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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Erkenntnis 1: intuitiv, abstraktiv; Unterschied: Ockham - Duns Scotus; complexa - incomplexa; Beispiel (Sokrates);

Kurzinhalt:

Textausschnitt: 1. Intuitive und abstraktive Erkenntnis
49a Eine der wichtigsten Voraussetzungen von Erkenntnis bildet nach Ockham die Vertrautheit mit den dabei verwendeten Begriffen, welche in Aussagen als Subjekt- und Prädikattermini Verwendung finden. Die Verbindung von Begriffen in einem Satz heißt 'complexum'; vor ihrer Verbindung nennt man die Begriffe 'incomplexa'. Die Kenntnis noch nicht in einer Aussage verbundener Begriffe ist nach Ockham auf zweifache Weise möglich: zum einen aufgrund 'intuitiver', zum anderen aufgrund 'abstraktiver' Erkenntnis (vgl. OT I, 30ff). 'Intuitiv' ist hier nicht im heutigen Sinne als nicht-analytisch, sondern im ursprünglichen Sinne des Wortes als 'der Einsicht unmittelbar zugänglich' (von lat. 'intueri' = einsehen) zu verstehen. Ein Begriff vermittelt intuitive Erkenntnis dann, wenn mit seiner Hilfe entschieden werden kann, ob die begriffene Sache existiert oder zumindest existieren kann (vgl. OT I, 26/7). 'Abstraktiv' dagegen heißt diejenige Erkenntnis von Begriffen, welche von der Frage der realen oder möglichen Existenz oder gar Präsenz des von ihr Begriffenen absieht ('abstrahiert'). 'Notitia abstractiva' heißt darüber hinaus auch jene Kenntnis eines Begriffsinhalts, die sich der Abstraktion von einer Vielheit von Einzeldingen zu einem Allgemeinbegriff verdankt. Das Einzeldingliche ist in diesem Sinne sowohl intuitiv wie abstraktiv zugänglich, das Allgemeine, die Universalien, hingegen nur abstraktiv. Welche Bedeutung dies für den ontologischen Status des Allgemeinen hat, wird uns im V. Kapitel über Metaphysik beschäftigen. (Fs)

Kommentar (16.11.09): Schon die Formulierung zeigt die Wende von Einsicht - Begriff in Begriff - Einsicht: "... Ein Begriff vermittelt intuitive Erkenntnis dann, wenn mit seiner Hilfe entschieden werden kann, ob die begriffene Sache existiert oder zumindest existieren kann."

50a Im Blick auf den hier diskutierten erkenntnistheoretischen Zusammenhang entscheidend ist ein Zweifaches: zum einen, daß die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis nicht eine solche von Erkenntnisobjekten, sondern eine solche von Weisen des Zugangs zu Erkenntnisobjekten ist; und zum zweiten, und dies folgt aus dem ersten, daß ein und dasselbe Ding Gegenstand sowohl intuitiver wie abstraktiver Erkenntnis sein kann. Die erstgenannte Besonderheit unterscheidet Ockhams Theorie der intuitiven und abstraktiven Erkenntnis von derjenigen des Duns Scotus. Der 'Doctor Subtilis' hat diese Unterscheidung terminologisch vorgeprägt, sie aber als eine Unterscheidung nach Maßgabe der Objekte angesehen. Für Ockham ist sie dagegen - und das ist außerordentlich folgenreich - eine solche der Weisen des erkenntnismäßigen Zugangs zu Objekten mit Hilfe von Begriffen. (Fs) (notabene)
50b Sähe man die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis als eine solche zweier verschiedener Klassen von Objekten an, so würde man Ockhams Erkenntnistheorie bereits im Ansatz verfehlen. Erkenntnis setzt Kenntnis der verwendeten Begriffe voraus. Selbstverständlich stehen Begriffe für etwas, nämlich für das von ihnen Begriffene, nur impliziert dies nicht notwendig, daß Anzahl und Struktur der Begriffe derjenigen der Dinge entspricht. Dies wäre eine sehr weitgehende ontologische Theorie; Ockhams kritische Auseinandersetzung mit ihr wird uns im Metaphysik-Kapitel beschäftigen. (Fs)

