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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Explizite Metaphysik: heuristischen Struktur des proportionierten Seins

Kurzinhalt: Nun wollen wir die These aufstellen, daß die explizite Metaphysik die Konzeption, Bejahung und Umsetzung der vollständigen, heuristischen Struktur des proportionierten Seins ist.

Textausschnitt: 452c Nun wollen wir die These aufstellen, daß die explizite Metaphysik die Konzeption, Bejahung und Umsetzung der vollständigen, heuristischen Struktur des proportionierten Seins ist. Bedeutung und Implikationen dieser Aussage sollen in der Folge untersucht werden. (Fs)

452d Erstens, was ist mit der vollständigen, heuristischen Struktur gemeint? Wir wollen die Antwort aus Einzelteilen zusammensetzen. Begriffliche Inhalte können ursprünglich oder abgeleitet sein. Die abgeleiteten werden mit Bezug auf ursprüngliche definiert; die ursprünglichen werden festgelegt, insofern Termini und Relationen aus einem einzelnen Verstehen hervorgehen, wobei die Relationen durch die Termini und die Termini durch die Relationen bestimmt werden. Nun gibt es aber vor dem Verstehen, das in Antworten mündet, die Fragen, die die Antworten vorwegnehmen; und, wie wir gesehen haben, kann eine solche Vorwegnahme systematisch zur Bestimmung von Antworten eingesetzt werden, die noch unbekannt sind. Denn während der Inhalt eines zukünftigen Erkenntnisaktes unbekannt ist, können die allgemeinen Charakteristika des Aktes nicht nur bekannt sein, sondern auch eine Prämisse liefern, die zum Akt selbst hinführt. Eine heuristische Notion ist dann also die Notion eines unbekannten Inhaltes und sie wird bestimmt durch die Vorwegnahme des Typs des Aktes, durch den das Unbekannte erkannt werden kann. Eine heuristische Struktur ist ein geordneter Inbegriff heuristischer Notionen. Eine vollständige heuristische Struktur schließlich ist der geordnete Inbegriff aller heuristischen Notionen. (Fs) (notabene)

453a Um dies zu erläutern, weisen wir auf die Definition des proportionierten Seins hin. Es ist, was immer durch menschliche Erfahrung, intelligentes Erfassen und vernünftiges Bejahen erfaßt werden kann. Die Definition bestimmt keinerlei Inhalt von Erfahrung, Einsicht und Bejahung. Aber sie gibt einen geordneten Satz von Typen von Akten an, und sie impliziert, daß jegliches proportionierte Seiende durch einen derart geordneten Satz erkannt werden muß. Die Definition ist also ein Beispiel heuristischer Struktur; aber sie ist nicht ein Beispiel einer vollständigen heuristischen Struktur; denn sie schöpft nicht die ganzen Möglichkeiten des menschlichen Verstandes aus in seiner Vorwegnahme dessen, was zu erkennen ist. (Fs)

453b Zweitens, die implizite Metaphysik würde explizit werden, wenn die vollständige heuristische Struktur des proportionierten Seins begriffen, bejaht und umgesetzt würde. Denn die latente Metaphysik ist die dynamische Einheit des empirischen, intellektuellen und rationalen Bewußtseins, insofern es den anderen Abteilungen der Erkenntnis zugrundeliegt, sie durchdringt, transformiert und vereinheitlicht. Nun aber würde eine vollständige heuristische Struktur des proportionierten Seins diese Aufgaben in einer ausdrücklichen Art und Weise erfüllen. Als heuristische würde sie aller anderen Erkenntnis zugrundeliegen. Als die Fragen, die von anderen Wissenssparten beantwortet werden, würde sie die anderen Abteilungen durchdringen. Als dialektische würde sie diese Antworten transformieren. Als vollständige enthielte sie in sich die Ordnung, die die anderen Abteilungen der Erkenntnis zu einem einzigen intelligiblen Ganzen verbindet. (Fs)

