Datenbank/Lektüre


Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockam - Gottesbeweis; Kritik an Thomas' regressus in infinitum; Beweis: Erhaltungsursache

Kurzinhalt: Das Problem also, das Ockham benennt, ist die schlichte Tatsache, dass eine Ursache, nachdem sie etwas anderes oder jemand anderen verursacht hat, auch wieder vergehen kann. Das Beispiel der Menschheitsgeschichte ist hier schlagend ...

Textausschnitt: a) Der Beweis Gottes

73a Lange Zeit galt Ockham als ein Theologe, der auf jeglichen Gottesbeweis verzichtet, ja seine Möglichkeit insgesamt bestritten habe. Wäre dem so, wäre mit Ockham in der Tat eine fundamentale Wende der scholastischen Theologie erreicht, die ihren ersten Höhepunkt gerade in dem Gottesbeweis im Proslogion Anselms von Canterbury (ca. 1033/4-1109)1 erklommen hatte. Dessen Tradition hatte insbesondere Thomas von Aquin durch seine Darlegung eines fünffachen Beweises für die Existenz Gottes fortgeführt und aristotelisch reformuliert. Während allerdings Anselm in einem genialen, bis heute philosophisch nicht ohne weiteres zu den Akten gelegten Gedankenfortschritt vom reinen Denken durch Übersteigerung dieses Denkens zur extramentalen Existenz gelangt war, hatte Thomas die Gottesbeweise weitgehend formalisiert und in aristotelischem Sinne standardisiert. Grundlage der meisten Gottesbeweise bei Thomas war der Gedanke eines ausgeschlossenen regressus in infinitum, also der Unmöglichkeit, eine Kette von Zusammenhängen bis ins Unendliche anfangslos zurückzuverfolgen. Er baute damit auf dem paradigmatischen Beweis des Aristoteles für die Existenz Gottes als des unbewegten Bewegers auf. Kennzeichnend geht Thomas hier wie auch in anderen Gottesbeweisen von einer simplen Erfahrungstatsache aus: "Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuverlässig verbürgte Tatsache, dass sich etwas in der Welt bewegt."2 Bewegung aber braucht, so argumentiert Thomas weiter, einen Anstoß von außen, denn es bedeutet, dass etwas aus der bloßen Möglichkeit (sich zu bewegen) in die Wirklichkeit (dass es sich bewegt) überführt wird und sich etwas bloß Mögliches nicht aus sich heraus realisieren kann. Und eben hier hat Thomas nun den Ansatzpunkt für den erwähnten regressus in infinitum. Es ist die Kette der von außen Anstoß gebenden Größen, die er zurückverfolgt und in deren Verlauf er dann irgendwann zu dem Punkt kommt, an dem er feststellen muss, man könne nicht ins Unendliche so fortfahren, sondern man müsse ein Etwas, ein Wesen annehmen, das seinerseits nicht bewegt wird und dennoch anderes bewegt: den unbewegten Beweger, Zentralbegriff der aristotelischen Metaphysik. (Fs)

73b Ockham hat die Schwäche dieser Argumentation präzise erkannt, freilich an einem anderen der fünf Wege durchgeführt: dem im Prinzip parallel verlaufenden Beweis vermittels der Wirkursache, der nichts anderes besagt, als dass jedes Ding von etwas anderem verursacht wird, dass diese Verursachungskette aber nicht ins Unendliche fortgehen könne, weswegen die erste Ursache selbst nicht verursacht sein könne - und hierbei handle es sich um Gott. Seine Position hierzu hat Ockham wiederum mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein formuliert: In der 10. quaestio der zweiten Distinktion des ersten Sentenzenbuches, also in unmittelbarem Anschluss an die Behandlung der Universalienfrage, erkennt er gönnerhaft an, dass dieser Beweis Gottes vermittels der Wirkursache "ausreichend" sei und im Übrigen die "Auffassung sozusagen aller Philosophen" darstelle3 - um wenig später dagegenzuhalten:

"Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, gegen die Philosophen zu beweisen, dass eine Kette von Ursachen derselben Art, deren eine ohne die andere existieren kann, nicht bis ins Unendliche fortgesetzt werden könne. Sie haben ja auch angenommen, dass es bis ins Unendliche vor [jedem] Menschen, der sich fortpflanzte, einen [anderen] Menschen gegeben habe, der sich ebenfalls fortgepflanzt habe. Nicht weniger schwer ist es, mit dem Gedanken der Hervorbringung zu beweisen, dass ein Mensch von einem anderen [Menschen] nicht in der Art einer Totalursache hervorgebracht werden könne. Wenn nun diese zwei Überlegungen richtig sein sollten, wäre es schwer, zu beweisen, dass diese Kette ins Unendliche nur dann Bestand haben könnte, wenn es eines gebe, das immer bliebe und von dem diese gesamte Unendlichkeit abhinge."4

74a Das Problem also, das Ockham benennt, ist die schlichte Tatsache, dass eine Ursache, nachdem sie etwas anderes oder jemand anderen verursacht hat, auch wieder vergehen kann. Das Beispiel der Menschheitsgeschichte ist hier schlagend - und der Beweis für Gottes fortdauernde Existenz mithin so nicht zu führen. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (20.10.09): Das ist die Folge eines Denkens, dass Thomas's Unterscheidung einer realen Distinktion zwischen Form und Seinsakt nicht mehr nachzuvollziehen vermag. Die Ursachen eines Thomas reißt deshalb nicht ab, weil eben alles endlich Seiende am Sein partizipiert und von ihm erhalten wird. Interessant, dass Ockham als Ausweg als Beweis den einer Erhaltungsursächlichkeit einführt.

74b Daher wählt Ockham nun einen anderen Weg: den der Erhaltungsursache. Der Denkvorgang als solcher bleibt ganz ihm Rahmen der thomasischen Beweise, nur dass eben die inhaltliche Bestimmung etwas verschoben ist. Es geht nun nicht mehr um das Hervorbringen eines anderen, sondern der Weg zurück blickt darauf, dass alles, was existiert, in irgendeiner Weise von etwas oder jemandem anderen erhalten werden muss - wieder geht der Weg weiter und wird wegen des Ausschlusses eines Fortganges ins Unendliche schließlich auf Gott gegründet.5 Vielleicht lässt sich an diesem Beweis noch stärker als bei allen thomasischen Beweisen die von vornherein auf das Ziel ausgerichtete Konstruktion erkennen, da die Erhaltungsursächlichkeit weit weniger selbstverständlich in das philosophische Denken integriert ist, als dies bei der Wirkursache der Fall ist. (Fs)

75a Schwerer aber wiegt, dass Ockham, indem er diesen Gottesbeweis als haltbar vertritt, auch merkliche Inkonsistenzen in Kauf nimmt. Denn was dieser Beweis nicht klärt, ist die erkenntnistheoretisch doch unvermeidliche Frage, wie denn nun der Mensch, der über nicht mehr verfügt als über eine zusammengesetzt-begriffliche Erkenntnis Gottes, durch einen solchen Beweis zu einer wirklichen, evidenten Erkenntnis von Gottes Existenz gelangen sollte. Nach Ockhams Evidenzlehre kann dies eigentlich nicht der Fall sein, da eine solche Evidenz die unmittelbare Erkenntnis der im Beweis verwendeten Satzteile voraussetzen würde. Eben diese Erkenntnis aber kann für Gott nicht auf dem Wege über die Kreaturen erlangt werden. Und so hat Ockham denn auch an einer anderen Stelle seines Sentenzenkommentars ausdrücklich erklärt, dass ein Beweis Gottes nur demjenigen möglich sei, der Gott abstraktiv oder intuitiv - also auf irgendeine Weise unmittelbar - erkenne.6 Wenn dem so ist, bleibt die Anstrengung vermittels der Erhaltungsursächlichkeit eine interessante intellektuelle Fingerübung - doch ein Beweis im strengen Sinne kann sie innerhalb des Ockham'schen Denkens nicht sein. (Fs)

75b An solchen Inkonsistenzen aber kann man vielleicht mehr über einen Denker erfahren als an systematisch geglätteten Überlegungen, die das Individuum hinter dem Apparat methodisch ausgefeilter Logik verschwinden lassen. Gerade die Inkonsistenz ist ja eine Einbruchstelle für individuelle Akzentsetzungen, Verschiebungen, warum nicht: Fehler. Wichtig sind sie wegen der in ihnen zu Worte kommenden Individualität. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt