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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; Synthese der Grundrechte als Ausdruck des europäischen Pluralismus; Beispiele (GVOs) ; wahrer Pluralismus: Freiheit zu und Freiheit von Religion

Kurzinhalt: Eines der größten Hindernisse für die Ausbreitung der Demokratie in vielen Gegenden der Welt ist die weithin vertretene Ansicht, dass Religion und Demokratie einander feindlich gegenüber stünden; ...

Textausschnitt: 61b Der aufmerksame Leser wird sicher bemerken, dass das verfassungsrechtliche Argument, das ich vorgetragen habe, auf zwei Prämissen ruht. Eine ist die Vorstellung, dass Christen und Laizisten auf gleiche Weise ein gemeinsames Erbe von Grundrechten verfechten, die in beiden Sichtweisen mit demselben Inhalt ausgestattet sind, aber unterschiedlich in ihrem Fundament. In Wirklichkeit ist es nicht immer so. In der Art und Weise, die Grundrechte zu definieren und konzipieren, gibt es, bei Themen wie Solidarität oder "Gemeinschaft", erhebliche Unterschiede zwischen der jüdisch-christlichen und der laizistischen Tradition. Und der Unterschied im Fundament spiegelt sich unweigerlich im positiven juristischen Bestand der Rechte wider; manchmal (wenn auch nicht oft) in ihrem Inhalt. Aber auch dies ist Europa. Der europäische Richter hat die harte (aber schließlich dankbare) Aufgabe, eine Synthese der Grundrechte zu schaffen, die besonderer Ausdruck des europäischen Pluralismus ist. Der Beitrag des christlichen Fundaments muss neben dem laizistischen aufgenommen werden - als Bereicherung und Mehrwert, den er der europäischen Verfassungstradition vermittelt. Die Grundrechte werden im Lichte der Präambel ausgelegt. Im konkreten Fall kann die religiöse Sicht auch zurückgewiesen werden. Aber was für ein Europa wäre das, wenn es völlig von jenem Licht abgeschnitten wäre - ganz so, als sei es von vor-neherein vernachlässigenswert?
62a Ich würde diese Bereicherung gerne veranschaulichen und mich auf das vorherige Beispiel beziehen, das dem Gebiet des Umweltschutzes entnommen ist. Betrachten Sie die Debatte über gentechnisch veränderte Organismen (GVOs). Weltliche wie religiöse Umweltschützer haben ein gesundes Maß an Skepsis und Misstrauen gegenüber GVOs gemein. Typischerweise wurzelt das weltliche Vokabular in der Sprache des Vorsorgeprinzips, das unserer Verantwortung anderen gegenüber entspringt, einschließlich den kommenden Generationen. (Fs)

62c Der angemessene Schlüsselbegriff wäre hier "unbekanntes Restrisiko", und folglich mutiert die Debatte zu einer Auseinandersetzung um Risikoabschätzung und Risikomanagement: Kann man GVOs einführen, solange niemand beweist, dass ein Risiko besteht? Sollen wir warten, bis erwiesen ist, dass kein Risiko besteht etc. etc.? Wir können es uns schlicht nicht leisten, unannehmbare Risiken in Bezug auf die ökologische Zukunft unseres Planeten einzugehen. Wenn zweifelsfrei erwiesen werden könnte, dass GVOs weder für das Leben noch für andere Arten oder für das ökologische Gleichgewicht ein Risiko darstellen, würde der Widerstand vieler schwinden. (Fs)

63a Aus religiöser Sicht würde man hingegen argumentieren, dass es nicht auf das Risiko ankomme; dass uns die Erde bloß anvertraut sei und wir nicht an ihrer innersten genetischen Architektur herumhantieren sollen, solange es keine überwiegenden widerstreitenden Belange gibt - egal ob ein solches Herumhantieren eine Gefahr heraufbeschwört oder nicht. GVOs verlangen unserer Gesellschaft schwierige Entscheidungen ab; ich sehe jedoch nur Vorteile darin, in der Diskussion ein Spektrum an Überlegungen zu Wort kommen zu lassen, das so breit ist wie möglich. Keine Furcht also vor einem Trojanischen Pferd; vielmehr: offene Tore für die willkommene Helena. (Fs)

63b Der aufmerksame Leser wird auch die zweite Prämisse bemerken. Meine ganze Argumentation für eine Bezugnahme auf Gott oder das Christentum in der europäischen Verfassungsikonographie (neben den aufklärerischen Passagen) scheint sich selbst auf die Prämisse des liberalen Pluralismus zu gründen. Ich finde dies überhaupt nicht widersprüchlich oder heikel. (Fs) (notabene)

63c Man könnte mit einer gewissen triumphalen Befriedigung feststellen, dass ein Glaubender wie ich es nötig hat, auf die liberale laizistische Prämisse zurückzugreifen, um die Aufnahme des religiösen Empfindens in die europäische Verfassung zu verlangen, während, wenn man sich von einer religiösen Prämisse aus bewegte, diese niemals einen Bezug auf die aufklärerische laizistische Tradition erlauben würde. Ich bin nicht beleidigt. Ich freue mich, dass mein Argument so gelesen wird. Nur für das Protokoll: Obwohl ich religiös bin, ist im Verständnis, das ich von meiner Religion habe, die tolerante pluralistische Ordnung in der Organisation der politischen Sphäre nicht nur akzeptabel, sondern Teil des religiösen Gebots selbst. (Fs)

64a Und was das Christentum betrifft, so stimme ich mit jenen überein, die im Licht von Enzykliken wie Redemptoris Missio, Centesimus Annus und Fides et Ratio glauben, dass die postkonziliare Kirche in ihrer Lehre über Staat und Zivilgesellschaft die nämlichen Werte der Freiheit, des Rechtsstaats und der Demokratie für ihre Lehre angenommen zu haben scheint - darüber hinaus eingebettet in eine Optik, die der Würde der Personen einen privilegierten Raum gewährt und so die Grenzen und Pathologien der Moderne überwindet. (Fs)

Ich habe bislang darauf bestanden, dass ein Ausschluss der religiösen Sensibilität aus dem Verfassungsgut keine wahrhafte, alles einschließende europäische Wahl wäre, da sie den offenkundigen Pluralismus der europäischen Verfassungslandschaft nicht angemessen widerspiegeln würde. (Fs)
64b Es sollte jedoch deutlich geworden sein, dass mein Anliegen nicht nur darin besteht, dass die europäische Verfassung in einem formalen Sinne ihre konstituierenden Elemente repräsentiert. (Fs)

64c Ich glaube, dass die europäische Verfassungslandschaft, die die verschiedenen Verfassungstraditionen Frankreichs und Irlands, Italiens und Deutschlands in Bezug auf Religion und Staat einschließt, einen tiefen politischen Wert verkörpert, der für die heutige Welt von vitaler Bedeutung und der integraler Bestandteil der Eigenart und Originalität Europas ist. (Fs)

64d Europa setzt sich für Demokratie ein - weltweit. Aber nach europäischer Auffassung muss die Demokratie auf friedlichem Wege verbreitet werden, durch Überzeugung, nicht durch Waffengewalt. Eines der größten Hindernisse für die Ausbreitung der Demokratie in vielen Gegenden der Welt ist die weithin vertretene Ansicht, dass Religion und Demokratie einander feindlich gegenüber stünden; dass die Annahme der Demokratie als Staatsform die Verbannung Gottes und der Religion aus dem öffentlichen Raum bedeute und diese zu einer privaten Angelegenheit mache. In der Tat ist dies die Botschaft, die das französisch-amerikanische Modell (seltsame Bettgenossen) von Verfassungsdemokratie der Welt überbringt. (Fs)

65a Diese wechselseitige Feindschaft mag im Hinblick auf die Beziehung von Kirche und Staat zur Zeit der Französischen und Amerikanischen Revolution tatsächlich bestanden haben. Doch ist das auch die Botschaft, die Europa der Welt von heute übermitteln will? Soll die europäische Verfassung auch verkünden, dass Gott aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden muss? Wie lange müssen wir noch Gefangene dieser mehr als 200-jährigen historischen Tradition bleiben? Der Staat hat sich gewandelt und die Kirche noch mehr. (Fs) (notabene)

65b Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, kann Europa ein Beispiel geben und eine Alternative zum amerikanischen und französischen Modell der strikten Trennung von Staat und Religion anbieten. Ein Europa, das ein Frankreich und ein Dänemark als legitime Partner akzeptiert und dessen Verfassung diese doppelte Akzeptanz widerspiegelt, kann zum lebendigen Beispiel dafür werden, dass die Religion keine Angst mehr vor der Demokratie und die Demokratie keine Angst mehr vor der Religion hat. Wahrer Pluralismus vermag beides wirkungsvoll zu gewährleisten: Freiheit zu und Freiheit von Religion. Er erkennt andererseits den lebendigen Glauben vieler Bürger furchtlos an und spiegelt ihn sogar in seinen Verfassungsdokumenten wider. Allein dieses Modell hat überhaupt Chancen, all die religiösen Vereinigungen zu überzeugen, die nach wie vor die Demokratie mit Misstrauen und Ablehnung betrachten. (Fs)

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