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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; der Bürger als Konsument; Erfolg - spirituelle Krise; Demokratiedefizit; Aristokratie mit Zustimmung der Masse (Sokrates, Perikles); governance der Gemeinschaft

Kurzinhalt: Was folgt, ist ein Versuch, die Hauptaspekte der Kritik an der europäischen Demokratie synoptisch darzustellen ... Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die europäische Integration zum Transfer zahlreicher und immer wichtigerer Regierungsfunktionen ...

Textausschnitt: 132a In vielerlei Hinsicht ist Europa ein enormer Erfolg gewesen. Seine zwei Hauptziele (Frieden und Prosperität zu schaffen) sind in großem Maße erfüllt, wenn auch mit den gewohnten Höhen und Tiefen der klassischen ökonomischen Zyklen. (Fs)

132b Gerade der Erfolg des Aufbaus Europas bietet den Schlüssel, um die erste Dimension seiner spirituellen Krise zu verstehen. Europa hat einen enormen Erfolg gehabt, nicht einfach im Erreichen vieler seiner spezifischen Marktziele, sondern auch in der ununterbrochenen Wirksamkeit - obwohl so oft der Jüngste Tag verkündet wurde - seiner typischen Strukturen und seiner governance-Abläufe und vor allem in dem, was seine Haupterrungenschaft ist: Europa hat mit grundlegendem Erfolg jede ernste politische Opposition im Großteil der Mitgliedstaaten (möglicherweise mit der Ausnahme Großbritanniens) überwunden und wird heute als integraler Bestandteil der politischen Realität gesehen, wie der Nationalstaat selbst. (Fs)

132c Der Erfolg ist aus einem sehr einfachen Grund riskant: Er hat einen stark legitimierenden Effekt. In der Menschheitsgeschichte war es stets so: Gute Ergebnisse legitimieren am Ende in der sozialempirischen Wahrnehmung den Gebrauch von fraglichen Mitteln. (Fs)

132d Welches sind in diesem Zusammenhang die fraglichen Mittel? Es gibt kein Thema, das die Wissenschaftler mehr zum Gähnen brächte und die Politiker mehr langweilte als das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Es ist eine Frage, die ohne harsche Töne angepackt sein will. Aber verschwinden wird sie nicht. Daher müssen wir einen Umweg machen und uns fragen: Worin besteht das berühmte Demokratiedefizit der Europäischen Union? Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass mein Ziel nicht ist, von neuem das Demokratiedefizit zu beklagen. Eher ist es die Reaktion des Unionsbürgers auf das Demokratiedefizit, oder besser seine Nicht-Reaktion, die ein moralisches Zeichen des zerstörerischen Effekts ist, den Markt und politische Strukturen der Union ausüben. (Fs)

133a Was folgt, ist ein Versuch, die Hauptaspekte der Kritik an der europäischen Demokratie synoptisch darzustellen. Legen Sie den Sicherheitsgurt an und machen Sie es sich bequem, und lesen Sie dann, was folgt. (Fs)

133b Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die europäische Integration zum Transfer zahlreicher und immer wichtigerer Regierungsfunktionen nach Brüssel geführt hat, die in den Kreis der ausschließlichen oder konkurrierenden Gemeinschafts- und Unionskompetenzen fallen. Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Auch wenn die politischen Grenzen des Staates formal nicht angetastet worden sind, sind auf den Gebieten, auf denen die Verantwortlichkeiten auf die Union übertragen worden sind, die funktioneilen politischen Grenzen der Ordnung effektiv neu gezogen worden. Wenn die grundlegenden Entscheidungen der öffentlichen Politik, beispielsweise zum Welthandel oder zum Umweltschutz, zum Verbraucherschutz oder zur Einwanderung, oder - seit die Europäische Währungsunion existiert - zur Währungspolitik, ausschließlich oder überwiegend in die Verantwortung der Gemeinschaft fallen, ist der Sitz der Entscheidungen in diesen Materien nicht mehr der Staat, sondern die Union. Auch wenn die Union in ihrem eigenen Regierungssystem dieselbe institutionelle Ordnung reproduzieren könnte, wie sie sich in den Mitgliedstaaten findet, gäbe es eine Verringerung des spezifischen Gewichts, der politischen Bedeutung und des Grades an Kontrolle, die jedes Individuum innerhalb der neugezogenen politischen Grenzen ausüben könnte. Dies - so könnte man behaupten - ist ein unvermeidlicher Effekt der Vergrößerung der Zahl der Teilnehmer an den Entscheidungsprozessen (wenn eine Aktiengesellschaft neue Aktien mit Stimmrecht emittiert, verringert sich der Wert einer jeden Aktie) und der Hinzufügung einer Regierungsebene, die die "polity" weiter von denen entfernt, in deren Namen und für die jede demokratische Regierung ihrem Anspruch nach arbeitet. Das Problem wird sich Schritt für Schritt in dem Maße vergrößern, in dem sich die Union erweitert. (Fs)

