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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Universalien; univok, äquivok, analog (Thomas); Ockham: kein Nominalist im strengen Sinn (Mensch ist kein Esel);

Kurzinhalt: "Die Unmöglichkeit, dass irgendeine Entität außerhalb der Seele auf irgendeine Weise allgemein sei ..., ist ebenso groß wie die Unmöglichkeit, dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei."

Textausschnitt: 65a Wenn man daher nicht von Fragestellungen der Neuzeit, sondern von solchen des Mittelalters aus auf die Texte zugeht, ist es nicht verwunderlich, dass Ockham seine vor allem philosophisch wahrgenommene Universalienlehre im Rahmen seiner theologischen Vorlesung, eben der Sentenzenvorlesung in Oxford, erstmals entfaltete; später freilich hat er sie auch in seiner Summe der Logik weiter ausgebaut. Das Problem, das Ockham zur Behandlung der "philosophischen" Universalienfrage führte, war die Frage, wie man von Gott reden könne, die vierte Frage in der zweiten Distinktion des ersten Buches des Sentenzenkommentars: "Gibt es irgendetwas, was Gott und Geschöpf gemeinsam ist und univok und unter Bezug auf das Wesen von beiden ausgesagt werden kann?"1 Diese Formulierung nahm Bezug auf die ältere Lehre von Äquivokation und Univokation, von bloß gleichlautender oder wirklich Gleiches bedeutender Rede. Das Problem hatte sich immer wieder im Blick auf Gott gestellt: Ist es möglich, Begriffe, die wir gemeinhin von den Geschöpfen gebrauchen, in eben demselben Sinne auf Gott anzuwenden? Bedeutet es wirklich dasselbe, zu sagen, Gott sei gut - oder ein menschlicher Vater sei gut? Dann läge eine Univokation vor. Oder bedeutet nicht beides trotz desselben Wortklanges ganz Unterschiedliches, so wie die "Bank" einmal eine Sitzgelegenheit im Park meinen kann und ein andermal ein Institut zur Aufbewahrung unseres Geldes? Das wäre eine Äquivokation. Und wenn dem so wäre, dann wäre eine vernünftige, zutreffende Rede von Gott nicht mehr möglich. Wenn aber umgekehrt unsere Rede von Gott univok erfolgte, bestünde womöglich die Gefahr, Gott zu verkleinern, zu vermenschlichen. (Fs)

66a Thomas von Aquin hatte dieses Problem durch die Lehre von der analogen Redeweise gelöst, nach der es uns dadurch, dass wir an dem Sein teilhaben, das Gott letztlich selbst ist, möglich ist, zwar nicht univok von Gott zu sprechen, aber doch auch nicht ganz auf äquivoke Redeweise zurückgeworfen zu sein, da zwischen unseren Begriffen und den auf Gott angewandten Begriffen ein im Einzelnen genauer zu bestimmender innerer Zusammenhang besteht - etwa vergleichbar dem analogen Gebrauch des Begriffs "gesund", der in dem Satz "Dieses Kraut ist gesund" zwar etwas anderes bedeutet als in dem Satz "Der Patient ist wieder gesund", aber gleichwohl in beiden Sätzen in semantisch stimmiger, zueinander passender Weise gebraucht wird.1 (Fs)

66b Wilhelm von Ockham war diese Lösung offenbar zu unklar. Analoge Redeweise als eigene Kategorie wies er als zu unscharf ab, subsumierte sie unter andere sprachanalytische Begriffe.2 Für die Rede von Gott blieb damit nur die Frage nach Äquivokation und Univokation. Um sich dieser Frage zu nähern, musste Ockham den Umweg über die Universalienlehre gehen: Um überhaupt zu wissen, ob wir unsere Begriffe univok oder äquivok verwenden, müssen wir zunächst wissen, in welchem Verhältnis diese Begriffe überhaupt zur Realität stehen. Es ist dieses Thema, das nun in überraschender Gründlichkeit die folgenden Seiten des Sentenzenkommentars füllt. Die Frage nach Univozität und Äquivokation wird in der eigentlich auf sie ausgerichteten Frage gar nicht wirklich beantwortet, sondern Ockham mäandert die folgenden Fragekomplexe durch das Universalienproblem hindurch, ehe er in der neunten Frage - in der heutigen großformatigen Druckausgabe fast zweihundert Seiten später - neu ansetzt: "Ich frage, ob irgend etwas Allgemeines für Gott und Geschöpf univok sei."3 Schon dieser lange Umweg zeigt, wie sich das Problem gewissermaßen unter der Hand verselbstständigte. Gerade dies erlaubt es hier, dem jungen Theologen Wilhelm aus Ockham über die Schulter zu blicken. Der Duktus des Textes lässt erahnen, dass Ockham sich während der Vorbereitung auf seine erste große Vorlesung an einen Punkt gekommen sah, an dem er aus philosophischen Gründen weiter würde ausholen müssen, als er zunächst wohl beabsichtigt hatte. Die Gliederung bricht geradezu aus den Fugen - und die eigentliche Frage nach Äquivokation und Univokation wird fast verdrängt durch die gewichtigere Frage nach dem Status der Universalien. Sie hat dieses Gewicht, weil Ockham den Eindruck gewinnt, hier an eine Stelle gelangt zu sein, an der er von der Überzeugung aller anderen, von der opinio communis, abweicht. In einer Zeit, in der Originalität nicht als wissenschaftliches Kriterium eingeführt oder anerkannt war, war diese Behauptung und Feststellung ungeheuerlich: Ockham, ein Einzelner, noch am Anfang seiner akademischen Karriere, ein Theologe, aller Wahrscheinlichkeit nach als Absolvent lediglich eines Ordensstudiums ohne bedeutende philosophische Ausbildung, kam zu einer neuen Einsicht, wandte sich gegen den Rest der akademischen Gelehrsamkeit. (Fs)

