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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Ockham; Wahrheit (Definition) - Sprache, Logik; Supposition, Suppositionstheorie

Kurzinhalt: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition." ... Eine Proposition ist genau dann wahr, wenn Subjekt und Prädikat für dasselbe supponieren

Textausschnitt: 58c Damit wird aus der Zentralstellung der Logik im Wissenschaftsverständnis ein Frontalangriff auf den Aufbau der mittelalterlichen Universität mit ihrer Voranstellung des kompletten artes-Studiums. Ockham zog radikale Konsequenzen daraus, dass dieses System durch die materiale Aufnahme des aristotelischen Denkens beinahe von innen her gesprengt worden wäre, indem er eben diese materialen Bücher in ihrer Bedeutung für Wissenschaftlichkeit zugunsten der logischen Bücher marginalisierte. Wissenschaftstheoretisch denkbar wurde hier ein Wissenschaftsmodell, das auf das komplizierte Gesamtgefüge der artes-Fakultät als Grundlagenfakultät verzichtete und allein noch ein Logikstudium als unabdingbar für den Zugang zu den höheren Fakultäten erachtete. Diese radikalen Konsequenzen hat Ockham ebenso wie die möglichen Konsequenzen im Zusammenhang von Bibel- und Sentenzenvorlesung nie ausgesprochen, aber der aktuelle Kontext der Auseinandersetzungen zwischen Dominikanern und Universität drängt auch hier den Bezug geradezu auf. Anlass für die Streitigkeiten war ja jenes Statut gewesen, das für Theologen generell den Magister artium vorschrieb - nach Ockhams Modell war eben dies nicht mehr nötig, sondern seine Theorie legitimierte das bisherige Vorgehen der Bettelorden, ihren Nachwuchs mit einem reduzierten artes-Studium an die Universität und die Theologische Fakultät zu schicken. Denn Logik als das entscheidende Kriterium von Wissenschaftlichkeit wurde zweifellos auch hier gelehrt. (Fs)

59a Eine solche Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie war aber überhaupt nur deswegen möglich, weil sich für Ockham verschoben hatte, wie Wahrheit zu fassen sei: Wahrheit wurde traditionell seit Averroes und in der christlichen Scholastik seit Wilhelm von Auxerre (ca. 1140/50-1231) und Philipp dem Kanzler (ca. 1160/85-1236)1 als die adaequatio intellectus et rei verstanden, als die Angleichung des Verstandes an die erkannte Sache. Diese klassische Wahrheitsdefinition stellte das Verhältnis zwischen innermentaler und extramentaler Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Dies änderte sich im Verständnis der neu aufgekommenen Logikbewegung völlig. Für sie war Ausgangspunkt jeden Wahrheitsverständnisses der Satz, die Proposition. (Fs; tbVrw) (notabene)

59b Entsprechendes ist auch bereits für den Ockham der Oxforder Zeit vorauszusetzen, auch wenn die klassische Definition erst etwas später, in der Summe der Logik zu finden ist: "Wahrheit ist eine wahre Proposition und Falschheit ist eine falsche Proposition."2 Diese satzhafte Fassung der Wahrheit hängt unmittelbar mit der Zentralstellung der Logik in der Wissenschaftstheorie zusammen: Wenn Wahrheit nicht anders zu fassen ist denn als wahrer Satz, so kann auch entscheidendes Instrument zur Erkenntnis von Wahrheit nur dasjenige sein, das auf den Zusammenhang von Sätzen angewandt wird, eben die Logik. Alle Erkenntnis von Wahrheit wird mit einem solchen Verständnis letztlich zu einem innermentalen Geschehen, in dem Sätze auf Sätze bezogen werden. Von hier aus gewinnt der Ansatz Ockhams eine ungeheure Modernität: Das Wahre und Wissbare wird auf das dem Verstand unmittelbar Zugängliche zurückgeführt, ohne Rückgriff auf extramentale Voraussetzungen. (Fs; tbVrw) (notabene)

