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Autor: Beckmann, Jan P.

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Ökonomieprinzip, Rasiermesser (rasorium): kein ontologisches Prinzip - Vermeidung eines Parallelismus zwischen Dingen und Begriffen

Kurzinhalt: Kurz: Der 'Razor' Ockhams ist kein gegenstandsbezogenes Prinzip, sondern eine erkenntnis- und wissenschaftsleitende Maxime, dies freilich nicht im Kantischen Sinne ...

Textausschnitt: 3. Das Ökonomieprinzip

41b Es gehört zu den Paradoxien der Wirkungsgeschichte Ockhams, daß das Wenige, was über die Jahrhunderte bis heute von ihm einen relativ weiten Bekanntheitsgrad besitzt, in dieser Form gar nicht von ihm stammt. Gemeint ist das berühmte 'Rasiermesser' ('rasorium'), welches seit je her in der Form zitiert wird: "Seiendes darf nicht ohne Not vervielfacht werden" ("entia non sunt multiplicanda sine necessitate").1 Diesem Prinzip zufolge sollen "überflüssige Entitäten" vermieden bzw., wenn sie dennoch angenommen werden, 'wegrasiert' werden. Das Ökonomieprinzip hat, so verstanden, eine eindeutig ontologische Funktion. Doch ist es wirklich möglich, irgendwelche 'Dinge' für 'überflüssig' zu erklären und sie deswegen zu eliminieren? Dies zu bejahen hieße behaupten, die Welt und alle Dinge in ihr seien nichts anderes als eine Projektion des menschlichen Geistes, dergestalt, daß sich ihr Umfang nach Belieben erweitern oder vermindern ließe. Einen derartigen Standpunkt hat weder das Mittelalter im allgemeinen noch Ockham im besonderen vertreten. Für ihn ist die Wirklichkeit eine solche radikaler Singularität alles Seienden. Das Seiende aber ist durchgängig kontingent, d.h. frei von jedweder ontischer Notwendigkeit. Das Ökonomieprinzip könnte nur dann ein ontologisches Prinzip sein, wenn man von der Annahme ausginge, die Welt und das in ihr Seiende gehorche dem Prinzip der Sparsamkeit, und zwar so, daß die Wirklichkeit ohne Beachtung des Ökonomieprinzips abundant und einzig mit ihm angemessen strukturiert wäre. Dies aber würde eine Notwendigkeitsstruktur in die Welt hineintragen, die sie infolge ihrer Kontingenz nicht besitzen kann. Die Welt und alles in ihr Seiende muß als Resultat der unbegrenzten Freiheit eines Schöpfers gedacht werden, welcher in seinem Tun und Lassen an keinerlei Ökonomie gebunden ist. "Es gibt viele Dinge, die Gott mit einem größeren Aufwand tut, die er aber auch mit einem geringeren Aufwand tun könnte" (OT III, 432, vgl. OT IX, 450). Die Wiedergabe des Ökonomieprinzips in der Form, es sei 'Seiendes' ('entia'), welches nicht vervielfältigt werden dürfe, ist Resultat der Verdinglichung eines seiner Natur nach methodologischen Prozesses, welcher als solcher Ausdruck grenzenloser Freiheit ist. Eben deswegen gilt dieses Prinzip nicht für Gott, weil dieser mit seiner Allmacht nicht ökonomisch umgehen muß; wohl aber gilt es für den Menschen, der mit Hilfe der natürlichen Vernunft Einblick in die zwar widerspruchsfreie, aber kontingente Wirklichkeit zu erhalten versucht. (Fs)

43a So gibt denn auch Ockham in Wirklichkeit dem Ökonomieprinzip zwei gänzlich anderslautende Formulierungen als die seit Jahrhunderten tradierte. Anstelle der Forderung, es seien die 'Dinge', die nicht vervielfältigt werden dürfen, heißt es bei ihm (A) "Umsonst geschieht durch Mehreres, was sich mit Wenigem tun läßt" ("frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora"),2 und (B) "Eine Mehrheit darf nicht ohne Not zugrundegelegt werden" ("pluralitas non est ponenda sine necessitate").3 Beiden Formulierungen gemeinsam ist, daß in ihnen jeweils von einer 'Mehrheit' die Rede ist, welche umsonst angenommen wird bzw. gar nicht angenommen werden darf. Was damit gemeint ist, wird offenbar, wenn man sich die Verwendungsweise des 'Rasiermessers' ansieht. So ist es nach Ockham z.B. überflüssig bzw. unsinnig zu behaupten, jemand sei "aus Gerechtigkeit ein Gerechter" ("iustus iustitia") oder das Geeignete sei "infolge seines Geeignetseins geeignet" ("aptum est aptum aptitudine") oder die Chimäre sei "ein Nichts infolge ihrer Nichtigkeit" ("nihil nihilitate") (OP I, 169). Damit ist nicht gesagt, Termini wie 'Gerechtigkeit', 'Geeignetsein' oder 'Nichtigkeit' seien bedeutungslos. Was Ockham für überflüssig bzw. für nicht angezeigt hält, ist die Annahme, man könne jemanden gerecht, eine Sache geeignet und eine Chimäre ein Nichts nur dann nennen, wenn man die Existenz der Gerechtigkeit, des Geeignetseins und des Nichts voraussetzt. Nach Ockham sind das allesamt überflüssige Annahmen: Der Gerechte ist nicht deswegen gerecht, weil es die Gerechtigkeit gibt, das Geeignete nicht deswegen geeignet, weil es das Geeignetsein gibt, die Chimäre nicht deswegen nichts, weil es das Nichts gibt. Derartige Annahmen beruhen auf einer Verwechslung von Verursachungs- und Erklärungszusammenhängen: Es besteht keinerlei Notwendigkeit, für gerechtes Handeln, für Geeignetsein und für das Nichts die Existenz einer Ursache wie Gerechtigkeit, Geeignetheit und das Nichts anzunehmen; es genügt vielmehr, hierin Bedingungsverhältnisse zu sehen: Wenn jemand nach dem Prinzip x handelt, dann wird er gerecht genannt; wenn eine Sache die Voraussetzung y erfüllt, dann ist sie geeignet; wenn etwas nicht existiert, dann ist es ein Nichts, etc. Auch ist es, um ein weiteres Beispiel zu geben, nach Ockham nicht sinnvoll zu behaupten, jemand sei Vater infolge der Vaterschaft, weil man sich damit auf die Annahme der Existenz von so etwas wie 'Vaterschaft' verpflichten müßte, was völlig überflüssig ist. Man wird die Verpflichtung auf so etwas wie 'Vaterschaft' schnell los, wenn man diesen Terminus ersetzt durch die Beschreibung 'hat ein Kind gezeugt'. Es ist ja nicht die Vaterschaft Ursache für das Kind, sondern der Vater. Dasselbe gilt von 'Mutterschaft' (zu ersetzen durch: 'hat ein Kind geboren') und Mutter. Bei der Erklärung solcher Sachverhalte soll man nicht unnötige und vor allem keine irreführenden Annahmen machen. Eine erfolgreiche Methode, dies zu vermeiden, ist die der Ersetzung von Namen durch Beschreibungen ("utendo descriptione loco nominis"). Denn: "Wörter und Begriffe sind trügerisch" (OP I 169). Beschreibungen implizieren keine Existenzannahmen und können so vor unzutreffenden Ontologien erfolgreich bewahren. (Fs)

45a Hintergrund der These von der Notwendigkeit der Befolgung des Ökonomieprinzips ist Ockhams Bemühung, die Behauptung einer Art Parallelismus zwischen Dingen und Begriffen zu vermeiden. Die Annahme, es gäbe so viele Begriffe, wie es Dinge gibt ("tot notiones, tot res"), ist unsinnig, denn auf der Grundlage dieser Annahme läßt sich nicht mehr erklären, warum ein und dasselbe Ding ganz verschiedenen Begriffen zugeordnet werden kann. Modern formuliert: Nach Ockham ist es nicht sinnvoll bzw. gar nicht möglich, jeden Terminus als Namen für eine Sache zu konstruieren. Statt dessen muß man schauen, ob man nicht an die Stelle eines Namens eine Beschreibung setzen kann, etwa an die Stelle von 'Vaterschaft' die Beschreibung 'hat ein Kind gezeugt', um auf diesem Wege unnötige Existenzannahmen zu vermeiden. Was hier durch das 'Rasiermesser' wegrasiert wird, sind nicht Dinge, sondern Erklärungen, welche überflüssige, möglicherweise gar falsche Annahmen voraussetzen. Man soll, so die positive Formulierung des Ockhamschen Ökonomieprinzips, in der wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen mit theoretischen Annahmen möglichst sparsam umgehen. Kurz: Der 'Razor' Ockhams ist kein gegenstandsbezogenes Prinzip, sondern eine erkenntnis- und wissenschaftsleitende Maxime, dies freilich nicht im Kantischen Sinne eines subjektiven Prinzips des Wollens, sondern im Sinne eines obersten Satzes ('maxima propositio'), einer Grundregel wissenschaftlichen Erklärens. (Fs)