134a Wenn Sie ein Etikett für diesen Prozess wünschen, könnte man ihn "umgekehrten Regionalismus" nennen. Alle Vorzüge des Regionalismus, echte und vermeintliche, werden hier umgedreht. Der umgekehrte Regionalismus verringert nicht einfach die Demokratie (im Sinne einer Verminderung der Macht eines jeden Individuums), sondern nährt auch ein weiteres und unterscheidbares Phänomen der Delegitimation. Demokratie und Legitimität sind keine Synonyme. Wir kennen politische Systeme in der Vergangenheit, die mit vernünftigen demokratischen Strukturen und Prozessen ausgestattet waren und zweifelhafte politische Legitimität genossen, und die auf demokratischem Wege durch Diktaturen ersetzt worden sind. Wir kennen auch politische Systeme in Vergangenheit und Gegenwart mit Strukturen und Prozessen absolut undemokratischer Regierungen, die trotzdem einen hohen Grad an sozialer Legitimität genossen haben und weiter genießen. Der umgekehrte Regionalismus wird in dem Maße, in dem er im besagten Sinne zu einer Verringerung der Demokratie beiträgt oder in dem er als ein Prozess wahrgenommen wird, der diese Wirkung hat, auch dazu fuhren, die Legitimität der Union zu schwächen. (Fs)

135a Die nachteiligen Wirkungen des umgekehrten Regionalismus und seine delegitimierende Wirkung werden durch drei Faktoren potenziert (werden):
- Die Tatsache, dass die Gemeinschaft oder die Union in Gebiete eindringt, die klassische Aufgaben des "Staates" sind (oder als solche betrachtet werden), die symbolischen Wert haben und in denen "uns" (Franzosen, Dänen oder Iren) die "Ausländer" nicht sagen dürften, wie wir uns verhalten müssen. Diese Felder, sozial konstruiert und kulturell abgegrenzt, sind nicht statisch fixiert. Sie reichen vom Lächerlichen (Abmessungen des traditionellen Bierhumpens in Großbritannien) bis zum Erhabenen (das Recht auf Leben in der Abtreibungsdiskussion in Irland). (Fs)

- Die Tatsache, dass die Gemeinschaft oder Union in Gebiete eindringt, die wirklich oder vermeintlich den Individuen oder den örtlichen Gemeinschaften überlassen bleiben müssten und in denen die "Regierung" "uns" nicht sagen dürfte, wie wir uns zu verhalten haben. (Fs)

- Die - mehr oder weniger in der Wirklichkeit verankerte - Wahrnehmung der Tatsache, dass es keine wirkliche Grenze und/oder wirksame Kontrolle für die Fähigkeit der Gemeinschaft oder der Union gibt, in Gebiete einzudringen, die herkömmlicherweise der Sphäre zugeordnet werden, die dem Staat oder dem Individuum vorbehalten ist. (Fs) (notabene)