50c Nehmen wir zur Illustration ein Beispiel Ockhams: Daß Sokrates von weißer Hautfarbe gewesen ist, ist uns intuitiv dann und nur dann evident, wenn wir mit dem Namen 'Sokrates' und dem Begriff 'von weißer Hautfarbe (sein)' unmittelbar, d.h. aufgrund intuitiver Einsicht vertraut sind. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß uns Sokrates unmittelbar vor Augen ist, wohl aber, daß es ihn ohne Zweifel gibt bzw. gegeben hat. Die Einsicht in die betreffende Aussage ergibt sich freilich noch nicht zwingend aus der intuitiven Vertrautheit mit dem Namen 'Sokrates' und dem Begriff 'von weißer Hautfarbe (sein)', sondern hängt von weiteren Bedingungen ab, z.B. derjenigen, daß sich mit Hilfe der beiden intuitiv bekannten Termini überhaupt ein Satz bilden läßt. Entscheidend ist, daß die intuitive Kenntnis inkomplexer Termini die Voraussetzung für die im Urteil bzw. in der Aussage zu treffende Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz darstellt ("et hoc sufficit ad notitiam intuitivam quod quantum est ex se sit sufficiens ad faciendum rectum iudicium de exsistentia rei vel non-exsistentia". OT I, 70). Eben hiervon, von der Schaffung der Voraussetzung für eine Entscheidung über die Existenz oder Nichtexistenz einer Sache, sieht die abstraktive Erkenntnis ab. Daß zum Beispiel die Gerechtigkeit eine Tugend ist, läßt sich nicht ohne die Kenntnis der Begriffe 'Gerechtigkeit' und 'Tugend', wohl aber unabhängig von der Frage, ob Gerechtigkeit und Tugend 'existieren', erkennen und entscheiden. Ockhams Betonung, daß im Falle von Begriffen, welche für extramentale Einzeldinge stehen, das von ihnen Begriffene im Augenblick seines intuitiven Bekanntseins nicht notwendig für den Erkennenden präsent sein muß, ist ein weiterer Hinweis darauf, daß Erkenntnisgegenstand, Erkenntnisakt und Erkenntnisinhalt unterschieden werden müssen. Die beiden Erstgenannten sind schon deswegen voneinander zu unterscheiden, weil ein und dieselbe Sache Gegenstand ganz unterschiedlicher Erkenntnisakte, intuitiver wie abstraktiver, sein kann. Erlaubt eine Erkenntnis, eine Entscheidung hinsichtlich der Frage der Existenz oder Nichtexistenz eines Gegenstandes zu treffen, so handelt es sich um eine intuitive Erkenntnis; ist eine solche Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz des Gegenstandes dagegen nicht möglich, liegt abstraktive Erkenntnis vor. Daraus erhellt, daß zwar ein und derselbe Gegenstand nacheinander intuitiv und abstraktiv erkennbar ist, nicht aber, daß er zur gleichen Zeit sowohl intuitiv wie abstraktiv erkannt werden kann. Der Grund hierfür liegt darin, daß intuitive Erkenntnis sich grundsätzlich auf kontingente Sachverhalte bezieht, und das sind naturgemäß solche, die in irgendeiner Weise mit der Erfahrung verbunden sind. (Fs)

52a Es ist die 'notitia intuitiva', von der nach Ockham alle 'experimentelle Kenntnis' ('experimentalis notitia') ihren Ausgang nimmt. Sie ist es, die den Menschen die Gewißheit gibt, daß ein bestimmter Gegenstand tatsächlich existiert, und daß Aussagen über ihn potentielle Gegenstände von Wissenschaft sind. Doch nicht nur die 'experimentelle', sondern auch die theoretische Wissenschaft nimmt von der intuitiven Erkenntnis ihren Ausgang; denn das 'intuitiv' zugängliche Einzelseiende bildet nicht nur als sinnlich wahrnehmbares, sondern auch als dem Denken zugängliches den Ausgangspunkt von Wissenschaft. Es ist diese Doppeltheit des Zugangs zum Einzelseienden, welche der 'intuitiven' Erkenntnis ihre besondere Bedeutung verleiht. Das Einzelseiende aber ist durch Singularität seiner Existenz charakterisiert. Von beidem vermag der menschliche Intellekt zu abstrahieren: von der Existenz oder gar Präsenz des Einzelseienden und von seiner Singularität. Die 'abstraktive' Erkenntnis hat damit zwar wie die 'intuitive' mit dem Einzelseienden zu tun, nur betrachtet sie dasselbe - unter Ausblendung seiner Existenz, Präsenz und Singularität - unter einem anderen Gesichtspunkt, und zwar unter dem seiner Wissenschaftsfähigkeit. Wissenschaftsfähig wird das Einzelne dadurch, daß es in Zusammenhänge gebracht werden kann, die verallgemeinerbar sind. Es ist diese Allgemeinheit der Dinge, die genau besehen eine Verallgemeinerbarkeit von Aussagen über sie darstellt, welche für Wissenschaft konstitutiv ist, deren ontologischer Status aber so umstritten ist. Wir werden darauf im Metaphysik-Kapitel näher eingehen. (Fs)

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