Datenbank/Lektüre


Autor: Leppin, Volker

Buch: Wilhelm von Ockham

Titel: Wilhelm von Ockham

Stichwort: Theologie als Wissenschaft - Aristotelismus; Evidenz: Thomas, Heinrich von Gent (adhaesio)

Kurzinhalt: Während noch bei Thomas von Aquin die Evidenz als Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis eine ganz geringe Rolle gespielt hatte, stand für die Theologen von nun an unausweichlich fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Merkmal Evidenz besaß ...

Textausschnitt: a) Der kritisierte Aristoteles: Theologie als Wissenschaft jenseits der Ansprüche der Philosophie

47a Für Ockham war wie für Duns Scotus die Auseinandersetzung mit dem konsequenten Aristotelismus von entscheidender Bedeutung. Die Fundierung der Theologie gegenüber den hier formulierten Ansprüchen hat sich dabei in eigenartiger Weise mit dem Kampf um die Bettelordenstheologie in Oxford verknüpft. (Fs)

47b Die Angst Tempiers und seiner Theologenkommission vor dem konsequenten Aristotelismus lässt sich gerade an solchen Thesen ermessen, die direkt auf die Theologie zu sprechen kommen. Dass die Reden der Theologen in Fabeln begründet seien, heißt es in These 152, dass das theologische Wissen keinen Erkenntnisgewinn bringe, in der folgenden.1 Solche direkten Angriffe - die gewiss von niemandem formuliert, sondern den Philosophen in den Mund gelegt worden sind2 - waren für die Folgezeit freilich weniger bedeutsam als die erkenntnistheoretischen Überlegungen der Aristoteliker. (Fs)

47c Dabei waren zwei Gesichtspunkte entscheidend, die bei Ockham in Verknüpfung begegnen: Zum einen die Frage der Evidenz - hier war klar, dass der Glaube nicht über Evidenz verfügte, und es musste geklärt werden, welchen Gewissheitsgrad er seinerseits besitzen konnte. Der andere Gesichtspunkt war die Frage, wie sich der Anspruch, durch den Glauben Zugang zur Wahrheit zu haben, mit der aristotelischen Lehre von den fünf Vernunfttugenden, die die Wahrheit gewährleisteten, vertragen sollte. (Fs) (notabene)
48a Das erste Problem ergab sich unmittelbar aus der 37. These der Lehrverurteilung: "Nichts darf man glauben, das nicht evident ist oder nicht aus Evidentem entwickelt werden kann."3 Diese These - auch sie ist in den Schriften der konsequenten Aristoteliker nicht nachzuweisen4 - formuliert eine Weltsicht, die dem Glauben jeden eigenen Zugang zur Wahrheit verweigerte: Nicht eine doppelte Wahrheit wird hier behauptet, sondern eine einheitliche Wahrheit, die ausschließlich durch die Vernunft herausgefunden werden kann. Der Glaube würde so gleichsam von der wissenschaftlichen Erkenntnis geschluckt werden. Was als Erkenntnisbereich übriggeblieben wäre, war nur der Bereich der Evidenz und der innerhalb des Evidenten gezogenen Schlüsse: Prinzipien und Schlüsse. Ganz ähnlich tritt diese Vorstellung übrigens auch in der These 1515 entgegen, die erklärt, Gewissheit sei nur über Schlüsse aus selbstevidenten Prinzipien erreichbar. (Fs)

Kommentar (20.06.09): Vgl zu oben "Nichts darf man glauben, das nicht evident ist ..." Ratzinger, Toleranz.odt:

174a [...]G. Elisabeth M. Anscombe hat die Auffassung ihres Lehrers Wittgenstein in dieser Frage in zwei Thesen zusammengefaßt: »1. Es gibt nichts wie das Wahrsein einer Religion. Dies wird etwa angedeutet, wenn man sagt: > Dieser religiöse Satz gleicht nicht einem Satz der Naturwissenschaft< 2. Religiöser Glaube läßt sich eher der Verliebtheit eines Menschen als seiner Überzeugung vergleichen, etwas sei wahr oder falsch.«1 Dieser Logik entsprechend hat Wittgenstein in einem seiner vielen Notizbücher notiert, daß es für die christliche Religion nichts ausmachen würde, ob Christus irgendeine der von ihm berichteten Dinge tatsächlich so vollbracht oder sogar überhaupt existiert habe. Dem entspricht die These Bultmanns, ...

48b Eben dieser angebliche Anspruch von philosophischer Seite stellte die Theologen vor eine große Herausforderung: Man konnte schwerlich bestreiten, dass Evidenz ein entscheidendes Merkmal des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses war. Gerade angesichts dessen aber musste man begründen, dass es aus erkenntnistheoretischen Gründen gleichwohl notwendig war, etwas zu glauben, was über den Bereich der Evidenz hinausging. (Fs)

Entsprechend rangen die folgenden Generationen von Theologen um den Evidenzbegriff und das Verhältnis des Glaubens zur Evidenz.6 Gerade hier zeigt sich die merkwürdige indirekte Wirkung der Lehrverurteilung. Während noch bei Thomas von Aquin die Evidenz als Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis eine ganz geringe Rolle gespielt hatte, stand für die Theologen von nun an unausweichlich fest, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Merkmal Evidenz besaß - und der Glaube eben durch den Mangel an Evidenz gekennzeichnet war. (Fs)

48c Heinrich von Gent, der zu der Theologenkommission Tempiers gehört hatte, wies den Weg in diese Richtung. Er bestritt der Theologie zwar die Evidenz als schärfste Form wissenschaftlicher Gewissheit, aber nicht Gewissheit überhaupt: Aus der augustinischen Tradition nimmt er den Begriff der adhaesio, des Anhangens, auf und spricht nun der Theologie eine "Gewissheit des Anhangens, die auf klare und evidente Kenntnis nicht angewiesen ist", zu.7 Mit dieser Begründung gelang es Heinrich, den Sonderbezirk des Glaubens gegenüber der verurteilten These 37 erkenntnistheoretisch zu verankern. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt