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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; keine Verletzung der Verfassungsordnung durch Bezug auf Christentum; 2 Schlussfolgerungen: deskriptiv, normativ

Kurzinhalt: Es muss betont werden, dass die Vorstellung vom "agnostischen Staat" nicht notwendig mit der französischen Lehre vom absolut laizistischen Staat oder mit der amerikanischen Doktrin von der völligen Trennung von Staat und Kirche in eins fällt.

Textausschnitt: 47a Welche Schlüsse lassen sich aus diesem empirischen Verfassungspanorama ziehen? Der erste Schluss ist deskriptiv, der zweite normativ. Die deskriptive Schlussfolgerung ist, dass Europa eine Vielfalt nicht nur in seinen Sprachen und Kulturen, sondern auch in seinen verfassungsrechtlichen und politischen Kulturen aufweist. Ein erheblicher Teil der französischen Besonderheit, der französischen Identität spiegelt sich zum Beispiel im leuchtenden Reichtum seiner Sprache wider wie in der Laizität seiner Verfassungstradition. Ein bedeutender Teil der irischen Identität spiegelt sich in seinem literarischen und dichterischen Erbe (eine ganz eigene Stimme in der anglophonen Welt), und auch, ja, in seinem religiösen Verfassungswortschatz. Diese verfassungsrechtliche Heterogenität Europas ist aufzunehmen, zu pflegen und zu bewahren: "in Vielfalt geeint."
47b Die zweite Schlussfolgerung, verfassungsrechtlich normativ, ist, dass die europäische Verfassungsordnung hinsichtlich der Religionsfreiheit - jener gemeinsamen Weise, die Grundprämisse der Freiheit zur Religion und von der Religion zu verstehen - nicht schon durch das Faktum verletzt ist, dass die Verfassung der religiösen oder laizistischen Empfindung der Körperschaft Ausdruck verleiht, sei es durch Vorschriften der Präambel, sei es (in einigen Fällen) geradewegs durch eine Staatsreligion. Wenn zum Beispiel in Irland die öffentlichen Stellen, inspiriert durch die Präambel der Verfassung, Formen des religiösen Zwanges gegen laizistische Bürger und Bewohner ausüben würden, würde dieses Verhalten - auch formal, von Seiten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - als Verletzung des Prinzips der Religionsfreiheit betrachtet werden. Entsprechend würden französische Behörden, wenn sie sich vom eigenen laizistischen Ethos inspirieren ließen und ungerechtfertigte Einschränkungen religiöser Praktiken vornähmen, eine Verletzung des Prinzips der Religionsfreiheit begehen. Aber an sich selbst sind weder die irische Präambel noch die dänischen, spanischen oder ähnliche Verfassungsvorschriften als Normen zu betrachten, die die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf die Freiheit zur Religion und von der Religion verletzen würden, d. h. die agnostische Prämisse als Teil des positiven Verfassungsrechts. Es muss betont werden, dass die Vorstellung vom "agnostischen Staat" nicht notwendig mit der französischen Lehre vom absolut laizistischen Staat oder mit der amerikanischen Doktrin von der völligen Trennung von Staat und Kirche in eins fällt. In der europäischen Verfassungspraxis erlaubt die agnostische Prämisse sowohl das französische Modell als auch das Modell eines Staates, der beispielsweise religiöse Einrichtungen im selben Maße subventioniert wie nichtreligiöse. Agnostizismus bedeutet hier, Pluralismus ohne Bevorzugungen zu praktizieren. Man könnte geradezu sagen, dass das zweite Modell agnostischer ist als jenes, das nur die nichtreligiösen Einrichtungen subventioniert, auch wenn sie im staatlichen Kleid daherkommen. (Fs)

48a Wir können bereits versuchen, daraus eine Schlussfolgerung für Europa zu ziehen: Von einer Gesamtschau der europäischen verfassungsrechtlichen Landschaft her will es scheinen, dass ein Gottesbezug oder ein Bezug auf das Christentum in der Präambel der Verfassung an sich keine Verletzung der europäischen Bindung an die Freiheit zur Religion oder von der Religion wäre. Es mag viele gute Gründe dafür geben, diesen Bezug nicht herzustellen; aber wenn man von den empirischen Befunden aus schließt, darf man die Verfassungsmäßigkeit nicht als einen dieser Gründe betrachten. Dies bildet jedoch kein Argument zugunsten einer solchen Bezugnahme. (Fs)