135b Der umgekehrte Regionalismus ist nur ein intrinsischer und unvermeidlicher Zug des vermeintlichen demokratischen Missstandes der europäischen Integration. Ich habe oben geschrieben: "Auch wenn die Union in ihrem eigenen Regierungssystem dieselbe institutionelle Ordnung reproduzieren könnte wie sie sich in den Mitgliedstaaten findet, gäbe es eine Verkleinerung des spezifischen Gewichts, der politischen Bedeutung und des Grades an Kontrolle, die jedes Individuum innerhalb der neugezogenen politischen Grenzen ausüben könnte." Aber natürlich reproduziert die Union nicht die internen demokratischen Mechanismen. (Fs)

136a Eines der Elemente des demokratischen Prozesses in den Mitgliedstaaten - natürlich mit vielen Varianten - ist die Kontrolle, die jedenfalls formal das Parlament über die Regierung ausübt. Insbesondere wenn die politischen Entscheidungen eine legislative Tätigkeit fordern, ist die Zustimmung des Parlaments nötig. Die nationalen Parlamente entfalten über die Ausübung dieser institutionellen Funktionen hinaus auch die Funktion eines "öffentlichen Forums", verschiedentlich als Informations-, Kommunikations- oder Legitimationsfunktion etc. bezeichnet. Die These ist, dass die governance der Gemeinschaft und der Union und die Gemeinschaftsinstitutionen eine verzerrende Wirkung auf diese essentiellen demokratischen Prozesse in den Mitgliedstaaten und in der Union selbst haben. (Fs)

136b Die governance der Gemeinschaft und der Union verzerrt jenes Gleichgewicht zwischen den Exekutiv- und den Legislativorganen, das den staatlichen Ordnungen eigen ist. Was der exekutive Zweig der Mitgliedstaaten ist (die Minister der Regierung), bildet in der Gemeinschaft das Hauptrechtssetzungsorgan, das - wie bereits erwähnt - mit einer weiter wachsenden Entscheidungskompetenz auf immer größeren Feldern von politischer Relevanz ausgestattet ist. Die Dimensionen, die Komplexität und die Zeiten des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses bewirken, dass die Kontrolle durch die nationalen Parlamente, vor allem der großen Mitgliedstaaten, eher eine Illusion als eine Wirklichkeit sind. In den Materien, in denen die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, ist die Macht der nationalen Parlamente, die Ergebnisse im Bereich des Ministerrats zu beeinflussen, noch weiter reduziert. Das Europäische Parlament bildet keine wirkliche Alternative. Auch im neuen Verfassungsentwurf bleibt eine beträchtliche Zone der Entscheidungsprozesse formal der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Dieser Lesart zufolge stellt sich die governance der Union am Ende als reine Verstärkung der Macht der Exekutiven der Mitgliedstaaten dar. (Fs)

137a Das Europäische Parlament ist nicht nur durch das Fehlen bestimmter Befugnisse in formaler Sicht geschwächt, sondern auch durch seine strukturelle "Distanz". Technisch ist die Fähigkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments, die realen Teilnehmer des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses zu vertreten und als Mittler zu fungieren, in den größten Mitgliedstaaten einfach aus Gründen der Dimensionen schwerwiegend beeinträchtigt. Auch seine abstrakte Funktion als Vertretung der "Völker" - seine Funktion als öffentliches Forum - ist aus einer Kombination von Faktoren gefährdet: der Ineffektivität seiner Befugnisse (nicht hier werden die wirklichen Entscheidungen getroffen), seiner Arbeitsweise (Zeiten und Orte), des Sprachen-"Problems", der Schwierigkeit, seiner Tätigkeit in den Medien Widerhall zu geben (und der Indifferenz in dieser Hinsicht). Es ist bezeichnend, dass man im Laufe der Jahre eine schrittweise Vergrößerung der dem Parlament formal zugewiesenen Befugnisse verfolgen konnte und parallel eine Verringerung der Beteiligung an den europäischen Wahlen. Wenn diese Wahlen stattfinden, sind sie von der innerstaatlichen politischen Agenda dominiert, sind sie eine Art Prüfung in der Mitte der Legislaturperiode für die Parteien, die in den Mitgliedstaaten an der Macht sind. Auch dies ist ein bezeichnendes Faktum, und es ist exakt dem entgegengesetzt, was sich in der US-amerikanischen Politik zeigt, wo die Wahlen in den einzelnen Staaten oft eine Prüfung in der Mitte der Legislaturperiode für die zentrale Bundesregierung sind. Die Tatsache, dass keine transnationalen europäischen Parteien, die diesen Namen verdienen, entstanden sind, ist ein weiterer Ausdruck des untersuchten Phänomens. Der wirklich kritische Punkt ist, dass es keinen Weg gibt, auf dem es der Ablauf der europäischen Politik der Wählerschaft wirklich erlauben würde, "die Gauner hinauszuwerfen", also das auszuüben, was schließlich oft die einzige dem Volk noch gelassene Befugnis ist: eine Gruppe von Regierenden durch eine andere zu ersetzen. Im augenblicklichen Zustand hat keiner der Wähler bei den Europawahlen das Empfinden, in entscheidender Weise Einfluss auf die politischen Weichenstellungen auf europäischer Ebene zu haben, geschweige denn, zur Bestätigung oder Abberufung der europäischen Regierung beitragen zu können. (Fs)