67a Nimmt man all dies zusammen - den Bruch aus der Gliederung des Textes, das Ausweichen von der eigentlichen Frage zu einer anderen, schließlich die Einsicht, von der opinio communis abzuweichen -, so wird deutlich: In der intellektuellen Biografie Ockhams befinden wir uns hier - unabhängig von dem philosophischen oder theologischen Sachgehalt, den man heute seinen Aussagen zumessen mag - an einer entscheidenden Wende. Zum ersten Mal artikulierte Ockham sich nicht in dem Bewusstsein, vorgängige Schultraditionen - die eines Duns Scotus, die der modernen Logiker - nur behutsam weiterzuführen, zum ersten Mal diskutierte er nicht nur Einzelpositionen, sondern er exponierte sich als Einzelner gegen alle anderen. (Fs)

67b Sowenig "Ego-Dokumente" ein Licht auf diesen Vorgang fallen lassen, ist er mit Durchbruchserlebnissen, wie sie topisch in der Theologiegeschichte immer wieder - bis hin zu Luther - geschildert werden, vergleichbar. Ja, der Vorgang ist vielleicht viel mehr als die Berichte Augustins oder Luthers als Durchbruch und Wende ernst zu nehmen4, weil Ockham hier gerade nicht biografisch-autobiografisch stilisiert und dazu aufgrund des literarischen Genres, das allein Zeugnis hierfür bildet, auch gar nicht in der Lage ist. Ohnehin bewegt sich der Inhalt auf einer anderen Ebene als bei den großen Zeugnissen christlicher Frömmigkeit. Was hier stattfindet, ist keine Bekehrung zum wahren Christentum, zur biblischen Reinheit oder dergleichen, es ist ebenso wenig eine philosophische Bekehrung. Aber es ist der Weg zur Autonomie des Denkens im Gegenüber zu allen maßgeblichen Autoritäten. (Fs)

67c Zentral ist für diesen Zusammenhang die siebte Frage: "Ist das, was allgemein und insgemein univok ist, irgendetwas hinsichtlich seiner Realität real außerhalb der Seele?"5 Und die allgemeine Meinung hierzu lautet nach Ockham:

"In der abschließenden Beantwortung dieser Frage stimmen alle, die ich eingesehen habe, überein, insofern sie sagen, dass die Natur, die auf irgendeine Weise allgemein ist - wenigstens der Möglichkeit nach und unvollständig -, real im Einzelding ist."6
68a Dem setzt der junge Gelehrte eine klare Position entgegen: "Daher sage ich zu der Frage, dass keine Entität außerhalb der Seele ... allgemein ist."7 Und er setzt noch nach:
"Die Unmöglichkeit, dass irgendeine Entität außerhalb der Seele auf irgendeine Weise allgemein sei ..., ist ebenso groß wie die Unmöglichkeit, dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei."8

68b Die Pointe sitzt - und ist doch bis heute oft nur halb wahrgenommen worden: Die aus Handbüchern nicht herauszubekommende Identifikation von Ockham als "Nominalist" - die beileibe nicht mehr immer jenen negativen Beigeschmack haben muss wie in älteren katholischen Darstellungen - stützt sich allein auf die eine Seite dieser Aussage: dass Universalien eben keine Realität außerhalb des menschlichen Verstandes haben. Sie übersieht dabei nicht nur, dass der Terminus nomen bei Ockham sehr differenziert gebraucht wird, indem er zwischen den willkürlich eingesetzten Benennungen und den weit weniger willkürlichen Begriffen des Verstandes unterscheidet9, so dass, insofern es Ockham bei seiner Universalienlehre stets um letztere, die conceptus, geht, am präzisesten von Konzeptualismus zu reden wäre. (Fs) (notabene)

68c Wichtiger ist, dass Ockhams Sprachtheorie jedenfalls nicht so zu verstehen ist, als entbehrten die Allgemeinbegriffe jeglicher Grundlage in der Realität, als seien sie rein denkerische Konstrukte. So viel ist zwar deutlich: Ockham weigert sich, mit der opinio communis anzuerkennen, dass das Allgemeine irgendwie naturhaft in den Einzeldingen sei, er bestreitet sogar die äußerst subtile Form der Universalienlehre, die Duns Scotus vorgetragen hatte, indem er das Zugleich von Identität und Nichtidentität zwischen Allgemeinem und Einzelnem durch die distinctio formalis hatte erklären wollen. Danach sollte die allgemeine Natur zwar nicht ein von den Einzelentitäten getrenntes Ding für sich, eine einzelne res, sein, aber doch auch nicht identisch mit den individuellen Entitäten, sondern von diesen in einer - nicht präzise bestimmten - formalen Weise abgehoben, wobei sich die späteren Auseinandersetzungen eben an der Frage entzündeten, ob diese Abhebung rein denkerisch oder real zu verstehen sei. (Fs)

