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Autor: Weiler, Joseph H.H.

Buch: Ein christliches Europa

Titel: Ein christliches Europa

Stichwort: Europa; das christliche Ghetto, die Außenmauern; Grundrechtscharta - Bezug auf das Christentum? Trick - Beweislast (Beispiel Emanzipation)

Kurzinhalt: Wenn es beispielsweise nötig ist, die Aufnahme eines Bezugs auf Gott zu rechtfertigen, so ließe dies auf die Annahme schließen, dass der öffentliche Raum in Europa laizistisch sei. In Wirklichkeit ist ...

Textausschnitt: 32b Die Idee einer Grundrechtscharta für Europa schwirrt seit mindestens fünfundzwanzig Jahren umher. Im Jahre 1999 ist sie tatsächlich verwirklicht worden. Das gegenseitige Versprechen hat sich in Köln unter der deutschen Unionspräsidentschaft ereignet, die Hochzeit wurde in Tampere mit finnischem Segen vollzogen, und die Geburt hat kurz vor der Regierungskonferenz von Nizza stattgefunden. Die Europäische Grundrechtscharta ist von einem neuen Organ diskutiert, verhandelt und redigiert worden: von einem Konvent, der die Völker Europas vertreten sollte, nicht durch die üblichen Diplomaten-Mandarine. Ein etwas überladenes Organ, zusammengesetzt aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten, der Parlamente der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der anderen europäischen Institutionen, hat ein Jahr lang Treffen abgehalten und die Charta hervorgebracht. (Fs)

33a So seltsam es auf jene wirken mag, die mit solchen Fragen nicht vertraut sind - es gab keinen zwingenden funktionalen Grund, eine solche Initiative zu ergreifen. Schließlich scheinen die Unionsbürger eher an einem Übermaß als an einem Defizit an Grundrechtsschutz zu "leiden", wenn man bedenkt, dass sie von den Verfassungen und Gerichten der Mitgliedstaaten, vom Netz, das die Europäische Menschenrechtskonvention bildet, und vom Gerichtshof der Europäischen Union geschützt werden, der spätestens von 1969 an sichergestellt hat, dass gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, falls sie grundlegende Menschenrechte verletzen, die Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sind, nicht akzeptiert werden können und nicht angewendet werden dürfen. In keinem Fall darf man sich der Vorstellung hingeben, ohne die Grundrechtscharta wären die Unionsbürger ungeschützt. Dem ist einfach nicht so. Wenn ein Jurist das Gegenteil behauptet, seien Sie barmherzig. Für die Juristen sind neue Vorschriften wie eine neue Krankheit für die Mediziner: Sie stärken die Daseinsberechtigung ihres Berufs. (Fs)

33a Warum also eine neue Charta? Das Wichtigste in den Augen der Verfechter der Charta war die Frage der Wahrnehmung der eigenen Identität. Seit Maastricht ist die politische Legitimität des Aufbaus von Europa ein vieldiskutiertes Problem gewesen. Durch die Realisierung einer Europäischen Währungsunion mit Hilfe einer Europäischen Zentralbank, die der Politik kaum verantwortlich ist, wurde der Wahrnehmung Vorschub geleistet, Europa sei mehr an Waren als an Personen interessiert. Es mag sein, dass der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz garantiert, aber wem war dies überhaupt bewusst? Eine Charta - sagten ihre Verfechter - hätte das sichtbar gemacht und dem einen Ehrenplatz eingeräumt, was zuvor nur verstaubten Rechtsgelehrten bekannt war. (Fs)

34a Die Charta ist insofern ein wichtiges Symbol, das ein Gegengewicht zum Euro und zur wirtschaftlichen Dimension Europas darstellt, ein Teil der verfassungsrechtlichen Ikonographie der europäischen Integration, der maßgeblich zum Selbstverständnis Europas als Wertegemeinschaft und damit zur Artikulation seiner menschlichen Identität beiträgt. (Fs)

Zahlreiche Mitglieder des Konvents, der die Charta entworfen hat, haben gefordert, dass die Präambel einen Bezug auf das Christentum, auf die jüdisch-christliche Tradition oder mindestens auf das religiöse Erbe Europas enthalten solle. Bekanntlich sind alle drei Forderungen zurückgewiesen worden. Der erreichte "Kompromiss" (wenn man eine Kapitulation an allen Fronten so nennen kann) nimmt demgegenüber Bezug auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen". (Fs)