45a Nicht um das Bestreiten oder Leugnen von Dingen geht es also, sondern um die ökonomische Reduktion der Hypothesen- und Theorienvielfalt, die man in der Erklärung der Phänomene annehmen kann, auf das Minimum dessen, was man annehmen muß. Dabei gibt es zwei verschiedene Arten von Fällen. Die einen sind dadurch gekennzeichnet, daß bei ihrer Behandlung die Reduzierung der Hypothesen- bzw. der Theorienvielfalt als ein Gebot der Zweckmäßigkeit und Praktikabilität erscheint, und die anderen dadurch, daß bei ihnen der Gebrauch nicht-notwendiger Annahmen schlechterdings zu vermeiden ist. Im ersten Fall spricht Ockham von fehlender Zweckdienlichkeit ("non oportet"), im zweiten Fall von fehlender Notwendigkeit ("nulla apparet necessitas". Vgl. OP I, 43 u. OT V, 404). Ockhams 'Rasiermesser' läßt sich mithin, je nach Bedarf, entweder als pragmatische Anleitung zu sparsamem Umgang mit Annahmen oder als eine streng zu beachtende Verfahrensvorschnft verwenden. (Fs)

46a Daß eine Theorie dem Ökonomiegedanken zufolge einfach aufgebaut ist, macht sie nicht notwendig wahr; daß sie kompliziert ist, macht sie nicht zwangsläufig (aber möglicherweise) falsch. So verstanden entspricht das Ökonomieprinzip bei Ockham demjenigen der Kontingenz: Da alles Seiende außerhalb Gottes ist, wie es ist, aber auch - sofern das Prinzip des Widerspruchs nicht verletzt wird - anders sein könnte als es ist, muß bei der Erklärung des Seienden mit Annahmen so sparsam wie möglich umgegangen werden. Positiv gewendet: Man muß dem Razor zufolge durchaus so viele Begriffe verwenden bzw. Annahmen machen, wie zur Erklärung der betreffenden Sache notwendig sind, und das können je nach Sachlage viele sein. Es dürfen nur nicht zu viele werden! Mit einem Wort: Die 'Ökonomie' des Ockhamschen 'Rasiermessers' ist keine solche der Einfachheit und Bequemlichkeit, sondern eine solche der Sparsamkeit und Sachangemessenheit. Nicht die Ökonomie bestimmt die wissenschaftliche Erklärung, sondern umgekehrt die wissenschaftliche Erklärung die Ökonomie. Ökonomie ist nur Mittel, nicht Zweck. Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis und Erklärung ist nicht Einfachheit, sondern Adäquatheit. Über das Vorliegen von Adäquatheit entscheiden nach Maßgabe der Art des Explanandum entweder Vernunft ('ratio') oder Erfahrung ('experientia') oder Autorität ('auctoritas'), letztere aber nur dann, wenn sie mit Sicherheit irrtumsfrei ist (eine Forderung, die nach Ockham nur die Hl. Schrift erfüllt). (Fs)

46b So wenig wie Ockhams Lehre von Gottes Allmacht und der radikalen Kontingenz der Welt zur Stützung der frühneuzeitlichen Theorie eines Willkürgottes reklamiert werden kann, so wenig läßt sich sein Ökonomieprinzip eo ipso als antimetaphysisch deuten. Allmachts- und Ökonomieprinzip müssen vielmehr in ihrem Zusammenhang - und d.h. in ihrem gemeinsamen Bezug zum Widerspruchsprinzip - gesehen werden: Die Welt und alles in ihr Seiende verdanken sich göttlicher Allmacht, welche vor dem Hintergrund der Unendlichkeit widerspruchsfreier Möglichkeiten schöpferisch tätig ist. Doch während der grenzenlosen Fülle göttlicher Ideen jede Reduktion auf Sparsamkeit wesensfremd ist, ist der Mensch in seinem Versuch, mit Hilfe der natürlichen Vernunft Einblick in die Welt und das in ihr Seiende zu erhalten, an das Prinzip des ökonomischen Umgangs mit der Vielheit möglicher Annahmen gebunden. Beides aber, das Prinzip göttlicher Allmacht und das Prinzip der Ökonomie menschlicher Erklärungsversuche, wird in seiner Rationalität durch das Prinzip des Widerspruchs garantiert. Obwohl die menschliche Vernunft in ihrer Endlichkeit die Welt und alles in ihr Seiende nicht aus Notwendigkeit heraus, sondern nur im Horizont der Kontingenz zu erkennen vermag, kann sie darauf vertrauen, daß die Welt, obwohl sie nur eine der möglichen Welten ist, widerspruchsfrei zu erklären ist. Dabei, so das Gebot der Ökonomie, erklärt der Mensch umsonst, wenn er zu mehr Annahmen Zuflucht nimmt, als zur Erklärung der Phänomene unbedingt nötig ist, und, so das Verbot der Ökonomie, er geht zu weit, wenn er in seiner Bemühung um Phänomenerklärungen zu Annahmen greift, die ihn auf die Existenz fragwürdiger Entitäten verpflichten. (Fs)

47a Die Einbindung von Allmachts- und Ökonomieprinzip in die Grenzen des Prinzips der Widerspruchsfreiheit und damit in eine gemeinsame Rationalität bedeutet freilich nicht, daß der menschlichen Vernunft ein ungehinderter Zugang zu Erkenntnis und Wissen zur Verfügung steht. Was Wissen ist und unter welchen Bedingungen es steht, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. (Fs)

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