69a Aber bei allem Eifer der Neuheit setzt Ockham doch ganz selbstverständlich - und von seinen modernen Interpreten nur selten bemerkt - eine höchst traditionelle Annahme voraus, die deutlich macht, dass Allgemeinbegriffe, auch wenn sie nicht für sich außerhalb des Verstandes existieren, doch die extramentale Realität angemessen erfassen, dass ihnen also in der Wirklichkeit etwas entspricht - nur eben nicht ein Einzelding, sondern eine der Welt eigene Ordnungsstruktur. Die Pointe, die wenig beachtete andere Hälfte des oben zitierten Satzes zeigt, dass er sich dessen durchaus bewusst ist: Unmöglich ist ja auch, "dass ein Mensch durch irgendeine Erwägung oder durch irgendein Sein ein Esel sei". Eben dieses Beispiel sollte das Gewicht deutlich machen, mit dem er die extramentale Existenz von Universalien bestreitet. Was er dabei aber als Beispiel verwendet, ist eines, das mit Allgemeinbegriffen hantiert und aus ihnen ontologische Ableitungen vornimmt: Es ist eben nicht möglich, dass etwas, was unter den einen Allgemeinbegriff fällt - "Mensch" - durch irgendwelche Umstände plötzlich unter einen anderen Allgemeinbegriff fiele: Die Grenzen zwischen den Arten sind fest - trotz Ockhams betont als neu eingeführter Universalienlehre. (Fs) (notabene)

69b Diese Aussage verdankt sich nicht nur der möglichen Vorliebe für eine billige Pointe. Auch sonst erscheinen entsprechende Aussagen bei Ockham: In der 44. Distinktion des ersten Sentenzenbuches lotet er unter der Fragestellung, ob Gott eine bessere Welt als die jetzt existierende machen könne, wie oft auch an anderen Stellen die Möglichkeiten Gottes aus und kommt zu dem Ergebnis, Gott könne einen solchen Menschen erschaffen, für den Sündigen einen Selbstwiderspruch darstellte - also offenkundig einen anderen Menschen als den jetzt real existierenden. Und eben daran hält Ockham nun auch im Blick auf die Verwendung von Allgemeinbegriffen fest. Hier würde es sich real um eine andere Art Mensch handeln als die gegenwärtig existierende.1 Wenn aber nicht einmal Gott einfach die jetzt vorhandene Art "Mensch" ändern, sondern ihr nur eine andere Art "Mensch" an die Seite stellen kann, bedeutet dies: Selbst Gott bleibt in seinem schöpferischen Handeln an die Artenordnung gebunden, die Arten als der klassische Fall der Verwendung von Allgemeinbegriffen haben also mitnichten eine bloß sprachlich-begriffliche Festigkeit, sondern auch eine ontologische. Wenig zuvor, in der zweiten Frage der 43. Distinktion, erscheint denn auch das schon bekannte Beispiel von Mensch und Esel, wenn Ockham erklärt: "Der Mensch ist aus sich heraus ein Nicht-Esel."2 Dieser Satz dient als Beispiel für solche Eigenschaften, die so mit ihren Subjekten zusammenhängen, dass sie zwar im Blick darauf, ob sie aktuell und real existieren, von Gott abhängen, nicht aber im Blick darauf, ob sie überhaupt mit dem Subjekt zusammengehören, dem man sie zuordnet. Es gibt demnach ein gewisses Set von Eigenschaften, das dem Menschen, wenn es ihn denn überhaupt gibt, zukommt, eben weil er Mensch ist, ohne das mithin kein Mensch Mensch sein könnte. Dazu gehört die Fähigkeit zu sündigen. Und dazu gehört die Eigenschaft, kein Esel zu sein. Den Zusammenhang dieser Eigenschaft mit dem Wesen, das als "Mensch" bezeichnet wird, kann Gott nicht ändern. Das bedeutet: Gott kann zwar je neue Arten schaffen, aber er kann nicht ändern, welche Eigenschaften eine solche Art jeweils ausmachen. Die Arten-Ordnung als System von Unterscheidungen und Gleichheiten insgesamt ist hinsichtlich ihrer Beschaffenheit selbst Gottes Zugriff entzogen - und damit natürlich erst recht dem Zugriff des denkenden Verstandes.3 Für das begriffliche System, das wir zur Beschreibung der Welt verwenden, bedeutet dies aber: Es ist alles andere als willkürlich und damit unsicher, wie es die gängige Chiffre von Ockhams Nominalismus voraussetzt. Es beschreibt die Welt vielmehr zutreffend und genau. (Fs)

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