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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien; Ockham: ontologische Grundlage, Ähnlichkeit der Substanzen; ens: univok für Gott und die Kreaturen

Kurzinhalt: ... vielmehr versteht er das Ordnungsnetz der Universalien als Nachvollzug essentieller Ordnungsstrukturen1 in der Realität, die real sind, ohne deswegen eine eigenständige extramentale Realität besitzen zu müssen.

Textausschnitt: 70a Man mag in solchen Äußerungen Relikte eines eigentlich schon überwundenen Denkens sehen - aber selbst wenn sie nur das wären, zeigen sie doch, dass Ockhams Neuerungsanspruch gerade nicht in einer simplen Wiederbelebung des Nominalismus eines Roscelin lag, sondern schlicht in der sprachlichen Reformulierung bislang ontologisch ausgerichteter Aussagen. Das entspricht seinem Wissenschaftsverständnis und seinem Ökonomieprinzip - es bedeutet aber nicht den Abschied von jeglicher Ontologie. (Fs)

70b Wie wenig dies der Fall ist - und wie wenig Ockham damit als Vorläufer für entsprechende philosophische Konzeptionen in Anspruch genommen werden kann - zeigt die Tatsache, dass er für den unabänderbaren Charakter der durch die Allgemeinbegriffe beschriebenen Gruppenbildungen innerhalb der Schöpfung auch eine ontologische Grundlage benannt hat.1 Sie liegt, simpel genug, in der Ähnlichkeit der Substanzen untereinander.2 Dieser scheinbar einfache Gedankengang ist in seinem Gewicht wiederum nur dann verstehbar, wenn man ihn mit radikalisierenden Deutungen Ockhams konfrontiert, nach denen die Bildung von Allgemeinbegriffen dem autonomen Verstand des Menschen zu verdanken ist. Zwar ist der Verstand an diesem Prozess nicht unbeteiligt - aber er vollzieht doch nur nach, was er in der extramentalen Realität vorfindet. Anders ausgedrückt: Der Verstand findet eben nicht nur lauter verstreute, ungeordnete Einzeldinge vor, die er nachträglich ordnet, sondern er trifft auf eine Ordnung in der Welt, die er produktiv nachvollzieht. Denn die Ähnlichkeit der Substanzen ist nach Ockham ausdrücklich dem Erkennen vorgegeben3, ja, Ockham kann sie gar als ein reales Verhältnis, eine relatio realis bezeichnen.4 Dann aber ist die Ordnungsstruktur der Dinge insgesamt als Realität dem Denken und Sprechen vorgegeben. (Fs)

71a Mit diesem Modell löst Ockham einerseits das logische Problem des Universalienrealismus, wie etwas zugleich eines sein und doch in vielen real existieren solle, bestreitet aber andererseits in keiner Weise jegliche ontisch-reale Grundlage der Universalbegriffe, vielmehr versteht er das Ordnungsnetz der Universalien als Nachvollzug essentieller Ordnungsstrukturen1 in der Realität, die real sind, ohne deswegen eine eigenständige extramentale Realität besitzen zu müssen. (Fs)

71b Was hat dieser lange Exkurs für die Theologie geleistet? Es ist auf diese Weise nach Ockham möglich, über Gott zu reden - obwohl der Mensch, solange er als irdischer Mensch im Pilgerstand lebt, keine unmittelbare Erkenntnis von Gott hat.1 Das, was der Mensch von Gott weiß - und Ockham bezweifelt nicht, dass der Mensch, auch der nichtgläubige Mensch Kenntnisse von Gott hat -, weiß er im Medium von etwas anderem als Gott selbst2, nämlich im Begriff3. (Fs)

71c Das damit für die Rede von Gott gegebene Problem aber wird in Ockhams konzeptualistischem Ansatz geringer, als es in einem streng realistischen Ansatz gewesen wäre. Da generell auch unsere Allgemeinbegriffe nicht mehr sind als eben Begriffe, denen zwar Reales zugrunde liegt, aber nicht je eine Realität, unterscheidet sich die Erkenntnis Gottes, wenn sie nur im Begriff erfolgen kann, nur graduell von anderen Formen der Erkenntnis, die ihrerseits nicht minder auf das rein Begriffliche angewiesen sind. Die Frage, die sich dann stellt, ist letztlich nicht mehr die nach einem grundsätzlich anderen Charakter der Gotteserkenntnis gegenüber allen anderen Erkenntnissen, sondern die Frage, wie eine korrekte Supposition auch für das durch den Gottesbegriff gemeinte Wesen zustande kommen kann. Und die Brücke, die nun diese Gotteserkenntnis mit anderen Erkenntnissen verbindet, ist das, was das Ergebnis seines langen Exkurses zu den Universalien gewesen war: dass nämlich der Begriff ens, Seiendes, univok für Gott und die Kreaturen anwendbar ist.1 Allerdings betont Ockham in diesem Zusammenhang, dass er einen weiten Univozitätsbegriff gebrauche, der keine reale Identität und auch keine perfekte Ähnlichkeit zwischen Gott und Kreatur impliziere.2 Er bleibt bei einer streng begrifflichen Fassung der Univozität. Über diese ohnehin schon vorsichtige Formulierung aus der quaestio nona der zweiten Distinktion des ersten Sentenzenbuches geht er im dritten Buch in der zehnten Frage noch hinaus, wenn er hinsichtlich des univoken Gebrauchs von Begriffen nicht nur vollkommene Ähnlichkeit, sondern jegliche Ähnlichkeit zwischen Kreatur und Gott bestreitet.3 (Fs)

72a Und auch der Begriff, den der Mensch dann für Gott verwenden kann, hat seine Besonderheiten. Da Gott selbst nicht erkannt wird, kann man für ihn keinen einfachen Eigenbegriff haben1, also einen präzisen Begriff, der nur Gott und nichts als Gott bezeichnet - als solcher ist auch das bloße Wort "Gott" oder "Deus" nicht zu verstehen. Die Erkenntnis Gottes erfolgt vielmehr zunächst nur in univoken Allgemeinbegriffen.2 Und wenn nun viele Allgemeinbegriffe denselben Gegenstand benennen, ergeben sie alle zusammen einen diesem Gegenstand eigenen Begriff.3 Allein auf diese Weise gibt es für Gott einen uns möglichen Eigenbegriff4, der entsprechend als zusammengesetzter Begriff, als conceptus compositus, anzusprechen ist5. Er erfasst das göttliche Wesen nicht unmittelbar, sondern umschreibt es.6

72b Diese konzeptuelle Gotteserkenntnis ist so defizitär, dass Ockham sie mit der Erkenntnis einer Farbe durch einen Blinden vergleichen kann7 - und doch verbindet sie nicht nur die allgemein-menschlichen Möglichkeiten der Rede von Gott mit anderen Erkenntnisformen, sondern sie bildet auch die Grundlage für die Möglichkeit von Metaphysik. (Fs)

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