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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Vorherwissen und Prädestination als philosophisches Problem

Kurzinhalt: Die Glaubensinhalte entziehen sich hier nicht nur, wie in der Eucharistielehre, der rationalen Konstruierbarkeit, sondern sogar der rationalen Re-Konstruierbarkeit: Sie sind nicht nur nicht aus der Vernunft abzuleiten, sondern ...

Textausschnitt: d) Vorherwissen und Prädestination als philosophisches Problem

84c Vor fast noch größere Probleme sah Ockham sich in der Lehr von Vorherwissen und Vorherbestimmung, Prädestination, gestellt. Wenn Gott Allwissenheit zuzusprechen ist, so ergibt sich ein besonderes philosophisches Problem1: Kontingente Wahrheiten sind nicht aufgrund ihrer eigenen inneren Bestimmung wahr, sondern sie könnten, das macht eben definitorisch ihre Kontingenz aus, auch nicht wahr sein. So ist die Aussage "Petrus ist ein Fischer" erst in dem Moment tatsächlich wahr, in dem Petrus diesen Beruf ergreift - er hätte aber auch einen anderen Beruf ergreifen können, und die Aussage wäre mithin nicht wahr. Wegen dieses Andersseinkönnens aber ist es, so Ockham im Anschluss an Aristoteles, philosophisch nicht möglich, dass eine solche kontingente Aussage zu einem Zeitpunkt evident gewusst wird, in dem das durch sie beschriebene kontingente Faktum noch nicht eingetreten ist. Man braucht neben den zu aller Zeit zur Verfügung stehenden Kenntnissen über das Wesen von Dingen noch Informationen über tatsächliche Ereignisse in der extramentalen Realität, die ihrerseits an Raum und Zeit gebunden sind und daher nicht zu aller Zeit zur Verfügung stehen. (Fs)

85a Dieser philosophischen Einsicht aber steht das biblische Bekenntnis zur Allwissenheit und die dogmatische Lehre vom Vorherwissen aller Dinge durch Gott entgegen. Ganz ähnlich wie in der Abendmahlsfrage entscheidet Ockham sich auch in diesem Falle für die biblische und kirchliche Autorität - und wird noch etwas unsicherer als im Zusammenhang der Eucharistielehre:

"Man muss unzweifelhaft davon ausgehen, dass Gott mit Gewissheit und Evidenz alles weiß, was künftig kontingent eintrifft. Dies aber mit Evidenz zu erklären und die Weise, auf die Gott alles, was künftig kontingent eintrifft, auszudrücken, ist in diesem [irdischen] Stand für jede Vernunft unmöglich."2

85b Wieder bekennt Ockham sich keineswegs zu einem widervernünftigen Glauben, aber doch zu einem, der nicht vernünftig aufschlüsselbar ist. Die Glaubensinhalte entziehen sich hier nicht nur, wie in der Eucharistielehre, der rationalen Konstruierbarkeit, sondern sogar der rationalen Re-Konstruierbarkeit: Sie sind nicht nur nicht aus der Vernunft abzuleiten, sondern mit ihren Mitteln auch nicht nachzuvollziehen. (Fs)

85c Die Problematik gewinnt eine weitere Dimension in einem Fragenkomplex, der mit dem Vorherwissen Gottes eng zusammenhängt, nämlich in der Prädestinationslehre. Der "Vorhergewusste", der praescitus, ist hier der zur Verdammnis Bestimmte - eine feine begriffliche Differenzierung, die deutlich machen soll, dass Gottes Prädestination nur Gutes im Sinne hat, dass die Prädestination also nicht als doppelte, zum Heil wie zum Unheil zu verstehen ist, sondern als eine einfache, nur zum Heil führende, deren Kehrseite freilich dann die Verdammnis für die nicht Vorherbestimmten ist. (Fs)

86a Da nun auch der Weg eines Menschen in Verdammnis oder Heil der Sache nach kontingent ist, insofern der zum Heil gelangende Mensch ja seinem Wesen nach auch verdammt sein könnte und umgekehrt3, wird hier die allgemeine Lehre vom Vorherwissen Gottes im Blick auf zukünftiges Kontingentes konkret. Und Ockham geht nun die Beantwortung der Frage, ob es möglich sei, dass ein Prädestinierter verdammt und ein Verdammter erlöst werde - sie findet sich in der vierzigsten Distinktion des ersten Sentenzenbuches -, in doppelter Weise an: der Sache nach und unter Gesichtspunkten der Logik. Der Sache nach besteht kein Zweifel, dass Prädestination zum Heil und Vorherwissen zum Unheil auch anders erfolgen könnten: Hierfür spricht die Freiheit Gottes, zu verwerfen und zu erwählen, ebenso wie die Freiheit des Menschen, ein Verdienst zu erbringen oder eben nicht.4

86b Logisch analysiert aber ist die Sache bedeutend komplizierter.5 Denn der Satz: "Es ist möglich, dass ein Prädestinierter verdammt wird", hieße ja mit einer kleinen grammatikalischen Umstellung: "Möglich ist: Ein Prädestinierter ist ein Verdammter." In diesem Sinne ist die Aussage offenkundig unsinnig. Sinnvoll aber wird sie, wenn man sie logisch aufteilt, im sensus divisionis analysiert. Dann wird deutlich, dass die Aussage "Ein Prädestinierter kann verdammt werden", suppositionslogisch gesprochen, über den, für den das Subjekt supponiert, also einen Prädestinierten - etwa Petrus - eine Möglichkeitsaussage trifft: Für Petrus ist es prinzipiell möglich, dass er verdammt würde. Da er aber von Gott in einem unwandelbaren Ratschluss6 prädestiniert ist, wird er nie verdammt werden. Das heißt: Das Prädikat "verdammt" kann niemals tatsächlich für Petrus supponieren oder supponiert haben. In diesem aufgeteilten Sinne dann kann man die Aussage "Petrus kann verdammt werden" logisch korrekt treffen. (Fs)

86c Auch dieses schon im Sentenzenkommentar angesprochene Problem hat Ockham übrigens nicht losgelassen. In seiner Londoner Zeit, als er sich mit philosophischen Fragen beschäftigte, ist er unter philosophischen Gesichtspunkten erneut hierauf zurückgekommen und hat noch einmal einen eigenen Traktat über die Prädestination verfasst. Wie in allen anderen Grenzfällen von Theologie und Philosophie, so zeigt sich also auch hier, dass Ockham gerade diese Fragen weiter verfolgte, auch wenn er sich zeitweilig ganz auf die Philosophie konzentrierte. (Fs)

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