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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; 2 Argumente für die Aufnahme des Gottesbezuges in die Präambel


Kurzinhalt: ... der europäische Richter muss im Gegenteil das Verfassungsrecht interpretieren, indem er Symbolsprachen respektiert, die in einem gewissen Sinne untereinander widersprüchlich sind. Wäre dies doch die größte Herausforderung für Europa!

Textausschnitt: 52c Es gibt zwei weitere Argumente, die eher für als gegen die Aufnahme des Religionsbezugs in die Präambel sprechen. Um das erste zu beurteilen, lohnt es sich, den Textvorschlag des Konvents für die Präambel nochmals aufzugreifen. (Fs)

"In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft,

Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben,

53a In der Überzeugung, dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will,

In der Gewissheit, dass die Völker Europas, wiewohl stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten,

In der Gewissheit, dass Europa, 'in Vielfalt geeint', ihnen die besten Möglichkeiten bietet, unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde dieses große Abenteuer fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann,
In dankender Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents, die diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben [...]."

53b Die Präambel beginnt mit dem Zitat eines Passus von Thukydides, d. h. mit einem Bezug auf die griechischen Wurzeln der europäischen Zivilisation; sie fährt fort mit der Bekräftigung, dass die Bewohner Europas den Kontinent "seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben"; sie nimmt explizit Bezug auf die "Überlieferungen" Europas und auf die Werte, die "in seinem Erbe weiter lebendig sind"; sie proklamiert, dass die Völker Europas entschlossen seien, "die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten". Zu Recht versucht diese Präambel, im Bemühen, gewissenhaft das Telos und Ethos der europäischen Integration und der Europäischen Union sowie die gemeinsame Bestimmung Europas zu definieren, sich in der europäischen Geschichte zu verankern. Auch indem sie von der Zukunft spricht, bindet sie sich eng an die Geschichte. Es ist die Rhetorik der Geschichte, es ist die Rhetorik der Vergangenheit. Dies ist richtig. Wir haben bereits gesehen, dass das geschichtliche Gedächtnis unverzichtbar ist, um eine ethische Gemeinschaft zu bauen. Die Einfügung eines Bezugs auf das Christentum in die reiche historische Handlung der Präambel wäre eine Entscheidung ohne jegliche denkbare ideologische Aufladung - die einfache Feststellung einer antiken Wirklichkeit, ungefähr wie Perikles und Thukydides, und nicht weniger wichtig, um es vorsichtig zu sagen. Der Ausschluss einer Bezugnahme auf das Christentum hingegen ist ein beredtes Schweigen, und dies ist ideologisch aufgeladen. (Fs) (notabene)

54b Das vierte und letzte Argument ist enger mit den Grundrechten verbunden. Im vereinten Europa herrscht Konsens um die Vorstellung, dass ein zentraler Teil der europäischen Verfassung in der Bekräftigung und im Schutz der Grundrechte bestehen muss. Die Präambel des Verfassungsentwurfs unterstreicht, wie sehr die "zentrale Rolle des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie de[r] Vorrang des Rechts" in der europäischen Gesellschaft verankert sind. Es ist ein Kulturgut, das allen gehört: Der Laizist wie der Gläubige glauben an diese Unverletzlichkeit der Rechte. Aber die Grundlage dieser Überzeugung ist verschieden. Für den Laizisten geht diese Grundlage auf die humanistische, kantianische und neukantianische Tradition zurück. Die Bezugnahme in der Präambel auf "die Werte [...], die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft" ist eine wirkungsvolle Zusammenfassung des Geistes der Aufklärung. Und tatsächlich sind es die ursprünglichen Fundamente des Vokabulars der Grundrechte: Gleichheit und Freiheit decken beinahe das ganze Universum der Rechte ab. In der jüdisch-christlichen Tradition hingegen ist das Fundament der Überzeugung von der Unverletzlichkeit der Rechte ein anderes (und es scheint im Zusammenhang mit den Grundrechten angebracht, die häufig missbrauchte Wendung "jüdisch-christliche Tradition" zu gebrauchen). Für die, die jener Tradition zugehören, ist die Quelle der Gleichheit aller Menschen, der Freiheit und der Achtung der Vernunft der bestimmende Imperativ des Schöpfers, die Tatsache, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Der Ursprung der Verpflichtung auf die Menschenrechte findet dementsprechend seinen erstaunlichsten Ausdruck in der majestätischen Formulierung von Genesis 1,27:

"Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie."

