran formulieren wir so: Das 21. Jahrhundert wird menschlich sein, wenn es von Wertvorstellungen, und unmenschlich, wenn es von Unwerten getragen ist (Kapitel 6). (Fs)

27a Zu guter Letzt: Das beginnende 21. Jahrhundert fordert zweifellos eine neue politische Kunst (Kapitel 7). Angesichts der hoffnungsleeren Ideologien, angesichts der Fanatisie-rungsrisiken, angesichts der Gefahren der Tyrannei sehnen sich die Menschen nach der Freiheit des Seins. Wie soll diese Wirklichkeit werden können, wenn eine Politik des Zwangs oder - heimtückischer - eine fehlende, unangepaßte, gar tatenlose Politik sie erstickt?

27b An der Jahrtausendwende ist die Geschichte unsicher geworden. Manche sprechen unter dem Einfluß eines naiven Optimismus vom »Ende der Geschichte«. Sie glaubten im Untergang des Marxismus den endgültigen und universellen Sieg der Demokratie erblicken zu können. Spätestens am 2. August 1990 dürften die Panzer in Kuweit und seither unzählige Entwicklungen (wie etwa auf dem Balkan) sie unsanft aus ihren Träumen geweckt haben. Denn ein »Ende der Geschichte« kann es nur geben, wenn das »Ende der Menschheit« eingetreten, die ganze Menschheit dem Kronos-Komplex anheimgefallen ist. Ist doch, wie Jean Rostand schreibt, »alle Hoffnung dem Menschen erlaubt, sogar die Hoffnung auf Untergang«4. (Fs)

28a Aber lehrt uns nicht die griechische Mythologie, daß Kronos' Frau Rhea dem Festmahl ihres Gatten eine andere Wendung gab? Es gelang ihr, ihren Sohn zu retten, aus dem kein geringerer als Zeus wurde. Rhea versteckte den Letztgeborenen und reichte ihrem schreckgebietenden Gatten einen linnenumhüllten Stein. Im Glauben, die Nahrung zu verschlingen, die seine Macht erhalten sollte, verschlang Kronos den Stein und ward schwer und schwach. Woraufhin der insgeheim in der Obhut von zwei Nymphen am Fuße des Berges Ida auf Kreta aufgewachsene, mit wildem Honig und dem Milch der Ziege Amalthea genährte Zeus seinem Vater entgegentreten konnte. Er zwang ihn, das »große Fressen« seines Festschmauses auszuspucken, erst den Stein, dann seine Brüder und Schwestern, die endlich erlösten Olympier. (Fs)

28b So wurde Kronos eben seiner Gefräßigkeit wegen besiegt. Weil Rhea, Symbol eines dem ihres Gatten radikal entgegengesetzten Sinns des Lebens, das Unmaß des Festmahls des Kronos gegen dessen Exzesse zu wenden vermochte. Dazu bediente sie sich einer einfallsreichen Finte. (Fs)

29a Die Lehre dieser Mythologie ist klar: Niemand ist Sklave der Fatalität. Es genügt, zu wollen. Schon Seneca schrieb: »Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir nicht, sondern die Dinge sind schwierig, weil wir nicht wagen.«

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