34b Man könnte hier fragen, warum bei einer Grundrechtscharta die Forderung erhoben wurde, einen Bezug auf das christliche -oder eventuell das religiöse - Erbe Europas einzubauen sei. War es vielleicht schlicht eine Provokation? Schließlich schützt die Charta selbst die Religionsfreiheit. Genügt das nicht? Auf diese Weise ist die Frage aufgetaucht, ob sich die Forderung nach einem Bezug auf das religiöse Erbe rechtfertigen lasse. Dies ist die Art, in der viele Konventsmitglieder das Problem angegangen sind. (Fs)

34c Jene, die glauben, dass die Einbeziehung gerechtfertigt ist, werden an dieser Stelle versucht sein, nicht nur einen Rechtfertigungsgrund, sondern eine lange Liste derselben anzuführen. Es ist aber wichtig, den subtilen Trick wahrzunehmen, den diese Fragestellung impliziert. Warum sollte es überhaupt nötig sein, die Aufnahme des Bezugs auf Gott, das Christentum oder auch nur die Religion zu rechtfertigen? Übrigens sei angemerkt, dass eine Bezugnahme auf die Religion eine gänzlich andere Bedeutung als eine Bezugnahme auf Gott hätte. Weshalb sollte die Darlegungslast nicht bei jenen liegen, welche versuchen, die Ablehnung zu rechtfertigen? Diese Bemerkung ist kein bloß dialektisches Argument, das aus Streitlust erdacht wäre. Im öffentlichen Leben stellt die Frage, bei wem die Beweislast liegt, einen guten Geigerzähler für die Vorstellungen dar, die eine Gesellschaft als Prämissen wählt, und oft auch für die sozialen Vorurteile. Es mangelt nicht an Beispielen. Herkömmlicherweise muss in unseren Strafrechtssystemen ein Beschuldigter nicht seine eigene Unschuld beweisen: sie wird vermutet. Es ist die Anklage, die seine Schuld beweisen muss. Wenn der Beschuldigte seine eigene Unschuld beweisen müsste, hieße das, dass er in Ermangelung eines solchen Beweises schuldig wäre. Ein anderes Beispiel: Im Kampf für ihre Emanzipation mussten die Frauen Schritt für Schritt beweisen, dass sie die Voraussetzungen hatten, um wählen, um öffentliche Ämter annehmen, um bestimmte Berufe ergreifen zu können etc. Es wurde unterstellt, dass ohne einen solchen Beweis und eine solche Rechtfertigung die Frauen minderwertig seien. (Fs) (notabene)

35a Wenn es beispielsweise nötig ist, die Aufnahme eines Bezugs auf Gott zu rechtfertigen, so ließe dies auf die Annahme schließen, dass der öffentliche Raum in Europa laizistisch sei. In Wirklichkeit ist das Gleichgewicht zwischen laizistischen und religiösen Elementen in einer Gesellschaft, die von laizistischen und religiösen Mitgliedern gebildet wird, sicherlich ein Thema, über das man diskutieren kann. Aber eine völlig laizistische Prämisse kann in einer Gesellschaft diesen Typs keine Prämisse sein, die nicht begründet werden müsste. Wir alle sind einig über die Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten; aber sind wir - in gleicher Weise ohne Diskussion - wirklich auch einig über das Prinzip, dass aus den Handlungen und Verlautbarungen der öffentlichen Stellen jeder religiöse Bezug ausgeschlossen sein müsste? Ob dem tatsächlich so ist oder ob dies angemessen wäre, ist eine Frage, die aufmerksamer Erwägung bedarf und in deren Hinsicht man keine übereilten Schlüsse ziehen darf. Schließlich weisen diesbezüglich die verfassungsrechtlichen und staatsbürgerlichen Traditionen vieler unserer Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Ausrichtungen auf, von denen viele zur entgegengesetzten Schlussfolgerung führen, wie wir im Folgenden sehen werden. (Fs) (notabene)

36a Dieses Argument gilt nicht nur für die Präambel der Grundrechtscharta. Es beansprucht, mit größerem Recht, Geltung für die Präambel der europäischen Verfassung. Die Diskussion über die Aufnahme eines Bezugs auf das Christentum oder eines Gottesbezugs in die Präambel der Verfassung ist legitim. Aber man kann nicht von der Vorannahme ausgehen, dass eine solche Bezugnahme nicht aufgenommen werden dürfe. (Fs)

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