59c Allerdings wird man die Absetzung Ockhams vom traditionellen adaequatio-Konzept nicht überpointieren dürfen. Unverkennbar ist zwar der Wille zu einem neuen Verständnis da, aber es handelt sich hier lediglich um eine Akzentverlagerung, denn die Wahrheit eines wahren Satzes kann wiederum nicht anders definiert werden als über den Bezug auf die außermentale Realität. Hierzu dient die Suppositionstheorie, die Ockham wiederum von den neuen Logikern übernommen hat: Insbesondere Wilhelm von Sherwood (ca. 1200/10-ca. 1266/72) und Petrus Hispanus (ca. 1226-1277) hatten in ihren Logikkommentaren die Theorie von der Supposition als Erklärung des Zusammenhanges zwischen sprachlichem Zeichen und extramentaler Realität entwickelt. Mit dieser Theorie des Supponierens, also des "Stehens für etwas" wurde es ermöglicht, bei der Analyse eines Satzes genau die jeweilige semantische Funktion der einzelnen Satzteile, das heißt der Begriffe, insofern sie in einem Satz grammatikalisch anderen Begriffen zugeordnet werden, zu bestimmen, also die Frage zu klären, ob sie für ein Einzelding in der extramentalen Realität, für eine bloße Lautfolge oder für einen Allgemeinbegriff stünden. (Fs)

60a Ockham hat seine eigene Lehre zu dieser Frage erst später ausgestaltet, in der "Summa Logicae", die er in seiner Londoner Zeit ausgearbeitet haben dürfte. Da hatte er sich bereits mit dem "Tractatus de Suppositionibus", den 1302 Walter Burleigh (ca. 1275-1344/5), Lehrer am Merton College und späterer Bischof von Durham, verfasst hatte, auseinander gesetzt und schloss sich diesem weitgehend an.3 Im Sentenzenkommentar verwies er bei Detailfragen noch schlicht auf die Kollegen vom anderen Fach: "Das betrifft die Logiker."4 Dennoch arbeitete er schon als Theologe mit einer Suppositionstheorie, musste dies auch tun: Wenn denn die Theologie gerade durch die Partizipation an den Denkregeln der Logik einen mit den anderen Wissenschaften vergleichbaren Rationalitätsstandard erreichen sollte, war es unabdingbar, in theologischen Fragen immer wieder auch die Frage der Supposition anzusprechen. Indem sie der Klärung des Gebrauchs der Begriffe diente, bereitete sie ja überhaupt erst die Grundlagen, um mit einer Sache logisch, das heißt sprachlich und denkerisch korrekt umzugehen. (Fs)

60b Will man Ockhams Suppositionslehre, wie er sie vor Abfassung seiner Summe der Logik als akademischer theologischer Lehrer in Oxford gebrauchte und mehr voraussetzte als erläuterte, rekonstruieren, so ist man auf ein paar wenige Andeutungen in der reportatio verwiesen. Am deutlichsten wird er im zweiten Buch in quaestio 10, in der danach gefragt wird, ob die Zeit eine Realität außerhalb der menschlichen Seele besitze. Ockham erklärt, um seinen eigenen Sprachgebrauch zu verdeutlichen:
"Hier muss man festhalten, dass ein konkreter Begriff, sofern es sich um Akzidenzien handelt, in vier Arten von Supposition stehen kann: personal, einfach, material oder signifikativ. Anhand des Beispiels 'weiß' heißt dies: Auf die erste Weise steht [supponiert] es für ein Subjekt, auf die zweite Weise für einen Begriff, auf die dritte Weise für einen Laut, auf die vierte Weise für das, was es bedeutet. Bei den Begriffen für Substanzen allerdings sind personale und signifikative Supposition identisch, weil bei ihnen das, was sie bedeuten, dasselbe ist, was auch supponiert wird. Beispiel vom Menschen."5