138a Der verzerrende Effekt der gemeinschaftlichen governance kann auch dann evident erscheinen, wenn man eine neo-korporatistische Sicht des europäischen politischen Systems annimmt. In dieser Sicht hat das government - die exekutiven und legislativen Apparate - das Monopol für politische Entscheidungen: Sie sind nur Akteure, wenn auch wichtige Akteure, in einer größeren Arena, die andere (öffentliche und private) Subjekte umfasst. Die wichtige Funktion des Parlaments ist nach diesem Modell die, diffusen und fragmentierten Interessen Stimme zu verleihen, deren politisches Hauptgewicht einer Kombination aus ihrer Wählermacht und dem Schub entstammt, den sie der Wiederwahl von Politikern im Amt geben können. Andere Akteure, wie beispielsweise die Großindustrie oder die Gewerkschaften, deren Mitgliederschaft viel weniger diffus und fragmentiert ist, üben ihren Einfluss durch andere Kanäle und mit anderen Mitteln aus wie Finanzierung, Kontrolle der Parteiorganisationen und direkten Lobbying-Aktivitäten gegenüber der Administration. Wenn Gebiete politischer Entscheidungen auf Europa übertragen werden, bewirkt dies eine Schwächung der diffusen und fragmentierten nationalen Interessen, als Konsequenz der größeren Schwierigkeit, sich auf transnationaler Ebene zu organisieren, etwa im Vergleich zu einer kompakteren Gruppe der Großindustrien (wie der Tabakindustrie). Darüber hinaus führt analog die strukturelle Schwäche des Europäischen Parlaments zu einer Schwächung der besagten Interessen, auch wenn sie organisiert sind. Die Wählermacht hat einfach ein geringeres Gewicht in der Europolitik. (Fs)

139a Da die Normen, die dem gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren entstammen, den innerstaatlichen Normen vorgehen und "lex suprema" in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten werden, gerät auch die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der normalen Gesetze - in den Systemen, die diese Art der Kontrolle kennen (beispielsweise Italien, Deutschland und Irland) - in Gefahr. Der Europäische Gerichtshof bildet wie das Europäische Parlament keine wirkliche Alternative, da er unvermeidlicherweise von unterschiedlichen Jurisdiktionellen Wahrnehmungsweisen durchsetzt ist, vor allem bei der Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrenzen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten bilden nicht nur das Hauptgesetzgebungsorgan der Gemeinschaft, sondern haben auch die wichtigsten Exekutivfunktionen (sie sind in der Tat viel mehr als die Kommission für die Verwirklichung und Ausfuhrung der Rechtsordnung und der gemeinschaftlichen Politiken verantwortlich); auch sie entziehen daher letztendlich der Kontrolle der nationalen Parlamente (im allgemeinen schwach ausgeprägt) und der der nationalen Richter (im allgemeinen stärker) einen beträchtlichen Teil der eigenen Administrativfunktionen. (Fs)