48b Es gibt hingegen verfassungsrechtliche Argumente, die Gründe zugunsten einer Aufnahme des christlichen Bezugs zu bieten scheinen. Die These vom völligen Schweigen der Verfassung, auch wenn es sich um die dritte Verfassungsfunktion handelt, jene symbolische und nicht "positive", jene, die in den Präambeln und nicht in den substanziellen Vorschriften zum Ausdruck kommt, wird oft auf der Grundlage des erwähnten agnostischen Prinzips aufgestellt. In seiner einfachsten Form lautet das Argument, dass sich der Staat (und daher auch die Europäische Union) - auch in der Symbolik der Präambeln - nicht auf eine Seite schlagen dürfe, weder durch die Gegenüberstellung von religiösen und laizistischen Teilen der Gesellschaft noch durch den Ausdruck der Bevorzugung einer spezifischen Religion, am wenigsten in einer Gesellschaft, in der verschiedene Religionen existieren. (Fs)

49a Dieses Argument ist nicht frei von erheblichen Schwierigkeiten. (Fs) (notabene)
Erstens besteht die naive Überzeugung, dass ein Staat wahrhaft neutral sei, wenn er den Laizismus praktiziere. Das ist aus zwei Gründen falsch: Wenn die verfassungsrechtliche Lösung als Entscheidung zwischen laizistischer und religiöser Option definiert wird, ist es klar, dass es in einer Alternative zwischen zwei Optionen keine neutrale Position gibt. Ein Staat, der jede religiöse Symbolik ablehnt, vertritt keine neutralere Position als ein Staat, der bestimmten Formen religiöser Symbolik anhängt. Der Sinn der agnostischen Prämisse ist genau der, die Anerkennung der religiösen Empfindung (Freiheit zur Religion) wie der laizistischen Empfindung (Freiheit von der Religion) zu garantieren. Deswegen ist der Ausschluss der religiösen Empfindung aus der Präambel keine wirklich agnostische Option mehr, er hat nichts mit Neutralität zu tun. Er bedeutet einfach, in der Symbolik des Staates eine Weltsicht gegenüber einer anderen zu bevorzugen und dies als Neutralität auszugeben. Es wäre wie die Entscheidung, in den Vorschriften des positiven Verfassungsrechts nur die Freiheit von der Religion, nicht auch die Freiheit zur Religion zu gewährleisten. (Fs) (notabene)

50a Zweitens stellt sich die delikate Frage der verfassungsrechtlichen Präferenzen der verschiedenen Mitgliedstaaten. Oft ist ein Orwellsches Element in der europäischen Verfassungsdiskussion präsent. Man bekräftigt, dass alle Verfassungen gleichermaßen gälten. Nur dass in der Debatte um die Verfassung offenbar einige gleicher sind ...! Die laizistische Ausrichtung der französischen Verfassung oder diejenige der italienischen verdienen unseren Respekt als gültiger Ausdruck der verfassungsrechtlichen Präferenz Frankreichs oder Italiens. Aber gelten sie mehr als beispielsweise die englische oder griechische oder deutsche Tradition? Das europäische Verfassungsrecht muss, selbstverständlich in den Grenzen des Vernünftigen und unter Vermeidung des Lächerlichen, auch auf der symbolischen Ebene, soweit wie möglich die Pluralität der nationalen verfassungsrechtlichen Empfindungen respektieren. (Fs) (notabene)
50b In der Verfassung eine Symbolik zum Ausdruck zu bringen, die sich die italienische oder französische Laizität zu Eigen macht, bedeutet notwendig, die englische, griechische oder deutsche Verfassungsempfindung abzulehnen. Es ist auf politischer Ebene nicht möglich und auf verfassungsrechtlicher Ebene nicht akzeptabel, eine pluralistische Rhetorik zu pflegen und dann eine imperialistische Verfassungspolitik zu betreiben. Das ist nicht Europa. (Fs)