61a Ockham verkomplizierte die ganze Sache nicht unerheblich dadurch, dass er die Definition der Supposition noch durch die Unterscheidung von Substanz und Akzidens differenzierte. Dennoch ist die Grundunterscheidung erkennbar: Während sich einfache und materiale Supposition auf gedankliche Akte (einfach) oder sprachliche Äußerungen (material) beziehen, also auf eine Realität, die dem mentalen Bereich zuzuordnen ist, betreffen die beiden anderen Suppositionsarten die extramentale Realität: Jeder sprachliche Ausdruck kann sich in irgendeiner Weise auf eine Substanz beziehen. Nimmt man Ockhams Beispiel "weiß", das er wohl in seiner Vorlesung ausgeführt hatte, das aber der Student, der die reportatio mitgeschrieben hatte, der Kürze halber nur angedeutet hat, so ist in dem Satz "Sokrates ist weiß" deutlich, dass auch das Prädikat "weiß" in gewisser Weise für Sokrates steht, sich mindestens auf diesen bezieht. Insofern supponiert es - personal - für das Subjekt: eben Sokrates in seiner gesamten wesentlichen Eigenschaft, seiner Substanz. Andererseits wird aber nur auf eine spezifische, veränderliche Eigenschaft des Sokrates abgehoben - eben dies meint ja "Akzidens". Insofern nun aber "weiß" sich spezifisch auf die weiße Farbe der Haut des Sokrates bezieht, bezieht es sich präzise auf seinen Bedeutungsgehalt, eben die weiße Farbe. Und damit wird es signifikativ verwendet. (Fs)

61b Die Suppositionslehre also ermöglicht es, sehr differenziert die Verwendung eines Begriffes in einem Satz zu bestimmen und so Missverständnisse zu vermeiden. Gerade wegen der hierdurch erreichbaren Präzision der eigenen Sprache kann Ockham nun auch mit ihrer Hilfe definieren, worauf die Wahrheit einer Proposition beruht: Eine Proposition ist genau dann wahr, wenn Subjekt und Prädikat für dasselbe supponieren.6 Und damit wird dann doch wieder die Frage nach der Angleichung zwischen Vernunft und Sache, wie sie die traditionelle Wahrheitsdefinition gefordert hatte, eingeholt: Auch wenn Wahrheit an sich un-ontologisch definiert wird, löst sie sich doch nicht in reine Satzhaftigkeit auf, sondern bleibt an eine außerhalb der Worte befindliche Realität rückgebunden - zumindest dann, wenn die Begriffe also in personaler oder signifikativer Supposition stehen. Was Ockham also gegenüber der traditionellen Wahrheitsdefinition änderte, ist die Annahme, Wahrheit müsse generell etwas mit res, mit realen Entitäten zu tun haben. Nach seinem Verständnis von Sprache und Vernunft wäre dies gar nicht möglich gewesen, denn eine solche Wahrheitsdefinition hätte es unmöglich gemacht, über die Wahrheit des Satzes "'Mensch' hat sechs Buchstaben" zu entscheiden. Er hat aber nicht einfach das Wahrheitsverständnis um den Realitätscharakter reduziert, sondern umgekehrt, vermittelt durch den Gedanken der Satzwahrheit, das Wahrheitsverständnis so erweitert, dass darin sowohl die Wahrheit von Sätzen über die extramentale Realität als auch von Sätzen über Bewusstseinsinhalte oder lautliche Sprache ausgedrückt werden kann. (Fs) (notabene)

1.Kommentar (16.10.09):nach Thomas kann durchaus etwas, was sich nicht auf eine res bezieht, wahr sein, etwa die Feststellung eines Nichtseienden oder ein Mangel (De Veritate).

62a Und für den Theologen konnte dies noch mehr leisten: Wenn Wahrheit so allgemein formuliert wurde, wie dies bei Ockham aufgrund seines propositionalen Wahrheitsverständnisses der Fall war, so konnte damit auch der problematische Gegenstand der Theologie erfasst werden, also jener Art von Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht in direkter Erkenntnis und auch nicht in einem direkten einfachen Begriff zur Verfügung hatte. Wiederum gilt, dass die Formalisierung, die Ockham in seinem sprachanalytischen Zugriff auf die Wirklichkeitserkenntnis betrieb, der Theologie keineswegs Schaden brachte, sondern ihr nützte. Was sich auf der einen Seite als eine Ent-Ontologisierung ausnimmt, ist auf der anderen Seite eine Theorie zur Sicherung theologischer Erkenntnis im Rahmen der Wissenschaften. (Fs)

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