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Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Theologie als Wissenschaft; Duns Scotus (fides acquisita - infusa); Petrus Aureoli; Ockham


)

Kurzinhalt: Im Gegensatz zu Aureoli sah er als entscheidenden Unterschied des Glaubens zu den anderen Vernunfttugenden nicht den Objektbereich, sondern die Erkenntnisqualität, eben die Frage der Evidenz.

Textausschnitt: 49a Damit waren die Probleme, die sich für eine angemessene erkenntnistheoretische Einordnung des Glaubens stellten, freilich bei weitem nicht gelöst. Die konsequenten Aristoteliker hatten die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Themenkomplex der aristotelischen Lehre gelenkt, der gleichfalls Probleme für den erkenntnistheoretischen Status des Glaubens mit sich bringen musste: die Tugendlehre der Nikomachischen Ethik. Aristoteles erwähnt in deren sechstem Buch die fünf Vernunfttugenden, die als Habitus veridici gelten, als "Eigenschaften, welche Wahrheit gewährleisten": Prinzipienhabitus, Wissen, Weisheit, Klugheit und Kunstfertigkeit. Eben diese fünf Tugenden hielten die konsequenten Aristoteliker angeblich für ausreichend zur Erlangung des ewigen Heils.1
49b Diese aus Sicht der christlichen Theologie schnell in anderem Sinne zu beantwortende ethische Frage lässt sich nun freilich nicht von der Frage lösen, wie es philosophisch zu verstehen ist, dass der christliche Glaube nach biblischer Auffassung einen Bezug zur Wahrheit hat. Entsprechend rege wurde in jener Theologengeneration, die im Schatten der Pariser Lehrverurteilung wirkte, über das Verhältnis des Glaubens zu den Vernunfttugenden diskutiert:

Duns Scotus hat sich an mehreren Stellen um eine Lösung bemüht.2 Dabei ist seine Annäherung des Glaubens an die Vernunfttugenden von einer grundsätzlichen anthropologischen Zweistufigkeit gebrochen: Für ihn gehören die aristotelischen Vernunfttugenden alle gemeinsam zu den natürlich erworbenen Tugenden, und hierzu kann er auch den erworbenen Glauben, die fides acquisita rechnen, d.h. die kognitive Wahrnehmung der Glaubensinhalte, die er dann als Wissen vom Offenbarten unter die fünf aristotelischen Vernunfttugenden rechnet. Etwas grundsätzlich anderes ist der Glaube in seinem heilsrelevanten, bloß Kognitives überschreitenden Aspekt, die fides infusa: der eingegossene Glaube. Dieser unterscheidet sich als übernatürliche Tugend grundsätzlich von den natürlichen Vernunfttugenden und hat die Vernunft zwar als seinen psychischen Träger, aber nicht als Grundlage seines Seins. (Fs)

50a Ist so bei Duns Scotus der Glaube einerseits unter das aristotelische Schema subsumiert, andererseits qualitativ von den darin aufgeführten Eigenschaften unterschieden, ging Petrus Aureoli, der sich in vielem auf Duns bezog, einen einfacheren Weg3, indem er die grundlegende Differenz zwischen übernatürlichen und natürlichen Tugenden, die Duns systemkonstitutiv gemacht hatte, zwar nicht bestritt, aber denkerisch übersprang. Er ergänzte das aristotelische Schema, indem er schlicht erklärte, der Glaube gehöre zu jenen Vernunfttugenden, die Wahrheit gewährleisten, unterscheide sich von ihnen allein dadurch, dass er sich auf kontingente, nicht notwendige Objekte beziehe.4 Hier zeigte sich im Umgang mit Aristoteles schon eine größere Freiheit als bei Duns: Aureoli übernahm dessen Schema nicht starr, sondern gestaltete es von innen her um, indem er das Kriterium der Gewährleistung von Wahrheit anwandte, um das vorgegebene Schema nötigenfalls zu ergänzen. (Fs)

50b Hieran konnte Ockham anknüpfen, aber mit einem bezeichnenden Unterschied, der die beiden hier erwähnten Diskussionsstränge verknüpfte: Im Gegensatz zu Aureoli sah er als entscheidenden Unterschied des Glaubens zu den anderen Vernunfttugenden nicht den Objektbereich, sondern die Erkenntnisqualität, eben die Frage der Evidenz. Er leistete damit ein Doppeltes, indem er die seit der Lehrverurteilung von 1277 aufgebrochenen Diskussionen zum Verhältnis Glaube - Wissen zusammenführte: die Evidenzdiskussion einerseits, die Diskussion über das Verhältnis zu den Vernunfttugenden andererseits. Und er leistete diese Zusammenführung durch eine konsequent subjektorientierte, im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretische Fragestellung. (Fs)

50c Ockham ergänzte also ebenso wie Aureoli das Schema des Aristoteles: Zu den fünf Eigenschaften tritt der Glaube - und zwar der in der Taufe als theologische Tugend eingegossene - hinzu, dem es zwar an Evidenz mangelt5, der aber durch das Anhangen, das auch Heinrich von Gent hier als charakteristisches Merkmal aufgeführt hatte, Gewissheit erzeugt - nach Ockham sogar eine höhere Gewissheit als die Evidenz.6 Er erklärte in diesem Zusammenhang sogar, warum der Heide Aristoteles den Glauben in seinem Schema der Wahrheit gewährleistenden Eigenschaften noch nicht vorgesehen hatte: Für Aristoteles war der Glaube grundsätzlich in der Gefahr, sich zu irren - als gläubiger Christ aber wusste Ockham, dass der christliche Glaube nicht irren kann7 - und entsprechend zu jenen Vernunfttugenden gehören muss. Diese Ergänzung des aristotelischen Schemas um eine nicht-evidente Eigenschaft hatte nun freilich auch philosophische Folgen, vor allem die, dass hier das philosophische anthropologische Schema um eine Eigenschaft ergänzt wurde, die nicht wie die anderen aufgeführten Eigenschaften grundsätzlich mit jeder Vernunft verbunden ist, sondern die - eben durch die Eingießung in der Taufe - nur einigen Menschen zuteil wird. Mit aristotelischer Begrifflichkeit und in Ergänzung des aristotelischen Denkschemas sprengte Ockham letztlich dieses selbst: Er bot ein philosophisches Verstehensmuster dafür, dass es etwas gab - die Glaubenssätze -, das seinerseits nicht allgemein verbindlich, und das bedeutete nicht philosophisch erklärbar war. Philosophie belehrt sich hier über ihre eigenen Grenzen - freilich, wie man hinzufügen muss nicht aus sich heraus, sondern durch den externen Hinweis auf die Wahrheit des christlichen Glaubens. Eben darin lag auch der Unterschied zu allen Modellen der Harmonisierung von Vernunft und Glaube, für die auch für Ockham immer wieder der Name des Thomas von Aquin stand: Ockham behauptete gar nicht, dass der Philosoph selbst als konform mit der christlichen Lehre zu verstehen sei. Er markiert genau den Punkt, an dem er Kritik an dem unzureichenden Schema des Aristoteles übte: die Fixierung auf evidente Eigenschaften. Aber er lehnte das Schema nicht im Grundsatz ab, sondern führte es aufgrund seiner Kritik weiter. (Fs)

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