453c Drittens, eine solche explizite Metaphysik wäre progressiv. Denn die heuristischen Notionen und Strukturen werden nicht dadurch entdeckt, daß man sich platonisch an einen früheren Zustand kontemplativer Glückseligkeit erinnert. Sie [393] resultieren aus der Findigkeit der handelnden menschlichen Intelligenz. Sie können nur erkannt werden durch eine Analyse der Handlungen, die vertraut geworden sind und einer Untersuchung unterzogen werden. Wie die anderen Erkenntnisabteilungen Fortschritte machen, indem sie neue Methoden entdecken, so schreitet die Metaphysik fort, indem sie diese Entdeckungen ihrer Darlegung der vollständigen heuristischen Struktur des proportionierten Seins hinzufügt. (Fs)

453d Viertens, eine solche ausdrückliche Metaphysik wäre nuanciert. Sie wäre ein Ganzes aus vielen Teilen, und die verschiedenen Teile würden verschiedene Grade von Klarheit und Präzision, Evidenz und Unvermeidbarkeit aufweisen. Daraus folgt, daß nicht alle Teile mit demselben Grade der Überzeugung bejaht werden können, daß manche als gewiß, andere als höchst wahrscheinlich betrachtet, andere faute de mieux empfohlen, wieder andere als zweifelhaft und weiterer Bestätigung bedürftig angesehen werden können. (Fs)

454a Fünftens, eine solche Metaphysik wäre tatsachenbezogen. Das proportionierte Sein ist nicht das lediglich Mögliche und braucht auch nicht das absolut Notwendige zu sein. Es ist das, was tatsächlich ist, und die Wissenschaft, die es als Ganzes betrachtet, kann sich damit begnügen, das festzustellen, was in der Tat wahr ist. Weiter gilt, daß die empirischen Wissenschaften und die unzähligen Fälle des Common Sense nichts anderes beabsichtigen, als das zu erkennen, was in der Tat so ist; die Metaphysik ist nun aber ihre Vereinheitlichung; als Prinzip geht sie ihnen voraus; aber als realisierte folgt sie ihnen, geht aus ihnen hervor, hängt von ihnen ab; und so wird sie - wie diese auch - tatsachenbezogen sein. (Fs)

454b Sechstens, die Abhängigkeit einer solchen Metaphysik von den Wissenschaften und dem Common Sense würde nicht die Abhängigkeit der Konklusion von den Prämissen oder einer Wirkung von ihrer Ursache sein, sondern die Abhängigkeit eines erzeugenden, transformierenden und vereinheitlichenden Prinzips von den Materialien, die es erzeugt, transformiert und vereinheitlicht. Die Metaphysik stellt sich weder die Aufgabe, Wissenschaft zu entdecken, noch sie zu lehren; und sie unternimmt es auch nicht, den Common Sense zu entwickeln oder beizubringen; sie maßt sich auch nicht an, das Universum unabhängig von der Wissenschaft und dem Common Sense zu erkennen; was sie tun kann und in der Tat auch tut, ist, die Resultate solcher einzelnen Bemühungen zu übernehmen, sie zu einer kohärenten Form zu bringen, indem sie ihre Gegenpositionen umkehrt, und sie zu einer Einheit zu verbinden, insofern sie in ihnen die konkreten Verlängerungen der vollständigen heuristischen Struktur erkennt, welche sie selbst ist. (Fs)