55a Dies ist ein Passus, dessen tiefe Bedeutung für die Konzepte von Würde und Gleichheit keiner Auslegung bedarf. In ihm liegt, natürlich in völlig unbeabsichtigter Weise, etwas sehr "Europäisches". Im Umfeld der freiheitlichen abendländischen Tradition gibt es offensichtlich erhebliche Nuancierungen und Unterschiede in der Artikulation der grundlegenden Menschenrechte und in ihrer Wahrnehmung. Bedeutsam wegen seiner symbolischen und praktischen Tragweite ist der Unterschied zwischen dem Akzent, den die Amerikaner in ihrem Universum der Menschenrechte auf die Freiheit setzen, und jenem, den die Europäer auf die Würde setzen. Die Genesis bevorzugt die Würde, indem sie von Mann und Frau als nach dem Ebenbild Gottes geschaffen spricht. Gemäß einer religiösen Weltsicht ist die Freiheit nicht grenzenlos und muss Teil einer Disziplin von ethischer Wahrheit sein. Alle sind nach dem Bilde Gottes geschaffen, Männer wie Frauen; in diesem Sinne genießen sie eine unleugbare Gleichheit, und verdienen tiefe Achtung ihrer Würde. Alle sind als moralische Wesen geschaffen, allen ist jene Autonomie und jene Freiheit mitgegeben, die essenzieller Teil ihrer Ausstattung als Männer und Frauen ist. (Fs)

56a Wir können dieselbe Behauptung hinsichtlich unserer "Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde" machen, wie sie in der Präambel des Entwurfs der europäischen Verfassung in Erinnerung gerufen wird. Auch dieser Gedanke ist Teil einer gemeinsamen Überzeugung aller Europäer, laizistischer wie gläubiger, die dennoch verschiedene Grundlagen hat. Für den Laizisten ist eine solche Verantwortung eine natürliche und edle Folge der humanistischen Aufklärung. In der jüdisch-christlichen Tradition resultiert sie hingegen aus der den Menschen vom Schöpfer übergebenen Pflicht, die Erde zu hüten. (Fs)

56b Wenn die Präambel sich darauf beschränkt hätte, das Bewusstsein einer Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen und die - Laizisten wie Gläubigen gemeinsame -Überzeugung von der Unverletzlichkeit der Grundrechte usw. zu bekräftigen, gäbe es keinerlei verfassungsrechtlichen Einwand. Nun aber ist der Einwand, dass die Präambel darüber hinaus geht und auch die Grundlage erklären will; und dennoch - trotz des lexikalischen (subtil verletzenden) Bezugs auf die "Religion" - beschränkt sie sich auf das laizistische, humanistische und aufklärerische Fundament und lässt einen authentischen und würdevollen Bezug auf das Fundament des Glaubens an Gott "als Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen" aus, wie er sich in der glücklichen Formulierung der polnischen Verfassung findet - ein Prinzip, das allen monotheistischen Religionen gemeinsam ist. (Fs) (notabene)

In der Tat proklamiert der erste Abschnitt:

"In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit Urzeiten in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft,"

57a
und der zweite Abschnitt fährt fort:

"Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben."

57b Das humanistische Erbe erscheint daher als unterschieden vom religiösen, und das religiöse als unterschieden vom kulturellen. Die Gleichheit, die Freiheit, die Geltung der Vernunft würden also vom Humanismus stammen, insofern er der Religion gegenübergestellt ist. Die Formulierung, die die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" unterscheidet, bildet einen Teil der aufklärerischen Tradition, die dazu neigt, Religion als eine Privatangelegenheit zu definieren, Ausdruck einer individuellen Entscheidung der einzelnen Person. In dieser Formel der Präambel wird demgegenüber das andere, unterschiedene Fundament der Freiheit und der Gleichheit (die allen Grundrechten zugrunde liegen) geleugnet: ihr Fundament aus religiöser Sicht. Natürlich könnte man behaupten, dass auch eine humanistische religiöse Tradition bestehe, anzutreffen im Umfeld des jüdisch-christlichen Erbes. Aber es ist in jedem Fall bezeichnend, dass, während der zweite Abschnitt der Präambel eine Bezugnahme auf das religiöse Erbe enthält, der erste ausschließlich den Humanismus anspricht, wenn es darum geht, die Grundlage der Werte Gleichheit, Freiheit und Achtung der Vernunft zu explizieren. Zumindest handelt es sich um eine missglückte Formulierung. Und sie könnte als unfreiwillige Bekräftigung des alten Vorurteils interpretiert werden, nach dem Religion und Vernunft antithetisch sind. Versuchen Sie, diese vermeintliche Antithese Maimonides, dem Heiligen Augustinus oder Spinoza zu erklären. Ich werde nie das göttliche Lächeln meines Vaters, eines Rabbiners und Gelehrten, angesichts dieses falschen Gegensatzes von Religion und Vernunft vergessen. (Fs)