50c Es könnte scheinen, als gäbe es keinen Ausweg. Der Bezug auf die Religion verletzt die laizistische Verfassungsempfindung; das Verschweigen der Religion verletzt das religiöse Verfassungsempfinden. Und beide Entscheidungen sind wertvolle Ausdrucksformen der europäischen Verfassungsgeographie, wie das Meer und die Berge. Und doch gibt es einen Ausweg, aber er verlangt einen Geist der Toleranz von beiden Positionen. Und diese Lösung findet sich verfassungsrechtlich auf europäischem Boden: Es geht darum, in die Symbolik der Präambel dieselbe Neutralität, die wahre Neutralität zu tragen, die sich in der Tradition des positiven europäischen Verfassungsrechts findet. Es ist eine ganz und gar europäische Entscheidung: keine "Neutralität" im Sinne eines Ausschlusses beider Optionen zu praktizieren, sondern den toleranten Pluralismus, der darin besteht, beide einzuschließen. (Fs)

51a Ein jüngeres, besonders aussagekräftiges Beispiel dieses dritten Weges findet sich in der Präambel der neuen polnischen Verfassung:
"Mit Rücksicht auf die Existenz und Zukunft unseres Heimatlandes, das im Jahre 1989 die Möglichkeit einer souveränen und demokratischen Bestimmung seines Schicksals wiedererlangte, errichten Wir, die Polnische Nation - alle Bürger der Republik, sowohl jene, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch jene, die einen solchen Glauben nicht teilen, diese universalen Werte aber als anderen Quellen entspringend achten, gleich in Rechten und Pflichten für das Gemeinwohl - Polen [...]."

51b Die Lösung ist naheliegend: sowohl der religiösen als auch der laizistischen Empfindung Anerkennung zuteil werden lassen. Es gibt andere Beispiele. Die "polnische Lösung" ist nicht unbedingt angemessen für ein Italien oder ein Frankreich (um nur zwei Beispiele zu geben), wo die Laizität als essenzieller Teil der Verfassungsordnung betrachtet wird, auch auf symbolischer Ebene. Aber die europäische Tradition verlangt ein Maß an verfassungsrechtlicher Toleranz von Staaten, Völkern und Bürgern. Ich gebe zu, dass die polnische Lösung einen laizistischen Puristen aus Italien oder Frankreich enttäuschen könnte. Aber er müsste seinerseits anerkennen, dass die Annahme einer rein laizistischen Position in der europäischen Verfassungssymbolik in gleichem Maße einen gläubigen Polen oder Iren enttäuschen könnte. Jede exklusivistische Lösung steht offenbar im Widerspruch zu jenem Prinzip der Toleranz, das der Verfassungsentwurf und die Grundrechtscharta selbst zu fördern versuchen. (Fs)

52a Ich möchte nicht verfechten, dass die Präambel der europäischen Verfassung den polnischen Text wörtlich wiedergeben müsste, wohl aber, dass sie ihn als eine gute Lösung in Betracht ziehen kann, der die verfassungsrechtliche Pluralität in Europa in angemessenerer Form widerspiegeln könnte als der vom Konvent vorgeschlagene Text. Wenn wir von der "polnischen Lösung" sprechen, meinen wir die Lösung betreffend den Gottesbezug. Es muss erwähnt werden, dass in derselben Präambel auch folgender Passus enthalten ist:

"Unseren Vorfahren für ihre Anstrengungen verpflichtet, für ihren Kampf um die Unabhängigkeit, mit großem Opfer erreicht, für unsere Kultur, verwurzelt im christlichen Erbe der Nation und in universellen menschlichen Werten ..."

52b Die einen mögen die Formel für glücklich und ausgewogen halten, andere können einwenden, der Bezug auf das "christliche Erbe der Nation" sei für eine multikulturelle Nation zu vereinnahmend. Glücklicherweise wartet auf uns nicht die Aufgabe, uns zu diesem Aspekt der polnischen Verfassung zu äußern, da die Vorstellung von Europa als Nation zu Recht verrufen ist. (Fs)

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