454c Siebtens, eine solche Metaphysik würde nach Überwindung ihrer anfänglichen Schwierigkeiten stabil sein. Sie wäre offen für akzidentelle Modifikationen und Verbesserungen, aber sie wäre nicht den revolutionären Veränderungen unterworfen, welche die empirischen Wissenschaften kennen. Das liegt daran, daß eine [394] Wissenschaft für revolutionären Wandel soweit offen liegt, als es möglich ist, einen höheren Gesichtspunkt zu erreichen und infolgedessen die Inhalte ihrer Basistermini und -relationen zu verändern. Es ist aber nur innerhalb des Rahmens der untersuchenden und kritischen Intelligenz möglich, einen höheren Gesichtspunkt zu erreichen; es gibt im menschlichen Erkennen keinen Gesichtspunkt, der den Rahmen selbst überstiege und die intelligente Untersuchung und die kritische Reflexion durch irgendein Surrogat ersetzte. Nun aber ist der Gesichtspunkt der Metaphysik genau durch die untersuchende Intelligenz und die kritische Reflexion konstituiert. Außerdem kann ein höherer Gesichtspunkt die Basistermini und -relationen in ihrem Gehalt nur dann verändern, wenn dieser Gehalt ein genau bestimmtes Objekt des Denkens oder Bejahens ist. Die Aristotelische, Galileische, Newtonsche und Einsteinsche Erklärung des freien Falls von schweren Körpern sind alle für Revisionen offen, insofern sie alle bestimmte Inhalte besagen. Eine rein heuristische Erklärung hingegen ist der Revision nicht zugänglich. Man kann die heuristische Notion, daß die Natur des freien Falls das ist, was erkannt werden kann, wenn der freie Fall korrekt verstanden wird, nicht revidieren; denn diese heuristische Notion geht sowohl jeder bestimmten Erklärung voraus und folgt auch jeder und ist das Prinzip der Revision jeder Erklärung. Weil Metaphysik also die vollständige heuristische Struktur des proportionierten Seins ist, weil sie eine Struktur ist, die mit der forschenden Intelligenz und der kritischen Reflexion koinzidiert, ist Metaphysik nicht offen für einen revolutionären Wandel. (Fs) (notabene)

455a Achtens, die Metaphysik betrachtet das Sein primär unter dem Aspekt des Erklärtseins, schließt aber sekundär auch das Sein als Objekt der Beschreibung ein. Primär betrachtet sie das Sein deshalb unter dem Aspekt des Erklärtseins, weil sie eine heuristische Struktur ist, und eine heuristische Struktur richtet sich auf das, was erkannt werden kann, wenn man versteht. Sekundär schließt sie auch das Sein unter dem Aspekt des Beschriebenseins ein. Denn die Erklärung befaßt sich mit den Relationen der Dinge untereinander; die Beschreibung mit den Relationen der Dinge zu uns; und weil wir selbst Dinge sind, müssen die deskriptiven Relationen mit einigen erklärenden Relationen identisch sein. (Fs) (notabene)

455b Es ist darauf hinzuweisen, das der Einbezug deskriptiver Relationen in die Metaphysik implizit, allgemein, vermittelt und intellektuell ist. Er ist implizit, weil die Metaphysik explizit betrachtet die Dinge als erklärt. Er ist allgemein, weil die Metaphysik nur eben eine heuristische Struktur ist und deshalb nur in allgemeinster Weise zu bestimmen vermag, welche erklärenden Relationen identisch sind mit beschreibenden Relationen. Er ist vermittelt, insofern die Metaphysik Wissenschaften und Common Sense zusammenbringt und durch sie exakt zu bestimmen vermag, welche erklärenden Relationen auch deskriptiv sind. Schließlich ist der Einbezug intellektuell; denn er findet statt auf der Ebene der Intelligenz und des Urteils und nicht auf der Ebene der Sinneserfahrung. Genauso wie uns nicht wärmer oder kälter wird, wenn wir thermodynamische Gleichungen denken, so wird die [395] Metaphysik der Wärme die Sinnesempfindung von Wärme nicht produzieren können. Und ebenso wird keine Metaphysik, selbst wenn sie die mathematische Wissenschaft als oberflächlich betrachtet und versucht, die eigene spezifische Realität der Qualität aufrechtzuerhalten, einem Blinden die Sinneserfahrung von Farbe als gesehene oder einem Tauben die Sinneserfahrung eines Schalls als gehörter vermitteln können. (Fs)

456a Auf der Basis dieses letzten Punktes wird übrigens klar, daß metaphysische Versuche, die eigene spezifische Realität sinnlich wahrnehmbarer Qualität aufrechtzuerhalten, nichts aufrechtzuerhalten haben. Denn wenn die Metaphysik das sinnlich Wahrgenommene nicht als sinnlich Wahrgenommenes reproduzieren kann, dann kann sie die sinnlich wahrnehmbare Qualität nur dadurch aufrechterhalten, daß sie dieser eine entsprechende Intelligibilität zuweist. Nun aber bietet die mathematische Wissenschaft schon eine entsprechende Intelligibilität an, und wenn die Materialien der mathematischen Intelligibilität auch quantitativ, oder genauer ordnungsfähig sind, ist die mathematische Intelligibilität selbst nicht quantitativ. Der Unterschied zwischen einer trigonometrischen und einer Exponentialfunktion ist nicht ein Größenunterschied; er ist ein Unterschied in bezug auf das intelligible Gesetz, das für die Relationen zwischen kontinuierlich ordnungsfähigen Elementen gilt. (Fs)

456b Ein weitaus interessanteres Korollarium betrifft die zehn Kategorien, die gemeinhin Aristoteles zugeschrieben werden. Diese sind deskriptiv. Ein Zoologe wird Gattung, Art und Einzelbeispiel (Substanz) eines Tieres bestimmen, dessen Größe und Gewicht (Quantität), seine Farbe, Form, Eigenschaften, Neigungen (Qualität), seine Ähnlichkeiten und seine Unterschiede zu anderen Tieren (Relation), seine Leistungen und seine Empfänglichkeiten (actio und passio), sein Habitat und seine Veränderungen im Jahreskreislauf (Ort und Zeit), seine Fortbewegungsart und seine Art des Ruhens (Haltung), seine Ausstattung mit Dingen wie Klauen, Krallen, Hufe, Pelz, Federn und Hörnern (Habitus). Die Metaphysik aber, so wie wir sie hier auffassen, ist eine heuristische Struktur, die sich auf das Sein als erklärtes bezieht, und nur implizit, generell, vermittelt und intellektuell das Sein als beschriebenes einbezieht. Es folgt daraus, daß Aristoteles' zehn Kategorien, wenn sie sich auch auf das proportionierte Sein beziehen, trotzdem nicht zur konstitutiven Struktur der Metaphysik gehören1. (Fs)

456c Es ist damit wahrscheinlich genug gesagt worden, um unsere Notion von Metaphysik zu klären. Das unparteiische und uneigennützige Erkenntnisstreben und seine Ausfaltung in der Untersuchung und Reflexion machen nicht allein eine Notion des Seins aus, sondern erlegen den menschlichen Erkenntnisakten auch eine normative Struktur auf. Eine solche Struktur liefert die Relationen, mithilfe derer die unbekannten Inhalte der Akte heuristisch definiert werden können. Diese heuristische Struktur ist immanent und operativ in allem menschlichen Erkennen, doch (396) ist sie anfanglich latent, und die Polymorphie des menschlichen Bewußtseins macht sie problematisch. Trotzdem kann sie erfaßt, bejaht und umgesetzt werden, und aus dieser Durchführung ergeben sich eine Umwandlung und eine Integration der Wissenschaften und der Myriade von Fällen des Common Sense. Erkennen ist aber das Sein erkennen. Aus diesem Grund ist die vollständige heuristische Struktur des v-v' proportionierten Seins, als durch die Wissenschaften und den Common Sense bestimmte, eine Erkenntnis der organisierenden Struktur des proportionierten Seins. Wie schon gesagt wurde, ist eine solche Metaphysik progressiv, nuanciert, tatsachenbezogen, formell von der Erkenntnistheorie und materiell von den Naturwissenschaften und dem Common Sense abhängig, stabil, und in ihrer Aussicht erklärend. (Fs)

457a Es verbleibt die Klärung, die aus einer Methodendiskussion resultiert, und dieser wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit zu. (Fs)

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