139b Wahrscheinlich werden auch die politischen Präferenzen im Innern der Staaten in substantieller Weise umgewälzt. Ein Mitgliedstaat kann eine Mitte-Rechts-Regierung wählen und sich trotzdem einer Mitte-Links-Politik unterworfen finden, wenn beispielsweise der Rat durch eine Mehrheit von Mitte-Rechts-Regierungen beherrscht wird. Umgekehrt mag es etwa auch eine Mehrheit von Mitte-Rechts-Regierungen im Rat geben, die sich aber mit einer Minderheit von Mitte-Links-Regierungen konfrontiert sehen - oder auch einer einzelnen Mitte-Links-Regierung - in den Fällen, in denen die Regeln des gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahrens die Einstimmigkeit verlangen. Das Prinzip der Verhältniswahl wird sowohl im Rat als auch im Europäischen Parlament durch die Tatsache gefährdet, dass in beiden der Stimme der Bürger der kleinen Mitgliedstaaten wie Luxemburg mehr Gewicht verliehen wird, während den Bürgern der größeren Staaten wie Deutschland wahrscheinlich keine angemessene Stimme zugestanden wird. (Fs)
140a Zu alldem kommen die stets zunehmende Distanz, die Undurchsichtigkeit und die Unzugänglichkeit in der europäischen governance. Eine apokryphe Äußerung, die man Jacques Delors zuzuschreiben pflegt, sagte voraus, dass bis zum Ende der neunziger Jahre achtzig Prozent der Normen aus Brüssel stammen würden. Das Ende des Jahrzehnts liegt hinter uns, und gewiss ist ein enormer Teil der Kompetenzen, wenn auch nicht achtzig Prozent, nach Brüssel gewandert. Die dramatische Tatsache ist, dass keine politisch verantwortliche Stelle eine Kontrolle über diese Prozesse der Normproduktion hat - weder das Europäische Parlament noch die Kommission oder die Regierungen. Auch das Wirken der Presse und der anderen Medien, ein Gut von vitaler Bedeutung in unseren Demokratien, hat nur eine begrenzte Wirkung. (Fs)

Die Warnleuchten sind erloschen. Sie können die Sicherheitsgurte lösen. (Fs)

140b Im Großteil der Fälle wäre eine ähnliche Analyse des Demokratiedefizits eine Plattform für ein Ensemble von Vorschlägen politischer Natur: eine Reform der Europäischen Union zur Verringerung oder Beseitigung des Demokratiedefizits. Dazu gibt es eine beinahe unübersehbare Fülle von Literatur. Es ist nicht meine Absicht, dieser Flut von Beiträgen etwas hinzuzufügen. Vielmehr möchte ich eine andere Spur verfolgen, diejenige, die sich auf den Seelenzustand und auf die Gesamtheit der menschlichen Person in den aktuellen politischen Umständen Europas konzentriert. Dieser Zugang ist unmittelbar inspiriert von der Sensibilität der Enzyklika Centesimus Annus. (Fs)

141a Zunächst eine provokante These. Als Antwort auf alle Punkte, von denen die Rede war, scheint ein sehr wichtiges politisches Faktum hervorzutreten: Der Aufbau Europas ist, unbeschadet des Demokratiedefizits, mehrfach demokratisch bestätigt worden. Die Verträge sind den verfassungsrechtlichen demokratischen Verfahren unterworfen worden, die jeder Mitgliedstaat vorsieht, mit der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte, der Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, und mit jedem der Beitrittsverträge von Seiten neuer Staaten. Diese regelmäßigen Ratifizierungen sind, unbeschadet ihres "Ganz-oder-Garnicht"-Charakters, ein authentischer Ausdruck der demokratischen Institutionen der Mitgliedstaaten und, in einigen Ländern, des europäischen Wahlvolks. Sie konstituieren ein wirkliches "Referendum" über den Erfolg des europäischen Hauses. Stellen sie also nicht doch eine Legitimation für ihn dar?

