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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Schweigen der Christen 1

Kurzinhalt: Man kann nicht umhin, die Armseligkeit all dessen hervorzuheben: die große Begegnung zwischen der Welt des Christentums und der europäischen Integration - reduziert auf ein Wort, eingefügt zwischen Hellas und Humanismus!

Textausschnitt: 83b Paradoxerweise könnte man die Weigerung des Konvents, eine direkte Anspielung auf das Christentum aufzunehmen, von vorneherein als einen Segen für jene betrachten, die diesen Bezug am meisten in der Verfassung zu sehen wünschen. Das beste Anschauungsbeispiel für die inneren Mauern des christlichen Ghettos bietet sich, wenn wir uns in einem Gedankenexperiment das gegenteilige Ergebnis vorzustellen versuchen. (Fs)

83c Zuerst wollen wir uns vorstellen, dass die ursprüngliche Forderung einer Bezugnahme auf das christliche Erbe Europas in der Präambel der Grundrechtscharta und/oder des Verfassungsentwurfes akzeptiert worden wäre. Es ist nicht unmöglich, sich dies vorzustellen. Schließlich war das demokratische Selbstverständnis des Konvents einer seiner ausgeprägtesten Züge, und die Forderung stand, wo sie nicht offen unterstützt wurde, zumindest in Einklang mit den Wünschen einer großen Zahl von Europäern. (Fs)

84a Stellen wir uns weiter den Inhalt eines solchen Bezugs vor. In der tatsächlichen Präambel des Konvents finden wir jetzt die Erwähnung der "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben [...]". (Fs)

Im Verlauf der Arbeiten wurde auch eine direktere Anspielung in Erwägung gezogen. Statt auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" hätte es eine Bezugnahme auf das "griechische, christliche und humanistische Erbe" sein sollen. (Fs)

84b Man kann nicht umhin, die Armseligkeit all dessen hervorzuheben: die große Begegnung zwischen der Welt des Christentums und der europäischen Integration - reduziert auf ein Wort, eingefügt zwischen Hellas und Humanismus!

84c Zweifellos hätte am Ende die Bereitschaft zu einer solchen Anspielung auf die christliche Tradition mit so wenig Aufsehen wie möglich ein brillanter macchiavellistischer Schachzug derjenigen Kräfte sein können, die am meisten gegen jede Verquickung von Staat und Kirche sind. Es hätte einige Christen glücklich gemacht, hätte den größten Teil der anderen gleichgültig gelassen, und das Kapitel wäre so geschlossen worden. Dies steht nicht im Widerspruch zu dem, was ich oben geschrieben habe. Die symbolische und soziale Resonanz der Ablehnung ist bei weitem bezeichnender, als es eine Einwilligung des Konvents letztlich gewesen wäre. (Fs)

85a Wir können uns hier ins Gedächtnis zurückrufen, was bereits bei der verfassungsrechtlichen Erörterung gesagt wurde. In ihrer augenblicklichen Formulierung fugt die Präambel des Verfassungsentwurfs das religiöse Erbe zwischen das kulturelle und das humanistische ein. Diese Lösung ist in ihrer Absicht und in ihrer reduktionistischen Wirkung nicht weniger problematisch, insofern sie nicht nur die Religion vom Staat trennt, sondern sogar von der Kultur und vom Humanismus. Und wenn man die "humanistische" Tradition als ein Modell für nichtreligiöse Weltsichten versteht, wird die Präambel sogar noch problematischer. Wenn "Humanismus" als Gegensatz zur Religion zu interpretieren ist, müssen wir dann vielleicht annehmen, dass die Religion nichts mit jenen Werten von Gleichheit, Freiheit und Geltung der Vernunft zu tun hat? Sicherlich könnten wir verleitet werden zu glauben, dass sie diesen Werten gegenüber feindlich sei, eher für Hierarchie und Ungleichheit stehe, für Unterwerfung und Geringschätzung der Vernunft. Der Schatten des Vorurteils, wenn auch nicht bewusst zum Ausdruck gebracht, ist deutlich wahrnehmbar. (Fs)

85b Wie auch immer, die europäischen Christen und die Christen in Europa tragen in hohem Maße die Verantwortung für dieses Schweigen, sowohl durch die Ungeniertheit, mit der der Konvent die Forderungen (einschließlich der des Heiligen Stuhls) abgelehnt hat, einen Bezug auf das Christentum in die Präambel aufzunehmen, als auch - wichtiger noch - durch die Banalisierung, die der ganze christliche Europa-Diskurs erfahren hat. Einer der wichtigsten Gründe, die vorgebracht wurden, um zu erklären, wie die Frage eines Bezugs auf das christliche Erbe Europas so einfach hat gelöst werden können, ist das Faktum, dass dieses Erbe schlichtweg keinen Bestandteil des Gedankenguts der europäischen Identität bildet. Dieses Erbe ist nicht wirklich diskutiert, debattiert, bestritten, bekräftigt worden; und vor allem hat niemand seine Relevanz aufgezeigt: nicht einfach als ikonographisches Symbol, nicht einfach für jene, die eine Vision von der christlichen Welt haben, sondern für alle diejenigen, Gläubige oder Laizisten, die an einem Europa interessiert sind, das eine Stärke und eine tiefe Bedeutung hat. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist die Wichtigkeit des Christentums für das Projekt der europäischen Integration, für das Selbstverständnis Europas nicht einmal den Christen selber klar. Es gibt unendliche Literatur, wissenschaftlich und unwissenschaftlich, über den Prozess der europäischen Integration. Es gibt Beiträge zu dieser Diskussion von Intellektuellen oder mutmaßlichen Intellektuellen wie auch von uns langweiligen Akademikern, die aus dem Schreiben einen Beruf machen. Alle Politiker halten um die Wette "Reden über Europa": Erinnern Sie sich an die berühmte (anti-europäische) Rede von Thatcher in Brügge? Oder an die Rede (über ein föderales Europa) von Josef (Joschka) Fischer in Berlin? Trotzdem müssten Sie lange suchen, um in dieser breiten Literatur eine Arbeit zu finden, die ernsthaft das Verhältnis zwischen dem christlichen Denken und der europäischen Integration aufgreift. Wir dürfen uns durch die "Subsidiaritäts-Industrie" nicht irreführen lassen. Der Name ist der Soziallehre der katholischen Kirche entliehen, eine Tatsache, die immer wieder auf die verschiedenste Art und Weise hervorgehoben worden ist. Aber meistens enden die Analogien hier. Ein so wichtiges und tiefes Prinzip sozialer Verantwortung es auch sein mag, es ist zu einem wichtigen (aber entschieden weniger tiefen) Verfassungsprinzip der Zuweisung von Kompetenzen, der Regelung der Beziehung zwischen öffentlichen Gewalten gemacht worden. Dies steht im Gegensatz zur christlichen Konzeption der Subsidiarität, die vielmehr darauf zielt, das Individuum und die intermediären Gewalten der Zivilgesellschaft verantwor-tungsbewusst zu machen und wertzuschätzen. So ist der Begriff heute zu einem verfassungsrhetorischen Palliativ geworden, zu einem Exemplar des schlechtesten Eurospeak. (Fs)

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