58a Auch soll bemerkt werden, dass der Bezug auf das Christentum als entscheidendes Element in der Erklärung der historischen Evolution des Kontinents im Grunde nicht normativ, sondern deskriptiv ist. Ja, dieses "christliche Erbe" ist nicht vollständig ein Grund zum Stolz für die Europäer. Öfter im Laufe der Jahrhunderte sind die Christen nicht auf der Höhe ihrer Glaubenslehren gewesen. Das Christentum als Ideal ist etwas anderes als das Christentum als Institution und historische Wirklichkeit. Die Inquisition ist Teil der europäischen Geschichte wie der Heilige Franziskus. Im Grunde zeigt sich der Papst mutig, indem er so beharrlich einen Bezug auf die christliche Tradition in der Präambel erbittet, bereit, die dunklen Momente des Christentums nicht zu verbergen. Wenn überhaupt, so ist es die vom Konvent vorgeschlagene Präambel, die am Ende allzu triumphalistisch sein könnte und der es an einem Bewusst-sein für all das mangelt, wofür sich Europa im Laufe der Geschichte zu entschuldigen hat. (Fs)

58b Schließlich bleibt eine Tatsache unbestreitbar: In diesem historischen Augenblick, in dem Dokument, in dem Europa seine Identität und seine Hoffnungen erklärt, gibt es keinen Raum für Gott. Für manche ist dies eine richtige Entscheidung, die die Fülle der menschlichen Würde ausdrückt. Für andere ist es die klassische Hybris der modernen Aufklärung. Wäre es demgegenüber nicht angemessen, wenn sich in diesem Dokument neben dem Menschen als stolzem Herrn der eigenen Bestimmung Raum für jene Demut fände, die beispielsweise das deutsche Volk, durch eine bittere historische Lektion nüchtern geworden, in der Präambel seiner Verfassung auszudrücken wusste, wenn es sich als verantwortlich nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott erkennt? Es ist eine Demut, die von nicht wenigen weiteren Verfassungstraditionen geteilt wird, und von nicht wenigen Europäern. (Fs)

59a In der Präambel des Verfassungsentwurfs fehlt darüber hinaus nicht ein Aspekt von feiner Ironie. Was kann man nach Ansicht des Konvents aus der religiösen Überlieferung Europas (zusammen mit der kulturellen und humanistischen) "schöpfen"? Es ist die Überzeugung, "die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert" zu haben. (Fs)

59b Nichts von alldem ist angreifbar; es ist im Gegenteil lobenswert und suggestiv. Aber es liegt natürlich auch eine Spur von Ironie darin, wenn eine anthropozentrische (laizistische) Weltsicht als unter anderem vom religiösen Erbe Europas inspiriert dargestellt wird. Wenn es schon einen Bezug auf die Religion geben muss, müsste er wenigstens die Prämissen der monotheistischen, jüdisch-christlichen Tradition respektieren, in der die zentrale Rolle der Person und ihre unantastbare Würde in das Innere einer theozentrischen Vision gestellt werden, da Erstere von Gott verliehen ist, und in der die Rechte der Person einen transzendenten Ursprung haben. In der Präambel ist nicht nur kein Raum für Gott, sondern es findet sich auch ein Widerwillen, dem religiösen Empfinden irgendein autonomes Statut zuzugestehen. (Fs)