141b Hier kehren wir zum Paradox des Erfolgs zurück. Sprechen wir die Dinge aus, wie sie sind: Die positiven Ergebnisse dieser "Referenden", die der Europäischen Union eine demokratische Färbung geben, stellen den korrumpierenden Effekt dar, den der europäische Erfolg auf das staatsbürgerliche Empfinden der europäischen Völker und auf die Bedeutung dessen hat, was eine Demokratie sein müsste. Der Erfolg des Marktes, der Reichtum, sogar das Prinzip der Solidarität, von der Union und den Mitgliedstaaten zur Erleichterung ihres Gewissens angewandt, werden so verführerisch, dass den Bürger am Ende das Demokratiedefizit nicht kümmert. Die Legitimation wird, wie zur Zeit des Imperium Romanum, durch das Ergebnis anstatt durch das Verfahren erworben. Die Tatsache, dass der Aufbau Europas mit einer solchen Regelmäßigkeit Zustimmung findet, ohne dass die zweifelhafte Demokratizität seiner täglichen Praxis ernsthaft zum Gegenstand der Diskussion gemacht würde, zeigt, dass Logiken des Marktes dabei sind, in die politische Sphäre einzudringen, durch die die Bürger zu Konsumenten politischer Produkte werden und nicht aktive Teilnehmer am politischen Prozess. Es ist der Prozess, durch den wir dahin kommen, die im Geheimen getroffenen Erwägungen von Funktionären zu schätzen - wegen der Qualität ihres Dialogs oder wegen der Güte ihrer Ergebnisse; aber die Bürger oder ihre Vertreter sind über dieses Wunderwerk an Überlegungen höchstens partiell informierte Konsumenten. In dieser Perspektive scheint Europa einen negativen moralischen spill-over-Effekt hervorzubringen. Die menschliche Würde wird aufs Spiel gesetzt, wenn das Individuum, anstatt sich als Protagonist seiner politischen Umwelt zu fühlen, auch in diesem Bereich zum Konsumenten wird. (Fs)

142a Natürlich wäre es absurd, der EU die Schuld an allen Übeln unserer politischen Systeme zu geben. Wie wir gesehen haben, leidet nicht nur Europa an einem Demokratiedefizit. Die Degeneration der politischen Kultur ist Teil der Geschichte der Demokratie vieler Mitgliedstaaten. Die Zeichen sind ziemlich evident, und hier soll es genügen, einige anzudeuten. Zu ihnen gehört das Vorherrschen des Bildes und der elektronischen Kommunikations- und Informationsmittel im politischen Diskurs: Es verwischt die Grenzen zwischen Politik und Unterhaltung, wie es typisch für eine Gesellschaft ist, die der Starkult charakterisiert. Andere Aspekte sind der Pragmatismus, der die Oberhand über die Ideologien gewinnt, und ferner die Techno-kratie und die technische Kompetenz, die zu den höchsten Kriterien der Legitimität aufsteigen. All dies gäbe es in jedem Fall, mit oder ohne Europäische Union. Aber Europa trägt dazu bei, es zu akzentuieren, zu verschärfen und - dies ist der hinterhältigste Aspekt - es normal zu machen und damit akzeptabel. (Fs)

142b Der äußere Einfluss der Europäischen Gemeinschaft auf die politische Kultur in der Demokratie spiegelt ihr inneres Ethos wider. Die Legitimation durch brillante technokratische Erfolge statt durch die komplexen Wege des demokratischen Prozesses ist auch ein zentrales Charakteristikum der internen Kultur der Kommission geworden. Ein zentraler Zug des Selbstverständnisses der Kommission ist die Vorstellung, eine autonome politische Institution zu sein, die eigener politischer Entscheidungen fähig ist, und (beispielsweise) nicht einfach das Sekretariat des Rates. Diese Art, die eigene Funktion aufzufassen, stellt der Kommission klar vor Augen, wie notwendig es ist, politische Legitimation zu haben: sowohl nach innen, durch Stärkung ihrer institutionellen Natur und ihres inneren Zusammenhalts, als auch nach außen, durch das Erreichen eines Konsenses, der für die Effektivität ihrer Befugnisse angesichts des Fehlens einer politischen Einsetzung durch das Volk essentiell ist, um angesichts der fehlenden politischen Einsetzung durch das Volk die für eine wirksame Nutzung ihrer Befugnisse unbedingt nötige Zustimmung zu erhalten. Die Legitimation durch den Erfolg, die professionelle Effizienz und die Ergebnisse werden so das Surrogat des demokratischen Prozesses und der demokratischen Legitimation. (Fs)