59c Deswegen hält der ins Innere der Präambel hineingeschmuggelte Anruf einer näheren Prüfung nicht stand. Man erinnere sich demgegenüber an die wirksame und elegante Art, mit der die Frage zum Beispiel in der polnischen Verfassung gelöst wird, deren Intonation pluralistisch und voller Respekt ist - aus dem Blickwinkel des Laizisten wie des Gläubigen. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes ist nicht so explizit, aber gleichermaßen aussagekräftig. Sie beginnt, wie bereits gezeigt, mit einem Bezug auf die "Verantwortung vor Gott und den Mensehen", aus dem derselbe Auftrag zum Schutz der Rechte der Person und zur Achtung des Rechts folgt. (Fs)

60a Schließlich gibt es noch einen weiteren ironischen Aspekt in der Ikonographie der europäischen Präambeln: Auch die Grundrechtscharta, deren Präambel von der "Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten" spricht, lässt einem kulturell so wichtigen und fur Europa so charakteristischen Erbe wie dem christlichen keine Anerkennung zuteil werden. (Fs)

60b Noch einmal: Die polnische und deutsche verfassungsgebende Gewalt scheinen besser als der "Konvent zur Zukunft Europas" verstanden zu haben, was die geeignetste verfassungsrechtliche Antwort für eine pluralistische laizistisch-religiöse Gesellschaft ist. Vereint im Glauben an die Grundrechte, aber geteilt in der Auffassung über Fundament und Quelle dieser Rechte. (Fs)

60c In meinem Exkurs über das Einmaleins des Verfassungsrechts habe ich die Symbolsprache der Präambel vom positiven Verfassungsrecht unterschieden. Ohne Zweifel wird es Verfassungsrechtler geben, die mit Recht einwenden werden, dass es keinerlei klare Trennung gebe, weil beispielsweise die Richter auf jeden Fall Bezug auf die Symbolsprache der Präambel nehmen, wenn es darum geht, schwierige Interpretationsfälle zu lösen. Aber die Wahrheit ist, dass man durch diese Behauptung, die in sich völlig richtig ist, in der Debatte über die europäische Verfassung ein Argument für den Ausschluss eines jeden Bezugs auf Gott und die christliche Tradition aus der Präambel vorbringen möchte. Das Argument lautet wie folgt: Wie kann man die Prämisse vom agnostischen Staat respektieren, wenn der Richter etwa bei der Interpretation einer Vorschrift über das Recht auf Familie oder auf Leben (entscheidend im Kontext der Abtreibungsdebatte) diese Norm nach den hergebrachten Auslegungsregeln im Licht einer Präambel lesen wird, die auf Gott und das Christentum anspielt? Könnte diese scheinbar unschädliche Bezugnahme nicht ein Trojanisches Pferd sein, mit dem das Christentum (oder genauer die katholische Kirche) danach trachtet, sich eine Vorzugsstellung zu sichern, um die spätere Verfassungsentwicklung Europas unmittelbar beeinflussen zu können?

61a Mit aller Demut - ich finde dieses Argument wenig überzeugend, weil es in dieselbe gedankliche Falle tappt, die Neutralität und Laizität verwechselt. Die Debatte über die Familie oder das Recht auf Leben ist bereits Teil der europäischen Verfassungswirklichkeit. Ist der Agnostizismus des positiven Verfassungsrechts etwa weniger bedroht, wenn der Richter jene kontroversen Vorschriften im Licht einer Präambel interpretiert, aus der Gott verjagt worden ist und in der die laizistische Aufklärung triumphiert? Wäre dies nicht ebenso ideologisch? Lassen wir die Ironie beiseite. Wenn die französische oder italienische verfassungsgebende Gewalt will, dass ihr positives Verfassungsrecht im Licht der edlen humanistisch-laizistischen Tradition ausgelegt wird, ist dies eine völlig akzeptable Entscheidung. Es ist aber keine neutrale Entscheidung. Und wie ich bereits gesagt (und bis zum Überdruss wiederholt) habe, ist es keine für Europa geeignete Entscheidung, wenn man die Heterogenität der verfassungsrechtlichen Symbolsprachen bedenkt, die in Europa zusammenleben. Für den europäischen Richter gibt es den Luxus nicht, den einige seiner nationalen Kollegen genießen, die in diesem Punkt eine einheitliche verfassungsrechtliche Symbolik vor sich haben; der europäische Richter muss im Gegenteil das Verfassungsrecht interpretieren, indem er Symbolsprachen respektiert, die in einem gewissen Sinne untereinander widersprüchlich sind. Wäre dies doch die größte Herausforderung für Europa!

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