143a Wir haben also einen hin- und herwirkenden oder kreisförmigen Prozess, durch den es die Degeneration der Politik in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erlaubt, eine eigene Legitimation auf der Basis der erreichten Ergebnisse für sich zu reklamieren und von den Mitgliedstaaten am Ende einer jeden Regierungskonferenz alle Unterstützung zu erhalten, die verfassungsrechtlich vonnöten ist; und diese Legitimation trägt ihrerseits zu einer ausgemachten Degeneration dessen bei, was der Sinn der Demokratie sein müsste. (Fs)

143b Eine tragikomische Manifestation dieser Wirklichkeit finden wir in dem berühmten Zitat, das als Inschrift der neuen europäischen Verfassung vorangestellt ist:
"Die Verfassung, die wir haben... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." (Thukydides II, 37)

144a Das klingt doch ganz gut, oder? Aber rauen wir die Oberfläche ein wenig auf. Zunächst zur Erklärung: Diese Worte hat Thukydides Perikles bei dessen berühmten Nachruf auf die Athener, die im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges (431/ 430 v. Chr.) gefallen sind, in den Mund gelegt. Perikles ist eine perfekte Ikone für die Europäische Union: formal ein großer Demokrat, aber in Wirklichkeit war auch seine Demokratie eine Ergebnisdemokratie. Er ist es, der fuhrt; er schenkt abweichenden Meinungen keine große Aufmerksamkeit und hat eine unverhohlene Verachtung für das "Bordell" der partizipativen Demokratie. Es ist sicher kein Zufall, dass er als Symbol für die Europäische Union gewählt worden ist. Hören wir, was Sokrates im Gespräch, das ihn Platon im Menexenos fuhren lässt, zur athenischen Demokratie sagt:

"Mancher nennt sie Demokratie, manch anderer nach Gefallen anders; in Wirklichkeit aber ist sie eine Aristokratie mit Zustimmung der Masse."
Ist von Athen oder von der heutigen Europäischen Union die Rede?

144b Hier lässt sich auch ein Wort zu den Grundrechten anfügen. In der Debatte über die europäische Integration sind sie beinahe zum Fetisch geworden. Einerseits sind sie Ausdruck unserer Achtung für die menschliche Würde, wie wir bereits im ersten Teil des Essays gesehen haben. Andererseits aber werden die Menschenrechte zu einem Ersatz der politischen Rechte, eine Ware, die man dem Individuum verkauft, damit es sich wichtig und geschützt fühlt - aber geschützt gegen wen? Gegen eben die politische Autorität, in deren Entscheidungsprozessen seine Rolle so minimiert ist. Welche Würde hat eine Person, wie sehr sie auch von Kopf bis Fuß von Grundrechten beschützt sein mag, wenn sie nicht die Entscheidungen und normativen Prozesse kontrolliert, die für ihr Leben bestimmend sind? Sokrates nannte dies "Aristokratie mit Zustimmung der Masse"; wir nennen es konsumistische Marktmentalität, auf die politische Arena übertragen. Gerade gegen die Exzesse dieser Mentalität richtet sich die Enzyklika Centesimus Annus. (Fs) (notabene)
145a Wenn wir alle diese Argumente zusammen bedenken, hebt sich die Vision einer Zukunft ab, die voll von Erfolgen ist und in der Wohlstand und Sicherheit überborden; eine Zukunft, in der wir auch einen europäischen dritten Weg in der Gestaltung der sozialen Beziehungen und der Umverteilungspolitiken haben mögen, in der jedoch einer der wichtigsten Ansprüche der "Neuen Dinge" schrittweise immer mehr gefährdet werden wird: die Subjektstellung des Individuums. (Fs)

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